Interessant und auffällig ist, dass vor wenigen Wochen die Journalistin Doris Schröder-Köpf eine Diskussion vom Zaune brach, die sogleich stürmisch zustimmende und auch stürmisch ablehnende Reaktionen erfuhr. Sie äußerte, dass viele Kinder aufwachsen, denen zu viel Nachsicht gewährt wird, wenn sie notwendige Forderungen nicht erfüllen, Nachsicht und fehlende Sanktionen, wenn sie Normen brechen oder sich verweigern.
Dabei hatte die Auslöserin der Diskussion keineswegs die schwerwiegenden Vergehen oder Taten von Kindern und Jugendlichen angesprochen, sondern die kleinen Probleme im Alltag, die allzu oft aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr wahrgenommen oder einfach auch hingenommen werden. Der für das kindliche Ohr schrecklich klingende Ruf: „Räum bitte auf!“ wird so schon zum Prüfstein, zur Kraftprobe zwischen Kind und Eltern.
Die ausgelöste Diskussion erhielt besonderes Gewicht, da Frau Schröder-Köpf die Ehefrau des Bundeskanzlers ist, der ansonsten dafür bekannt ist, dass er mit einem „Basta“ die Diskussionen zu beenden pflegt. Da Frau Köpf jahrelang berufstätige allein erziehende Mutter war und nun Ehefrau des Kanzlers ist, weiß sie, wovon sie spricht, und sie ist keineswegs in der Rolle der genannten Zuschauerinnen.
Nach der Wortmeldung von Frau Schröder-Köpf setzten sogleich Befragungen zur Thematik ein, die eine Mehrheit für eine strengere Kindererziehung brachten. 62 % von mehr als 1 000 Befragten wollten eine strengere Erziehung der Kinder, während 31 % mit den derzeitigen Erziehungsmethoden zufrieden waren.
Bei den befragten Eltern waren die Meinungen geteilt. 49 % gegenüber 43 % waren für eine strengere Erziehung. Mit 95 % sprachen sich die meisten Befragten dafür aus, dass die Kinder Pflichten wie Aufräumen und Einkaufen erfüllen sollten. 87 % finden, dass Kinder regelmäßig über ihre Schularbeiten berichten sollten, und 56 % waren dafür, Kindern den Kaugummi in der Schule zu untersagen.
Aber genug der Zahlen; denn deutlich wird, welche Bandbreite, ob wichtig oder weniger wichtig, die Fragen zur Erziehung umfassen.
Meine Damen und Herren! Ich erinnere daran, dass in diesem Hohen Hause der Kultusminister Dr. Harms vortrug, was er von den Sekundärtugenden, von der Bewertung mit Kopfnoten zum Schülerverhalten hielt: wenig oder gar nichts. Ich denke, Herr Harms wird ein Problem bekommen - nicht nur mit uns, vielmehr auch mit der Kanzlergattin.
Aber verkennen wir dabei nicht, dass die Erziehung von Kindern, ob streng oder nachlässig, auch entsprechende Einstellungen der Eltern und der Erziehenden erfordert. Doch eine Überforderung der Eltern wird auch sichtbar. So stellte der Bielefelder Jugendforscher Klaus Hurrelmann fest, dass ein Drittel aller Eltern in Deutschland mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind, sich oft nicht zu helfen wissen und dass dann noch 60 % der Eltern ihre Kinder schlagen, obwohl viele dies sofort danach bereuen.
Gleiches und verallgemeinernd stellte Bundesfamilienministerin Christine Bergmann fest, dass laut einer bundesweiten Studie rund 30 % der befragten Kinder zu Hause eine Tracht Prügel erhalten und dass diese Gewalterfahrung, oft mit Brutalität versehen, das ganze Leben der Kinder später prägt. Unterschätzt werden
Der Vorschlag Hurrelmanns, Eltern zu trainieren, kann belächelt werden, er muss es aber nicht. Hurrelmann knüpft an den Besuch geförderter Weiterbildungen oder Seminare für Erziehende auch eine finanzielle Belohnung oder andere materielle Anreize bis hin zur Verknüpfung von Weiterbildung und der Zahlung von 30 DM Kindergeld. Es ist der Versuch - ich will nicht sagen, der letzte oder verzweifelte -, den oft allein gelassenen Eltern zu helfen, zu helfen, erziehen zu können und dazu auch befähigt zu werden. Und oft kommt dabei der Einwand, dass diejenigen, die es am meisten benötigen, sich nicht angesprochen fühlen. Aber das ist in anderen Lebensbereichen auch der Fall.
Das Sprichwort fasst das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern kurz und zutreffend: Wie die Quelle, so der Bach, wie die Eltern, so die Kinder.
Meine Damen und Herren! Wenn diese geschilderten Zustände und Umstände auch keineswegs neu und überraschend sind, so muss man sich doch fragen: Wie ist so etwas möglich? Worin liegen die Ursachen für solche oft bedrückenden Erscheinungen?
Wie zeitnah sind doch dabei jene Worte, die Platon vor über 2 000 Jahren in seiner Schrift „Der Staat - 8. Buch“ fand. Gestatten Sie bitte, Herr Präsident, dass ich daraus zitiere:
„Wohlan, mein lieber Freund, wie steht es mit der Diktatur? Ist es nicht so, dass sich die Demokratie selbst auflöst durch eine gewisse Unersättlichkeit in der Freiheit?
Väter gewöhnen sich daran, ihre Kinder einfach gewähren und laufen zu lassen, wie sie wollen. Sie fürchten sich, vor ihren erwachsenen Kindern ein Wort zu reden, oder die Söhne wollen schon so sein wie die Väter, sodass sie ihre Eltern weder scheuen noch sich um ihre Worte kümmern, sich nichts mehr sagen lassen wollen, um ja recht erwachsen und selbstständig zu erscheinen.
Und auch die Lehrer zittern bei solchen Verhältnissen vor ihren Schülern und schmeicheln ihnen lieber, statt sie sicher und mit starker Hand auf einen geraden Weg zu führen, sodass die Schüler sich nichts mehr aus solchen Lehrern machen.“
„Überhaupt sind wir schon so weit, dass sich die Jüngeren den Älteren gleichstellen, ja gegen sie auftreten in Wort und Tat. Die Alten aber setzen sich unter die Jungen und suchen sich ihnen gefällig zu machen, indem sie ihre Albernheiten und Ungehörigkeiten übersehen oder gar daran teilnehmen, damit sie ja nicht den Anschein erwecken, als seien sie Spielverderber oder auf Autorität versessen.
Auf solche Weise wird die Seele und die Widerstandskraft aller Jungen allmählich mürbe. Sie werden aufsässig und können es schließlich nicht mehr ertragen, wenn man nur ein klein wenig Unterordnung von ihnen verlangt. Am Ende verachten sie dann Gesetze, weil sie niemand und nichts mehr als Herrn über sich anerkennen wollen. Und das ist der schöne, jugendfrohe Anfang der Tyrannei.“
Meine Damen und Herren! Wären diese Erkenntnisse nicht bereits Jahrtausende alt und würde sie der Urheber leiblich lebend heute hier verkünden, dann dürfte er sich dessen gewiss sein, den Verfechtern einer Political Correctness anheim zu fallen und sich bei denen mit Demutsgebärden entschuldigen zu müssen. Welches Glück also für Platon, sich nicht hier und heute stellen zu müssen.
Meine Damen und Herren! Zahlreich sind die Belege aus Untersuchungen, die sich dieser Erziehungsproblematik widmen. Seien es die 13. Shell-Studie „Jugend 2000“, der Zehnte Kinder- und Jugendbericht, die seit September laufende Kampagne „Mehr Respekt vor Kindern gegen Gewalt“ und andere Studien. Sie alle eint, dass sie nüchtern Fakten ermitteln, Ursachen ergründen und Vorschläge im Hinblick auf Veränderungen unterbreiten.
Wir müssen dennoch ungeduldig sein, wie oft mit konstanter Hartnäckigkeit notwendigen Veränderungen begegnet wird. Ich sage das deshalb, weil im Jahr 1995 ein „Spiegel spezial“ titelte: „Kinder, Kinder - Erziehung in der Krise“. In diesem Heft erörtern Fachleute die gleichen Probleme, über die wir gegenwärtig sprechen. Und es hat den Anschein, als sei die Zeit stehen geblieben, oder richtiger beurteilt: Es tat sich wenig.
„Die neuen alten Werte. - Während früher verhaltensauffällige Schüler die Ausnahmen bildeten, die ein Lehrer mit Anstrengung und Geschick im Klassenverband gut ertragen konnte, sind sie heute oft die Regel. War der Lehrer früher vor allem Wissensvermittler, ist er heute Dompteur und Disziplinator, der um jede Stunde vernünftigen Unterricht kämpfen muss.“
Als eine Ursache führt Mohr an, dass in vielen Familien die Heranwachsenden kaum noch elementare soziale Verhaltensweisen wie Rücksicht und Kompromissfähigkeit erlernen und erleben. So werden Schulen zum gesellschaftlichen Reparaturbetrieb und Pädagogen zum Elternersatz.
Meine Damen und Herren! Es mag hart, vielleicht auch ungerecht klingen, aber nicht von der Hand zu weisen sind jene dafür begünstigenden Bedingungen, die leichtfertig über die Jahre hingenommen wurden. Als sei Platons Stimme ungehört verhallt, bewertet der Autor auch Phasen der Bildungspolitik in Deutschland. „Die Laisser-faire-Romantik der 70er-Jahre ist gescheitert“, sagt Mohr.
„Die als Nichterziehung missverstandene antiautoritäre Erziehung hat sich als pädagogische Nulllösung erwiesen, auch an den Lehranstalten. Schüler wollen ernst genommen und gefordert werden. Sie erwarten Autorität, an der sie sich reiben und ihre Grenzen ausloten können. Feste Regeln und Verhaltensnormen gehören zum Schulalltag und werden, wenn sie einsichtig und konsequent praktiziert werden, von Schülern auch akzeptiert.“
Und bei den folgenden Worten mögen die Ohren des grünen Kultusministers und Kompakt-Verfechters klingen, der in diesem Parlament nicht nur bei der Ablehnung von Kopfnoten auf überholten Standpunkten beharrte. Ich zitiere:
„Dazu gehört auch, dass Lehrer lange Zeit diffamierte Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Fleiß, Selbstdisziplin und gutes Auftreten einfor
dern. Wer seinen Schülern weismacht, diese Eigenschaften seien nicht notwendig, schickt sie mit großen Illusionen in ihr späteres Leben.“
Meine Damen und Herren! Ich füge hinzu: Ein jähes Erwachen folgt dann für jene, die - wie in der heute bereits geführten Debatte erwähnt - außerhalb des Landes Sachsen-Anhalt eine anspruchsvolle Ausbildung in jedweder Hinsicht absolvieren werden. Und gegen soziale Orientierungslosigkeit sind Erziehungsziele wie Humanität, Verantwortungsbewusstsein und Gemeinwohl unerlässlich.
„Eine demokratische Gesellschaft wie die Bundesrepublik kann auf die Dauer nur existieren, wenn ein positiver Wertekonsens besteht. Den zu fördern, muss Schule heute leisten oder zumindest versuchen.“
Meine Damen und Herren! Ich meine, die Zeit für Versuche ist nicht mehr gegeben. Es ist allerhöchste Zeit, die vielfältigen Erkenntnisse auch umzusetzen.
Im gleichen Erscheinungsjahr des „Spiegels spezial“ erschien in den USA und in der Bundesrepublik das Buch von Neil Postman „Keine Götter mehr - das Ende der Erziehung“. Der namhafte Autor schildert darin, wie er seine Laufbahn als Grundschullehrer begonnen hatte und keinen Moment lang den Gedanken aufgab, dass viele der hartnäckigsten und schmerzlichsten gesellschaftlichen Probleme einer Lösung näher wären, wenn wir wüssten, wie wir unsere Kinder erziehen sollen. Postman zieht folgenden Schluss, der bei aller Unterschiedlichkeit der Erziehungs- und Bildungssysteme zum Nachdenken anregt; er hat geschrieben:
„Als ich nachgeforscht habe, was die Menschen zur Erziehung zu sagen haben, da fiel mir auf, dass es meistens um Mittel ging, selten um Zwecke. Sollten wir unsere Schulen privatisieren? Sollten wir landesweit einheitliche Prüfungsstandards haben? Wie sollten wir Computer einsetzen? Sollten wir das Fernsehen in den Unterricht einbeziehen? Wie sollten wir das Lesen lernen? Und so weiter.“
„Was sie aber gemein haben, ist die Tatsache, dass sie der Frage ausweichen, wozu die Schule da ist. Es ist, als wären wir eine Nation von Technikern, gefangen genommen von unserem Fachwissen darüber, wie etwas gemacht werden sollte, zu ängstlich oder unfähig, darüber nachzudenken, warum. Mit einem solchen Sinn kann die Schule zu der zentralen Institution werden, durch die unsere Kinder die Motivation finden können, ihre eigene Erziehung fortzusetzen.“
Meine Damen und Herren! Wir sind in diesem Hohen Hause sicher nicht unfähig und schon gar nicht ängstlich, über den beantragten Bericht der Landesregierung über die Umsetzung und Wirksamkeit des kinder- und jugendpolitischen Programms des Landes SachsenAnhalt zu diskutieren. Wenn Frau Ministerin Dr. Kuppe zum Programm erklärt, dass es keine abschließenden Antworten, sondern vielmehr Anregungen enthält, dann tröstet das doch nicht darüber hinweg, dass sich ein derartiges Programm in einer ständigen Entwicklung befindet. Vielmehr - so sehe ich das - geht dieses Pro
Dieses reiche Land Bundesrepublik Deutschland zeichnet sich durch wachsende Kinderarmut aus. Sie stieg seit 1994 um mehr als 50 %. Es ist erschreckend und nicht mehr hinnehmbar, dass 1,1 Millionen Kinder mit ihren Eltern sozialhilfebedürftig sind. Vor allem Familien mit mehreren Kindern sind immer stärker benachteiligt. Frustration und Aggression sind oft die Folgen. Da helfen keine kosmetischen Eingriffe durch Antiaggressionsprogramme; da hilft vor allem die Minderung und Aufhebung der Benachteiligung. Deshalb bitte ich um Zustimmung zu unserem Antrag. - Danke schön.
Vielen Dank. - Meine Damen und Herren! Die Fünfminutendebatte würde, wenn sie zustande kommt, in der Reihenfolge PDS, DVU, SPD, CDU und FDVP stattfinden. Zunächst ist nur ein Redebeitrag von der CDUFraktion angemeldet worden. Ich bitte jetzt Herrn Schomburg, das Wort zu nehmen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Obwohl die zur Verfügung stehende Zeit kaum eine tiefgründige Auseinandersetzung mit diesem Thema zulässt, möchte ich namens der CDU-Fraktion wenigstens einige Thesen zur Diskussion beitragen.
In den letzten Jahren ist es zunehmend üblich geworden, alle nur denkbaren gesellschaftlichen Veränderungen auf den Wertewandel als einem allgegenwärtigen Hindergrundphänomen zu beziehen und diesem eine fast uneingeschränkte Erklärungskraft zuzubilligen.
Ich werde mich hüten zu behaupten, die Menschen seien weniger moralisch als früher. Das bloße Befolgen von Regeln, wenn es denn früher verbreiteter gewesen sein sollte, hat mit Moral noch wenig zu tun. Es ist ja auch nicht so, dass erst seit ein paar Jahren oder Jahrzehnten beklagt würde, die Menschen verhielten sich nicht mehr so, wie sie es tun sollten. Mahnungen, Verhaltenskritik und Aufrufe zur Besserung sind im Gegenteil so alt wie die Menschheit.
Wer also meint, die Moralität habe uns alle schlagartig verlassen, vergewaltigt die Geistesgeschichte ebenso, wie es jene Vulgärrede vom Humanismus tut, bei der man den Eindruck gewinnen könnte, dass die Menschheit erst vor ein paar Jahrhunderten aus der kompletten Unzurechnungsfähigkeit in den Stand der vollen Erkenntnis gelangt sei. Man kann also nur raten, mit Wörtern wie „Wertewandel“ oder „Werteverfall“ ein wenig sparsamer und weniger moralisierend umzugehen.
Unabhängig von jeder vorschnellen Moralisierung kann man wohl sagen, dass es seit der ersten Hälfte der 60erJahre in der Bundesrepublik wie auch in anderen Ländern der westlichen Welt eine Veränderung von Einstellungen gab, durch die das Denken, Fühlen, Wollen und Wünschen großer Teile der Bevölkerung stark verändert wurde. Substanziell gesehen ereignete sich ein Wandel von Pflicht- und Akzeptanzwerten, die an Gewicht und Verbindlichkeit einbüßten, zu Selbstentfaltungswerten.
Es sind jedoch schwerwiegende Mentalitätsveränderungen in der Bevölkerung beobachtbar, die man als Folge des Wertewandels ansprechen kann. Auf einen vereinfachten Nenner gebracht, hat sich eine weitgehende
Entnormativierung des Denkens, des Fühlens, Wollens und Wünschens eingestellt, die mit einem stark vermehrten Bedürfnis nach einer nur persönlicher Entscheidung und Gestaltung entspringenden Lebensführung auf allen Gebieten Hand in Hand geht. Gesellschaftliche Konformitätsansprüche, die nur durch Herkommen, Brauch, Sitte oder gewohnheitsmäßige Übungen und Regeln begründet sind, werden heute vielfach als persönlichkeitseinengend und -beeinträchtigend erlebt und verfallen somit leicht der Ablehnung.