Bevor Herr Wolpert seine Rede beginnt, möchte ich aber Seniorinnen und Senioren der Volkssolidarität Atzendorf auf der Südtribüne begrüßen. Herzlich willkommen!
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Das Jahr 2009 bietet zahlreiche Anlässe zum Feiern und zum Gedenken: Halle feiert 250 Jahre Händel, Reppichau 800 Jahre Eike von Repgow, Wittenberg und Eisleben starten in die LutherDekade. Es gibt Grund zum Feiern und zum Gedenken, vor allem eben auch politische Jubiläen.
Vor 160 Jahren gab es in der Paulskirche in Frankfurt die erste Verfassung. Vor 90 Jahren wurde in Weimar die erste Demokratie auf deutschem Boden errichtet. Deutlich erfolgreicher war der zweite Versuch im Jahr 1949 in Bonn, als das Grundgesetz beschlossen wurde. Im Jahr 1989, vor inzwischen 20 Jahren, war es Leipzig mit seinen Montagsdemonstrationen, das im Brennpunkt stand und in deren Folge es zur friedlichen Revolution und zum Mauerfall kam.
Warum sind das Grundgesetz und der Mauerfall wichtig? Warum ist das Grundgesetz so wichtig, dass wir dessen gedenken? - Zunächst ist es augenfällig: Das Grundgesetz ist eine Erfolgsstory. Im westlichen Teil des Nachkriegsdeutschlands gab es ein festes Fundament
mit Frieden, Freiheit und Recht und in der Folge dessen 60 Jahre lang einen Wohlstand, der sich weltweit sehen lassen kann.
Dabei ist das Grundgesetz gekennzeichnet von wichtigen Dingen wie der Gewaltenteilung und freien Wahlen, aber vor allen Dingen unabhängigen Gerichten. Dieses rechtsstaatliche Prinzip ist dringend notwendig, wenn man dem Duktus folgen will, dass der Bürger das staatliche Handeln kontrollieren kann. Das ist das Geheimnis der Demokratie, das ist das Geheimnis des Erfolges.
Aber unser Grundgesetz hat auch noch eine Botschaft. Wenn man sieht, wie das Grundgesetz aufgebaut ist, dann kann man sie erkennen. Zunächst stehen darin die Menschenrechte, die Unverbrüchlichkeit der Menschenwürde, aber dann folgen die Freiheitsrechte: Berufsfreiheit, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit. All diese Freiheiten werden zuerst genannt. Zuerst kommt die Freiheit in jedem einzelnen Artikel. Erst im zweiten Satz wird darüber gesprochen, wo die notwendige Grenze dieser Freiheit ist. - Das ist die erste Botschaft: Erst kommt die Freiheit, dann die Sicherheit.
Die dritte Botschaft ist: Der Staat ist Wächter. Er ist nicht derjenige, der die Rechte gewährt, sondern er wacht darüber, dass den Bürgern die Rechte zustehen.
Dieser Gedanke von Freiheit und Verantwortung ist letztlich auch Grund dafür, dass wir einen Wohlstand erreicht haben. Freiheit und Verantwortung sind die Grundlage von Neoliberalismus und damit auch die Grundlage der sozialen Marktwirtschaft. Dazu bekennt sich die FDP ausdrücklich.
Meine Damen und Herren! Wie sah es nun im anderen Teil Deutschlands in der Nachkriegszeit aus? - Frieden gab es auch in der DDR. Darüber hinaus gab es alle Werte, die das Leben menschlich machen: Freundschaft, Nächstenliebe, Aufrichtigkeit, Verantwortungsgefühl. Es gab auch die eine oder andere Errungenschaft, die bei heutiger Betrachtung mehr Vor- als Nachteile hatte.
Das führt sicherlich auch zu Recht zu dem häufig geäußerten Satz: Es war nicht alles schlecht in der DDR. - Dieser Satz ist richtig, insbesondere in Anbetracht der Menschen, die in der DDR hart gearbeitet und versucht haben, das Beste aus ihrem Leben zu machen. Das ist es aber nicht, was die DDR als Staat ausmachte.
In der DDR gab es keine Meinungsfreiheit. Es gab keine Versammlungsfreiheit. Es gab keine Pressefreiheit. Es gab keine Berufsfreiheit und keine Reisefreiheit. Es gab keine freien Wahlen - schon gar nicht geheim und ungefälscht. Es gab keinen Rechtsstaat. Es gab keine Verwaltungsgerichte, die staatliches Handeln prüften. Es gab kein Verfassungsgericht. Aber es gab willkürliche Entscheidungen je nach Staats- oder Parteiräson.
Meine Damen und Herren! Willkür erzeugt kein Recht, sondern Unrecht. Dieses Unrecht war staatlich gewollt und organisiert. Die DDR war ein Unrechtsstaat.
An dieser Stelle möchte ich nicht allein stehen und greife auf ein Zitat von Herrn Gauck zurück. Er sagte, die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen, weil es in der DDR keine Unabhängigkeit der Justiz und keine Gewaltenteilung gegeben habe. Es habe keine Herrschaft des Rechts gegeben, weil eine Instanz wie die herrschende SED in den Bereich des Rechts habe eingreifen können - zugegeben: nicht alle, die der SED angehörten, wohl aber die Führungsgremien.
Nun habe ich gelesen, dass der Abgeordnete Kollege Gallert Probleme mit der Definition des Unrechtsstaates hat. Ich halte die Definitionsfrage nicht für das Vordringlichste, aber ich kann eine alternative Formulierung anbringen, welche aus dem Einigungsvertrag zwischen der DDR und der BRD stammt. Darin heißt es „SED-Unrechtsregime“. Es ist allerdings schwer vorstellbar, dass Ihnen diese Formulierung besser gefällt, erklärte doch jüngst der Bundesschatzmeister Karl Holluba eidesstattlich vor Gericht:
„Die LINKE ist rechtsidentisch mit der Linkspartei.PDS, die es seit dem Jahr 2005 gab, und der PDS, die es vorher gab, und der SED, die es vorher gab.“
Eine längere Verantwortlichkeitskette muss man nicht aufzeigen. Es ist müßig darüber zu streiten, ob die Definition Unrechtsstaat oder SED-Unrechtsregime die richtige ist. Fakt ist: Es bestand kein Rechtsstaat, sondern staatlich gewolltes Unrecht.
Meine Damen und Herren! Das heißt nicht, dass die Bürger der DDR Unrecht getan haben. Es gab keine 17 Millionen Täter und es gab auch keine 17 Millionen Opfer. Das heißt auch nicht, dass die Lebensleistung und Lebenserfahrungen nichts wert wären oder dass das Leben in der DDR mit einem moralischen Makel versehen wäre.
Ganz im Gegenteil: Ohne die Bürger der DDR und ohne deren Haltung und ohne deren Mut hätte es keine Wiedervereinigung gegeben. Hätten die Menschen in der DDR nach dem Grundsatz gehandelt „Sicherheit geht vor!“, dann wäre niemand in Leipzig oder anderswo zu den Monatagsdemonstrationen gekommen. Nirgendwo, meine Damen und Herren, wurde der Geist des Grundgesetzes, das Bekenntnis der Menschen zur Freiheit so deutlich wie im Jahr 1989 in Ostdeutschland.
Vor diesem Mut und diesem Bekenntnis empfinde ich persönlich Ehrfurcht. Ich möchte Ihnen noch sagen. Freiheit existiert nicht - das ist die Botschaft aus dem Jahr 1989 -, wenn sie nicht gelebt wird oder nicht gelebt werden kann. Freiheit ist darüber hinaus nicht nur ein Recht, sondern die Pflicht, verantwortlich mit der Freiheit umzugehen, aber auch die Bürgerpflicht, sie zu leben, die Pflicht zur demokratischen Teilhabe. - Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Wolpert, für Ihren Redebeitrag. - Ich darf jetzt Herrn Dr. Fikentscher von der SPD bitten, seinen Beitrag zu leisten. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben ein großartiges Werk geschaffen. Seine Verkündung am 23. Mai 1949 war die Geburtsstunde eines Deutschlands, das die Lehren aus den Schwächen der Weimarer Republik und der Katastrophe des Nationalsozialismus nachdrücklich gezogen hatte. Es fühlte sich von nun an den Menschenrechten uneingeschränkt verpflichtet und es besaß das stabile Fundament zum Aufbau eines demokratischen und sozialen Bundesstaates, einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Demokratie.
Doch bei aller Stabilität ist das Grundgesetz nicht statisch. Bereits in den ersten 40 Jahren wurde es 35-mal geändert. Auch nicht alle Artikel mit Ewigkeitsgarantie beschreiben einen Zustand, sondern sind ein ständiger Auftrag; denn in Wirklichkeit wird die Würde des Menschen - Artikel 1 - täglich vielfach angetastet. Auch die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz - Artikel 3 - ist bis heute nicht zufriedenstellend erreicht. Daraus ergibt sich die tägliche Aufgabe für jeden von uns und nicht etwa nur für den jeweils anderen darauf hinzuwirken, dass dieser Grundgesetzauftrag schrittweise erfüllt wird.
Doch, meine Damen und Herren, wir würden heute hier in Magdeburg in Sachsen-Anhalt nicht über das Grundgesetz debattieren, hätte es nicht vor 20 Jahren die friedliche Revolution gegeben. Deswegen lassen Sie mich zunächst darüber sprechen.
Als im Herbst 1989 von Woche zu Woche flächendeckend in der ganzen DDR mehr und mehr Menschen auf die Straße gingen, hatten sie keineswegs das Ziel oder auch nur die Hoffnung, in absehbarer Zeit unter dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zu leben. Wer das wollte, samt den damit verbundenen Lebensumständen, der stellte einen Ausreiseantrag oder versuchte zu fliehen. Dennoch kam es bereits ein Jahr später genau dazu, und zwar für alle, auch für jene, die es gar nicht wollten.
Wie ist es dazu gekommen? - Um das zu verstehen, muss der Blick viel weiter zurückgehen, als wir es gemeinhin tun; denn alles hat seine Geschichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg, den wir Deutschen gemeinsam begonnen und zu verantworten haben, war Deutschland ein besetztes Land. Die Großmächte teilten es untereinander in Besatzungszonen auf. Die westlichen Demokratien beförderten in ihren Zonen die Entwicklung der Länder und den Aufbau einer demokratischen Ordnung. Was daraus wurde, ist bekannt.
In der Bundesrepublik Deutschland entstand, verbunden mit einem beeindruckenden wirtschaftlichen Aufschwung, dem so genannten Wirtschaftswunder, eine freiheitliche stabile Demokratie, auf die die meisten Bewohner des Ostens bewundernd und sehnsüchtig blickten. Drei Millionen Menschen - keineswegs die Ungebildetsten und Inaktivsten - zogen ihre persönliche Konsequenz und begaben sich unter erheblichen Schwierigkeiten und Opfern auf den Weg in den so genannten goldenen Westen, so lange dies bis zum 13. August 1961 ohne Mauer und Stacheldraht noch möglich war.
Was war im Osten geschehen? - Die kommunistische Sowjetunion versuchte mit den ihr eigenen Konsequenzen und Grausamkeiten, ihren Teil des besetzten Landes fest und auf lange Sicht in den eigenen Herrschaftsbereich einzugliedern.
Es entstand ein Staatsgebilde, ähnlich einer Sowjetrepublik, das ab dem Jahr 1949 DDR genannt wurde. Dieser Staat beruhte letztlich auf den sowjetischen Panzern. Diese wurden jedoch nur im äußersten Notfall, wenn es um die Existenz ging, wie am 17. Juni 1953, eingesetzt. Gleiches geschah auch in den anderen Ländern des sowjetischen Machtbereiches und blieb als ständige Drohung im kollektiven Gedächtnis der Völker.
Doch wahre dauerhafte Machtausübung funktioniert anders. Sie verzichtet auf ständige offene Gewaltausübung und errichtet stattdessen unter Zuhilfenahme einer geeigneten Ideologie - in unserem Fall des Sozialismus oder wahlweise auch des Kommunismus - ein System, das den meisten Menschen vorgaukelt, sie könnten im Allgemeinen selbstbestimmt leben und glücklich werden. Nur auf die Freiheit und die wahre Mitbestimmung gilt es zu verzichten.
Als Gegenleistung gewährte das System einen materiellen Lebensstandard, der eine gewisse Zufriedenheit erzeugte. Unter diesen Voraussetzungen konnten die meisten Menschen weitgehend ungehindert leben und arbeiten. Sie gewöhnten sich an eine Reihe von Einschränkungen und wurden überwiegend von offensichtlichen Repressalien verschont.
Über Jahrzehnte funktionierte das alles einigermaßen. Es schien immer so weiter zu gehen. Heutige Meinungsumfragen bestätigen das. Die dümmliche Bemerkung „Es war nicht alles schlecht“ passt genau zu dieser Einschätzung.
Dennoch gingen die Menschen eines Tages auf die Straße. Sie waren unzufrieden. Aber warum erst im Jahr 1989? - Wahlfälschungen gab es von Beginn an. Auch die Schlussakte von Helsinki war seit Jahren bekannt, ebenso die verheerenden Umweltzerstörungen. Auch die Freiheit wurde nicht weiter eingeschränkt und man hatte den Schürer-Bericht über den drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruch nicht gelesen.
Damit kommen wir nun zu dem entscheidenden Punkt. Das System beruhte von Beginn an im Wesentlichen auf Angst, der Angst davor, dass jedem Einzelnen etwas verwehrt, vorenthalten oder angetan werden konnte, und zwar willkürlich ohne Klagemöglichkeit. Diese Angst ging unter dem Eindruck des von der Sowjetunion verlorenen Kalten Krieges und der Politik Michael Gorbatschows schrittweise verloren.
Seit Mai 1989 formierte sich mehr und mehr Widerstand. Man merkte irgendwie, dass das System seine Kraft verloren hatte und letztlich die sowjetischen Panzer nicht rollen würden. Den öffentlichen Rufen „Wir wollen raus!“ folgte nicht mehr die sofortige Inhaftierung. Dem Ruf „Wir bleiben hier!“ - eine offensichtliche Drohung -
konnte ohnehin schwer begegnet werden, ließ er sich doch als Treuebekenntnis umdeuten. Der Ruf „Wir sind das Volk!“ ließ schließlich den gesamten Machtapparat zusammenbrechen.
Es war eine Revolution, ein echter Umbruch und nicht die von Egon Krenz gewünschte Wende, obwohl dieses Wort vermutlich nicht mehr wegzubekommen ist.
Die Revolution stürzte auf friedlichem Wege ein bis an die Zähne bewaffnetes System. Wie war das möglich? - Eine Revolution ist nichts anderes, als eine morsche Tür einzutreten. Das System war wirklich morsch. Doch bis zum Beweis dafür vermochten viele Menschen dies nicht zu glauben.