Meine Damen und Herren! Die Gesundheitsreform ist über uns hereingebrochen und ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Ärgernis für alle Beteiligten. Für die Ärztinnen und Ärzte ist es ärgerlich, weil der Verwaltungsaufwand sehr viel größer ist als bisher, und natürlich auch in gesundheitspolitischer Hinsicht, weil die Gefahr groß ist, dass erforderliche Arztbesuche ausbleiben und die Menschen erst dann zum Arzt gehen, wenn das „Kind bereits in den Brunnen gefallen ist“.
Für Betroffene ist es ärgerlich, weil sie einmal im Jahresquartal zum Hausarzt gehen müssen, um sich dort einen zehn Zentimeter dicken Stapel von Überweisungen zu holen, und
weil 10 € für den einen oder die andere eine ganze Stange Geld ist. Aber damit ist es nicht getan, weil es die Medikamente in der Regel auch nur für Geld gibt.
Ich möchte hier keine gesundheitspolitische Debatte führen, möchte aber sagen: So etwas kommt dabei heraus, wenn der Mut zu einer wirklichen Strukturreform fehlt oder wenn der Partner im Bundesrat CDU heißt.
Die Praxisgebühr ist der Inbegriff des Ärgernisses schlechthin und findet sich nahezu auf der politischen
Dartscheibe aller wieder. Abgesehen davon, dass die Krankenkassenbeiträge gesenkt werden sollten, abgesehen davon, dass die Finanzlöcher der gesetzlichen Krankenversicherung dadurch nahezu einzig und allein von den Patientinnen und Patienten saniert werden sollen, hat solch eine Praxisgebühr in irgendeiner Hinsicht auch gesundheitspolitische Wirkungen.
Die Arztbesuche sind in Deutschland drastisch zurückgegangen. Richtig ist, dass die Zahl der Arztbesuche in Deutschland bisher ausgesprochen hoch war. Richtig ist auch, dass die Bevölkerung in Deutschland deshalb keineswegs gesünder ist als in anderen vergleichbaren Ländern. Die Häufigkeit der Arztbesuche ist also nicht unbedingt ein Indiz erstens für eine vernünftige Gesundheitspolitik und zweitens für einen guten Gesundheitszustand der hier lebenden Menschen - ganz und gar nicht.
Es stellen sich also Fragen nach der Qualität des Gesundheitssystems. Auch das wäre eine gesundheitspolitische Debatte wert, der ich mich jedoch an dieser Stelle und heute entziehen möchte.
Meine Damen und Herren! Es gab in Deutschland, und zwar in den 70er-Jahren, schon einmal eine öffentliche Debatte unter den Sozialwissenschaftlern darüber, dass sozial benachteiligte Menschen selten - zu selten - zum Arzt gehen und dann spät - manchmal zu spät oder sogar stattdessen - in den teuren stationären Einrichtungen landen. Dies schien überwunden.
Was ist nun hinsichtlich dieser Frage mit Blick auf die Auswirkungen der Gesundheitsreform zu befürchten? Der Zusammenhang zwischen Einkommensarmut und Gesundheitszustand hat keinen Neuigkeitswert mehr und ist hinlänglich bekannt. Ich möchte nur einen einzigen Problemkreis anreißen, der in einer Studie des Robert-Koch-Instituts umfangreicher, als ich es hier tue, aufgegriffen worden ist. Es geht um die Situation von allein erziehenden Müttern und Vätern.
Der Gesundheitszustand hat in irgendeiner Weise auch immer mit Bewältigungsstrategien im Leben zu tun, mit sozialen, mit personalen und mit materiellen Lebensumständen.
Die finanzielle Lage insbesondere von allein erziehenden Müttern - die Sozialhilfequote von allein erziehenden Müttern liegt bei 7 % - ist oft schlecht. Das heißt, es gibt kaum freie Ressourcen für gesundheitsfördernde Angebote, Sauna, Sport, Kultur, gesunde Ernährung usw. usf. Mit steigender Kinderzahl steigt auch der Stressfaktor und Stress führt nachgewiesenermaßen zu langfristigen Gesundheitsschädigungen.
Kinder aus unterprivilegierten Familien, meine Damen und Herren, zeigen intellektuelle und körperliche Entwicklungsverzögerungen, sie haben ein deutlich ungünstigeres Gesundheitsverhalten - Rauchen, Fastfood-Ernährung usw. - und sie haben schlechtere Lebens- und Entwicklungsbedingungen. Das führt zu erhöhter psychosozialer und physischer Morbidität.
Präventiv gesehen, also vorbeugend gesehen, sind Menschen, die in unterprivilegierten Verhältnissen leben, also deutlich gesundheitsgefährdeter und verfügen zugleich über deutlich weniger Ressourcen, um genau diesen Zustand zu kompensieren. Kurativ gesehen, sind sie damit sehr viel mehr auf den Arzt, auf seine Beratung angewiesen, und gerade Frauen und Männer mit geringerer sozialer Kompetenz haben oft genug ein problematisches Gesundheitsverhalten.
Was glauben Sie, meine Damen und Herren, welche Entwicklung hier vorgezeichnet ist? Bereits bisher - mit und ohne Praxisgebühr und Zuzahlungen - haben diese Menschen deutlich schlechtere Karten bei der Gesundheitsprävention und nun - mit Praxisgebühren und Zuzahlungen - haben sie auch noch deutlich schlechtere Karten bei der Gesundheitsversorgung.
Wie viel Ahnung die Menschen davon haben, die im Vermittlungsausschuss saßen, das will ich gern einmal illustrieren. Da wird der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt am 30. Januar 2004 im Mitteldeutschen Rundfunk in einem Interview gefragt - ich zitiere -:
„Für Menschen mit geringem Einkommen bedeutet die Zuzahlungsregelung eine große finanzielle Belastung. Gerade bei Heimbewohnern, die ein geringes Taschengeld bekommen, kann das schon die Hälfte ihres monatlichen Beitrages sein.“
und rechnet vor: „Wenn Heimbewohner 80 € Taschengeld kriegen, dann sind das 80 Cent im Monat“, und man könnte glauben, er lehnt sich in seinen Ohrensessel zurück. Aber wie die Journalistin oder der Journalist - ich weiß nicht, wer es war - richtig feststellt: Berechnungsgrundlage, meine Damen und Herren, ist eben nicht das Taschengeld eines Heimbewohners, sondern sein Einkommen. Wenn das die Sozialhilfe ist, dann - so meint sie oder er, die Journalistin - wären das eben schon 36 €.
Ich will hinzufügen: Das gilt eben leider nur für diejenigen unter den Betroffenen, die chronisch krank sind. Ansonsten werden sie mit 71 € zur Kasse gebeten und das wiederum nicht nur vernünftig verteilt über das ganze Jahr, sondern, wenn es ganz eklig kommt, schon im ersten Monat bzw. im ersten Quartal. „Na ja“ denkt der Leser mit einigermaßen sattem Einkommen, „das geht ja immer noch.“ Der Ministerpräsident unseres Landes gibt dann noch den weisen Ratschlag - ich zitiere -: „Wenn das Sozialhilfeempfänger sind, dann ist die Sozialhilfe dafür zuständig, in solchen Fällen zu helfen.“
Irrtum, Herr Professor - jetzt ist er leider nicht da. - Genau das ist sie eben künftig nicht mehr, meine Damen und Herren. Die einmaligen Leistungen der Sozialhilfe sind mit dem neuen SGB XII abschließend geregelt. Es gibt nur noch drei Fälle, in denen die Sozialhilfe einspringt, und die Hilfe im Falle von Krankheit gehört eben nicht mehr dazu. Diese Kosten sind künftig aus dem pauschalierten Regelsatz zu bezahlen und dieser liegt laut Entwurf der Bundesregierung für eine neue Regelsatzverordnung künftig bei 345 € monatlich.
Aufgrund der so genannten Gesundheitsreform sind die Ausgaben für Gesundheit zwangsläufig gestiegen. Das haben wir alle gemerkt. Fair wäre es also gewesen, auch die Regelsätze zu erhöhen. Genau das ist eben nicht geschehen. 345 € standen im alten Entwurf - noch vor der Gesundheitsreform - und 345 € stehen im neuen Entwurf, vorgelegt nach der Gesundheitsreform. Das einzige, was verändert wurde, ist die Binnengewichtung. Für Gesundheitsleistungen wird jetzt mehr veranschlagt, für Kleidung und anderes dafür weniger; der Deckel bleibt dagegen an der gleichen Stelle.
Das ist eine Milchbubenrechnung, meine Damen und Herren, und zwar eine, die auf Kosten der betroffenen Menschen geht. Hierbei gibt es einen Zirkelschluss und dieser heißt schlichtweg: Krankheit durch Armut und Armut durch Krankheit. - Der Gesundheitszustand der betroffenen Frauen und Männer und vor allen Dingen der ihrer Kinder wird sich drastisch verschlechtern. Ich kann Sie nur auffordern: Nehmen sie der unseligen Reform wenigstens an dieser Stelle die Spitze!
Danke, Frau Bull, für die Einbringung. - Für die Landesregierung spricht der Minister für Gesundheit und Soziales Herr Kley.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ohne Zweifel war die Reform des Gesundheitswesens dringend notwendig, um weitere Beitragserhöhungen der gesetzlichen Krankenversicherung zu vermeiden. Die Praxisgebühr und der Wegfall der bisherigen vollständigen Zuzahlungsbefreiung waren damals wesentliche Eckpunkte, ohne die es diesen Kompromiss nicht gegeben hätte.
In Deutschland gab es bislang - das hat auch Frau Bull zugegeben -, aus welchen Gründen auch immer, weit mehr Arztkontakte als in den anderen europäischen Ländern. Die Praxisgebühr sollte diesbezüglich als Steuerungsinstrument dienen, hilfsweise für einen Selbstbeteiligungsanteil der Patienten.
Das kann nur funktionieren, wenn sich daran alle beteiligen, auch die bislang nicht in den gesetzlichen Krankenkassen versicherten Sozialhilfeempfänger. Dabei ist zu beachten, dass bei der Belastung die Leistungsfähigkeit des Einzelnen angemessen berücksichtigt wird, was in den anderen Ländern längst nicht überall der Fall ist.
Die in dem Antrag der PDS-Fraktion die behauptete Überlastung von Sozialhilfeempfängern tritt durch die zum 1. Januar erfolgten Änderungen im Prinzip nicht ein. Auch für diesen Personenkreis gilt nämlich nach § 62 des fünften Sozialgesetzbuches eine Belastungsobergrenze für alle Zuzahlungen, die bei 2 % der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt liegt und sich im Fall chronischer Krankheit auf 1 % halbiert.
Für Sozialhilfeempfänger errechnet sich auf der Basis des monatlichen Regelsatzes des Haushaltsvorstands von 285 € eine jährliche Oberbelastungsgrenze von 68,40 €. Bei chronisch Kranken Sozialhilfeempfängern beträgt diese 34,20 €. Damit liegt die durchschnittliche monatliche Belastung bei 6 bzw. 3 €. Diese Beträge lassen sicherlich nicht auf eine Überforderung schließen.
Wenn Sie sich dieser Argumentation so sicher sind, Herr Minister, würde ich Sie gern fragen, wie Sie sich dann vorstellen können, weshalb das Braunschweiger Verwaltungsgericht - erstinstanzlich, muss ich dazu sagen - einen klagenden Sozialhilfeempfänger von genau diesen Kosten freigesprochen hat.
Man muss sehen, wie das in der weiteren Instanz behandelt wird. - Die Gesundheitsreform sieht das eindeutig so vor. Es bestand auch Einigkeit unter allen Beteiligten in dieser Runde darüber - das muss ich mal so sagen: unter allen, das ist nicht irgendeiner Partei zuzuordnen -,
dass es nicht sein kann, dass - wie zum damaligen Zeitpunkt - über 50 % der Patientinnen und Patienten von Zuzahlungen befreit waren, das heißt, die Ausnahme die Regel bedeutete.
Für den besonderen Fall der Sozialhilfeempfänger in Heimen allerdings, wie von Ihnen auch angesprochen, beabsichtigen die Spitzenverbände der Krankenkassen und die kommunalen Spitzenverbände im Übrigen ein vereinfachtes Verfahren, welches so aussieht, dass die Sozialhilfeträger den auf einen Heimbewohner entfallenden maximalen Zuzahlungsbetrag darlehensweise an den Hilfeempfänger gewähren, um den gesamten Zuzahlungsbetrag bis zur Belastungsgrenze in einer Summe zu Beginn des Jahres an die Krankenkassen zu entrichten.
Das heißt, an dieser Stelle soll dem bisherigen Problembereich der Überlastung vor allem der Taschengeldempfänger begegnet werden können. Die Sozialhilfeträger erhalten dann in den Folgemonaten sukzessive durch Einbehalten von kleineren Teilbeträgen des Barbetrages das Darlehen von dem Hilfeempfänger zurück.
Insgesamt gesehen kann also nicht von einer Überforderung gesprochen werden, was zwischenzeitlich übrigens bereits durch andere Gerichtsurteile bestätigt worden ist. Ungeachtet dessen hat der Bundesgesetzgeber der unbestreitbar eingeschränkten finanziellen Lage des betroffenen Personenkreises dadurch Rechnung getragen, dass er in Artikel 29 des GKV-Modernisierungsgesetzes eine Erweiterung des Leistungsumfangs in der Regelsatzverordnung festgeschrieben hat. Bei der künftigen Bemessung der Sozialhilfeleistungen sind danach auch Leistungen für Kosten bei Krankheit angemessen zu berücksichtigen,
werden also zukünftig mit einfließen. Welche Auswirkungen das letztlich für die Gesamteinkünfte eines Sozialhilfeempfängers hat, wird derzeit beraten.
Die neuen Regelungen des Gesundheitssystem-Modernisierungsgesetzes verursachen aber nicht nur Mehrausgaben, sie führen durch die Umwandlung der Patientenbeteiligung an den Krankenhauskosten und der Fahrtkostenbeteiligung in Zuzahlungen nach § 61 SGB V auch zu Entlastungen.
Die neuen Ansprüche von Sozialhilfeempfängern auf Teilnahme an Desease-Management-Programmen stellen zudem eine Leistungserweiterung dar. Daher bedarf die notwendige Neuberechnung des Gesamtbedarfs der
Sozialhilfeempfänger einer sorgfältigen Abschätzung. Es macht deshalb jetzt keinen Sinn, während eines auf Bundesebene laufenden und noch nicht abgeschlossenen Verfahrens zur Anpassung der Regelsatzverordnung wichtige Eckpunkte des im Jahr 2003 gefundenen Kompromisses zum GKV-Modernisierungsgesetz infrage zu stellen.