Protocol of the Session on March 14, 2003

Es gibt nur wenige Forschungs- und Wissenschaftsgebiete, in denen Europa zur Weltspitze gehört. Seit Jahrzehnten ist das bei der Neutronenstreuung der Fall. Ich verweise unter anderem auf die Neutronenquellen am ILL in Grenoble, den Forschungsreaktor Orphée in Saclay in Frankreich, den Puls-Reaktor in Dubna, Russland, bzw. die Spallationsneutronenquellen von ISIS Großbritannien, und PSI in der Schweiz oder neuerdings den FRM II in Garching bei München. Etwa 5 000 Wissenschaftler nutzen gegenwärtig dieses europäische Neutronennetzwerk.

Die neue, in europäischer Gemeinschaft geplante Neutronenquelle würde alles Bisherige in den Schatten stellen und über einen vielfachen Neutronenfluss verfügen. Gegenwärtig werden sowohl in den USA als auch in Japan in Anlehnung an dieses ESS-Design neue leistungsfähige Spallationsquellen gebaut. Die jetzigen europäischen Quellen sind damit international nicht mehr konkurrenzfähig. Damit kommen wir auf vielen Anwendungsgebieten der Chemie, Physik, Material- und Werkstoffwissenschaften, der Lebens- und Geowissenschaften ins Hintertreffen. Gerade, meine Damen und Herren, für Deutschland ist das grotesk.

England und Frankreich haben sich, insbesondere weil die Bundesregierung sich nicht eindeutig und rechtzeitig hinter dieses Großvorhaben stellte, zurückgezogen. Ich kenne auch jetzt keine Initiative der Bundesregierung, beide Länder wieder in das gemeinsame Boot zurückzuholen. Der Verdacht ist offenkundig: Man will es nicht oder es kommt gerade recht.

So bezieht sich Bundesministerin Bulmahn in ihrer Entscheidungsbegründung für die Absage zum Großprojekt ESS auf die Nichtbeteiligung der beiden Länder und die dadurch bedingte problematische Finanzierung sowie auf die unzureichende Prioritätensetzung durch den Wissenschaftsrat. Letzterer hat aber, weil er den hohen Stellenwert dieses Projektes sehr wohl anerkennt, einer Überarbeitung dieses Projektes im November 2002 zugestimmt und das nochmals am 24. Februar 2003 bestätigt. Das hätte die vorschnelle Ministerin Bulmahn allerdings berücksichtigen müssen. Sie tat es nicht und entschied sich für andere Projekte. Das nenne ich eine gezielte Blockadehaltung in Bezug auf das ESS-Projekt.

Wer sind nun die großen Gewinner dieser Fehlentscheidung? Erstens die Engländer, die ihr Projekt ISIS jetzt

selbständig ohne deutsche Konkurrenz weiter ausbauen können.

Zweitens die Franzosen, die jetzt unbelasteter mit den Amerikanern ihr Transmutationsverfahren umsetzen oder sich neben Japan, Kanada, den USA und anderen europäischen Ländern konsequenter für den Standort des Fusionsreaktors ITER als Demo-Reaktor bewerben können.

Meine Damen und Herren! Beide lachen sich eins ins Fäustchen und brauchen sich, bedingt durch den vorschnellen Projektrückzug durch die Bundesregierung, nicht am ESS-Projekt finanziell zu beteiligen.

Es sind, meine Damen und Herren, drittens die Projektbetreiber aus den alten Bundesländern. Denn von den 965 Millionen € an deutschen Beteiligungskosten gehen immerhin 940 Millionen € in die alten Bundesländer und nur 24,5 Millionen € in die neuen Bundesländer, nach Sachsen, Rossendorf.

Mir scheint, meine Damen und Herren, dass sich Bundesministerin Bulmahn ganz geschickt aus der Affäre zog. Sie verärgert damit nicht ihren Kabinettskollegen, den Superminister Clement, der natürlich den deutschen Bewerbungsstandort Jülich aus seinem Heimatland NRW bevorzugt. Sie glaubt auf diese Art und Weise die hartnäckigen Bewerber Sachsen und Sachsen-Anhalt nicht berücksichtigen zu müssen.

Meine Damen und Herren! Es passt zur Sachlage und klingt schon seltsam, wenn in diesem Zusammenhang Ministerin Bulmahn in ihrem Begründungsschreiben mitteilt - ich zitiere - : „Persönlich habe ich keinen Zweifel an dem hohen wissenschaftlichen Stand des Projektvorschlags.“ - Da kann man nur den Kopf schütteln.

Aber, meine Damen und Herren, Sachsen und SachsenAnhalt sind nach wie vor an diesem Projekt interessiert. In der letzten Beratung beider Länder am 7. März 2003 mit dem ESS-Council und dem Hahn-Meitner-Institut hatte man sich darauf verständigt, die Projektüberarbeitung gemäß der Forderung des Wissenschaftsrats abzuarbeiten. Das betrifft die Herstellung des wissenschaftlich-technischen Umfelds. Der konstituierte Beirat beider Länder hat sich darauf eingestellt. Dazu ist auch weiterhin die Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftsstandort Jülich erforderlich. Es spricht aber für sich, wenn die Forschungsministerin gerade jetzt ein Arbeitsgespräch mit den Vertretern des Standortes Jülich suchte.

Der Projektvorschlag wird die veränderten Bedingungen berücksichtigen müssen. So könnte man sich eine Arbeitsfolge mit veränderten ESS-Modulen vorstellen, also zuerst den Bau von Targets mit längeren Pulsen, wie es bereits das ESS-Council empfahl. Das Vorhaben könnte in zwei Phasen bzw. zwei Stufen stattfinden. In der zweiten Stufe sollte dann der Standort und die entsprechende Finanzierung präzisiert werden.

Eine wichtige Voraussetzung für alle weiteren Aktivitäten ist die politische Unterstützung für das Projekt in Sachsen und Sachsen-Anhalt über alle Parteigrenzen hinweg. Dafür möchte ich werben. Diese Unterstützung wird offenbar auch geleistet. Auch im Deutschen Bundestag gibt es hierzu jeweils einen parlamentarischen Antrag der Oppositionsparteien.

Die FDP-Fraktion hat hierzu die forschungspolitischen Sprecher zu einer Diskussionsrunde am 2. April 2003 eingeladen. Das stimmt optimistisch. Hier muss sich aber die Bundesregierung diesen Realitäten stellen. Kann und

wird sie es auch? Ich habe meine Zweifel. Hier und auf anderen Gebieten zeigt es sich, dass Versprechen oder Zusagen leider oft nur leere Worthülsen oder reine Lippenbekenntnisse sind.

Beispielsweise hat sich der Bundeskanzler bei seinem letzten Aufenthalt in Halle dafür ausgesprochen, ostdeutsche Forschungseinrichtungen stärker zu unterstützen. Er hat gesagt, es müsse aufhören, dass qualifizierte Forscher aus dem Osten weggingen, wenn sie woanders Angebote bekämen. Er habe das Bundesforschungsministerium gebeten, zusätzliche Möglichkeiten zu prüfen. Das Bundesforschungsministerium, dessen Mitarbeiter noch zu 90 % in Bonn sitzen, lässt über seine Ministerin in verschiedenen öffentlichen Auftritten verkünden - ich zitiere -:

„Die Forschungsförderung in Ostdeutschland ist am zwingendsten und nötigsten. Darum habe ich dort einen Schwerpunkt gesetzt.“

Die Ministerin äußert in der Zeitung „Die Welt“ am 1. März 2003 - ich zitiere -:

„Deutlich mehr Investitionen wird es für die Forschung in Ostdeutschland geben. Hier ist eine Offensive für Innovation und Arbeitsplätze dringend notwendig.“

Ich kann nur sagen: Frau Ministerin, tun Sie es!

Inno-Regio bzw. innovative regionale Wachstumskerne sind zwar der Weg in die richtige Richtung; bei unserem enormen Nachholbedarf sind sie aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Bei der beträchtlichen Summe für die gegenwärtig ausgewählten Forschungsgroßprojekte haben die Ministerin und damit ihr Kabinett in ihrer Entscheidungsbereitschaft im Hinblick auf Ostdeutschland völlig versagt. Nur 2,5 % der veranschlagten Mittel gehen in den Osten Deutschlands, nach Sachsen. Das ist fast nichts. Die Aufwertung unseres Standortes und damit die Schaffung zusätzlicher hoch qualifizierter Dauerarbeitsplätze sind unter diesen Umständen eine Luftnummer. Obige Worthülsen klingen wie Hohn.

Hinzu kommt der Umgangsstil. Unsere Landesregierung erfuhr von der Kabinettsentscheidung nur über die Presse bzw. erst Wochen danach durch ein Schreiben der Ministerin Bulmahn. Auch das Bundesparlament, dort der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, wurde erst im Nachhinein informiert. - Das ist kein guter Stil, meine Damen und Herren.

Wenn man das im Zusammenhang mit anderen Fehlentscheidungen für Ostdeutschland sieht, dann erkennen Sie, welche Bedeutung der Osten Deutschlands in der politischen Strategie der Bundesregierung hat - eine unbedeutende. Wir sind im Denken dieser Politiker wahrscheinlich nur das Ersatzrad im Wagen, das offenbar, meine Damen und Herren, nur bei Wahlen herausgeholt wird.

Meine Damen und Herren! Ihnen liegt ein Änderungsantrag der SPD-Fraktion vor. Wir können diesem Antrag zustimmen, wenn darin - darum bitte ich - folgende Änderungen vorgenommen werden: Der Landtag von Sachsen-Anhalt appelliert nicht an die Bundesregierung, sondern fordert die Bundesregierung auf. Ferner soll bei der Nennung der Ausschüsse der Ausschuss für Bundes- und Europaangelegenheiten einbezogen werden. - Vielen Dank.

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)

Danke, Herr Abgeordneter Dr. Sobetzko. - Für die Landesregierung hat Minister Herr Dr. Rehberger das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bedeutung der europäischen Spallationsneutronenquelle ist durch den Kollegen Dr. Sobetzko eben noch einmal sehr eindrucksvoll unterstrichen worden. Das ist ein Thema, das uns in diesem Hohen Hause zu Recht schon mehrfach beschäftigt hat. Ich bin sehr dankbar, dass es darüber einen Konsens quer durch die Fraktionen gibt. Es geht um eine ganz wichtige strukturpolitische Entscheidung, die hier ansteht, bei der wir alle gemeinsam einen Erfolg für Sachsen-Anhalt und Sachsen und damit letztlich für Ostdeutschland wollen.

Es lässt sich nicht bestreiten, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass ein solches Projekt nur dann realisiert werden kann, wenn der Wissenschaftsrat dazu ja sagt. Es lässt sich auch nicht bestreiten, dass der Wissenschaftsrat in seiner Sitzung am 15. November 2002 zwar nicht nein gesagt, aber auch keine positive Entscheidung getroffen hat.

Im Dezember 2002 haben sich dann die Bewerberländer, die Forschungseinrichtungen und der Wissenschaftsrat darauf geeinigt, dass man in einem wohlgeordneten Verfahren die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse aufarbeitet und damit dem Wissenschaftsrat eine erneute Vorlage zur europäischen Spallationsneutronenquelle unterbreitet. Diesen Weg wollen wir - die Landesregierung von Sachsen-Anhalt ist dabei stark involviert - gerne zusammen mit dem Bundesland Sachsen und allen, die betroffen sind, gehen. Insofern war der Brief der Bundesbildungsministerin vom 17. Februar 2003 für uns - wie soll ich es formulieren? - eine kalte Dusche.

Ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir zur Kenntnis nehmen, dass das nicht das letzte Wort sein muss. Die Tatsache, dass die Fraktion der SPD einen ausgesprochen konstruktiven Antrag zu diesem Thema eingebracht hat, gibt mir Hoffnung, meine Damen und Herren, nämlich die Hoffnung, dass wir überparteilich oder über eine bestimmte Koalition hinaus in der Lage sein werden, die einstweilige Entscheidung von Frau Bulmahn durch die Bundesregierung bzw. durch die Bundesministerin korrigieren zu lassen.

Ich gehe davon aus, dass wir bis zum Jahresende über die wissenschaftliche Bedeutung der europäischen Spallationsneutronenquelle so viele Unterlagen haben, dass der Wissenschaftsrat zu einer neuen, für unser Anliegen positiven Entscheidung kommen kann, und sehe auch die heutige, von mehreren Fraktionen beantragte Beschlussfassung als einen Beitrag an, der dazu führen wird, dass wir in Berlin doch noch Erfolg haben werden. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Danke, Herr Minister Dr. Rehberger. - Für die SPD-Fraktion erteile ich der Abgeordneten Frau Budde das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Kollege Sobetzko, über den Umgang von Regie

rungen mit Parlamenten könnte ich auch einiges sagen. Ich würde das weniger zurückhaltend und mit mehr Emotionen vortragen. Das würde dann aber auch nicht zu diesem Thema passen. Deshalb möchte ich das auch nicht tun. Grundsatzdebatten über die Forschungspolitik sollten wir besser an anderer Stelle führen; damit tun wir diesem Thema keinen Gefallen.

Wir sind uns im Grunde einig, dass es notwendig ist und dass es sich lohnt, für dieses Projekt zu kämpfen. Wir sind uns auch darüber einig, dass das Projekt ESS sowohl den Wirtschafts- als auch den Forschungsstandort Sachsen-Anhalt nachhaltig positiv unterstützen und ihm ein besonderes Profil geben würde.

Sie wissen, dass auf allen Ebenen dafür gekämpft wird. Alle SPD-Ebenen sind hier eingeschaltet, von den Stadtratsfraktionen bis zu den Landtagsfraktionen. Wir hoffen, dass das ein wenig Auswirkung im positiven Sinne haben wird.

Meine Bitte, sachlich mit dem Thema umzugehen, brauche ich an dieser Stelle nicht erneut vorzubringen, denn das ist geschehen, sowohl bei Ihnen als auch beim Herrn Minister. Dafür bedanke ich mich. Ich denke, es ist in der Tat keine Zeit, bei diesem Thema politische Schuldzuweisungen abzuarbeiten. Vielmehr sollten wir gemeinsam das Zeitfenster und die Chance, die da ist, nutzen.

Ausschlaggebend ist in der Tat eine andere, positive Bewertung des Wissenschaftsrates. Er hat zwar, Herr Minister, nicht nein gesagt, aber er hat ein deutliches „später vielleicht“ geäußert. Das muss man eben positiv zu beeinflussen versuchen. Dabei sind die Wissenschaftler gefragt, das Vorhaben aus der dritten Gruppe der spezifischen Empfehlungen möglichst weit nach oben zu bekommen, idealerweise in die erste Gruppe - ohne Vorbehalt förderungsfähig.

Es gab dazu etliche Diskussionen. Eine der Diskussionen über diese wissenschaftlichen Großgeräte fand am Tag der Deutschen physikalischen Gesellschaft im November 2002 statt. Dort haben sowohl der Staatssekretär Herr Dr. Thomas aus dem BMBF als auch der Vorsitzende des Wissenschaftsrates Karl Max Einhäupl geredet. Ich bin immer versucht, „Karl Marx“ zu sagen; aber er heißt richtig „Karl Max“. Beide haben intensiv darüber diskutiert.

Es wurde von den Wissenschaftlern selbst vorgetragen, dass es zwar einerseits eine wichtige Aufgabe ist, der Politik beispielsweise klar zu machen - ich finde, das Zitat passt sehr gut -, dass Neutronenforschung manchmal wichtiger ist als Panzer, dass sich andererseits aber die Frage nach den Prioritäten zuerst innerhalb der Physik selbst stellt. Bisher seien also die wissenschaftliche und die technische Reife der verschiedenen Projekte - diesmal waren es neun, die der Wissenschaftsrat zu beurteilen hatte; so viele waren es wohl vorher noch nie - unter dem Gesichtspunkt beurteilt worden, welche Bedeutung sie für die deutsche Wissenschaftsszene haben. Diesbezüglich muss noch nachgelegt werden.

Deshalb denke ich, dass es in dem Prozess, in dem wir uns jetzt befinden, notwendig ist, das Handlungsfenster zu nutzen, das Angebot des Wissenschaftsrates offensiv aufzunehmen und einen neuen, inhaltlich überarbeiteten Antrag zu stellen, der dann dazu führt, dass das ESSProjekt weiter nach oben kommt.

Die Äußerungen der Bundesregierung, vorläufig nicht zu fördern, - das will ich deutlich sagen - halten auch wir für

verfrüht; diese wären nicht nötig gewesen. Das hat schon einige problematische Reaktionen in Bezug auf dieses Projekt hervorgerufen, zumal wir wissen, dass in Japan und in den USA weiter geforscht wird und wie wichtig es ist, dass Deutschland insgesamt eine positive Äußerung zu dieser Anlage macht; denn das würde auch dazu führen, dass es in Europa wieder mit anderen Augen betrachtet wird.

Vor diesem Hintergrund können wir mit Ihren Änderungen mitgehen und können gemeinsam diesen Antrag so verabschieden.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der FDP und von Herrn Dr. Thiel, PDS)

Danke, Frau Abgeordnete Budde. - Für die FDP-Fraktion spricht der Abgeordnete Herr Dr. Schrader.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Kollegin Budde, Herr Sobetzko, Herr Minister, ich bedanke mich dafür, dass wir hierzu kurzfristig eine gemeinsame Entschließung hinbekommen haben. Wir werden auch in Zukunft sehr wichtige Investitionsvorhaben nur auf diesem Wege hinbekommen. Es ist alles gesagt worden. Deshalb gebe ich meine Rede zu Protokoll.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Herr Dr. Schrader, ich erlaube Ihnen, Ihre Rede zu Protokoll zu geben.