Protocol of the Session on April 5, 2001

Die Charta der Grundrechte der EU ist immer noch nicht rechtsverbindlich. Die Erklärung der Staatschefs zur Zukunft der Union ist also absolut nichts sagend. Erst im Jahr 2004 soll/kann/muss hierzu etwas gesagt werden. Es scheint, als würde einer dem anderen nicht trauen.

Die zentralen Ziele - Sozialcharta, Handlungsfähigkeit der EU, Gewaltenteilung - wurden nicht ratifiziert. Von einer Stärkung der Solidarität zwischen den Völkern der EU nach Abschluss des Nizza-Gipfels ist auch keine Rede mehr.

Die nächste Reform sollte noch in diesem Jahr stattfinden, um den mündigen Bürger vor der nächsten Europawahl zu informieren. Mit einer Kopie von Nizza wird es eine Kopie der Ergebnisse geben: Außer Spesen nichts gewesen.

Die einzige Stabilität in dieser EU ist der Zahlmeister Deutschland. Aufgrund der Osterweiterung erhöhen sich die Mitgliedsbeiträge für Deutschland von 48 auf 60 Milliarden DM. Das ist interessant und erschreckend.

Darum stimmen wir einer regelmäßigen Berichterstattung der Landesregierung zu. Einer Jubelfeier wider besseres Wissen stimmen wir allerdings nicht zu.

(Beifall bei der FDVP)

Für die PDS-Fraktion hat jetzt der Abgeordnete Herr Gärtner das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In meiner Rede während der ersten Beratung des Antrags kritisierte ich sehr deutlich namens meiner Fraktion die Ergebnisse des Nizza-Gipfels. Davon ist auch heute nichts zurückzunehmen. Nizza hat in der Tat keine Lust auf das gemeinsame Europa gemacht.

Aber mittlerweile ist einige Zeit zum Nachdenken auf allen Ebenen vergangen und wir müssen nunmehr schauen, wie wir die Diskussion ergebnis- und zugleich zukunftsorientiert nach vorn öffnen können. In diesem Sinne verstehe ich die nunmehr vorliegende Beschlussempfehlung als einen Kompromiss, der deutlicher als das Ausgangspapier der SPD-Fraktion formuliert, dass der Nizza-Gipfel aus unserer Sicht entscheidende Fragen offen gelassen hat. Genannt seien an dieser Stelle nochmals die nicht vorgenommene Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments und die undurchsichtige Veränderung der Stimmgewichtung im Rat.

In diesem Sinne halte ich den Punkt 4 in der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft, Technologie und Europaangelegenheiten für überaus wichtig, in dem es heißt, dass in den weiteren Beratungen über die Zukunft der EU die Transparenz von EU-Entscheidungen erhöht werden sowie die Demokratisierung von EUOrganen und eine Stärkung des Europäischen Parlamentes erfolgen müssten.

Nicht vergessen - Frau Dr. Kuppe hat es bereits erwähnt - sei an dieser Stelle der Punkt 5 der Beschlussempfehlung. Zur Transparenz gehört natürlich Aufklärung, sprich Öffentlichkeit. Weil wir die teilweise vorhandenen Ängste und Vorbehalte der Bevölkerung gegenüber der Ost

erweiterung ernst nehmen müssen, bedarf es einer breit angelegten Öffentlichkeitskampagne der Landesregierung über die Ergebnisse von Nizza, über die Charta der Grundrechte und zu den Chancen und Herausforderungen der EU-Osterweiterung. Hier nehmen wir die Landesregierung beim Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will die heutige Debatte aber nutzen, um zu einigen Fragen des Verhandlungsstandes zur Osterweiterung aus meiner Sicht Stellung zu beziehen. Hierbei stehen natürlich die Übergangsfristen im Mittelpunkt. Die PDS befürwortet die EU-Osterweiterung uneingeschränkt.

Wenn Befürchtungen hinsichtlich der EU-Osterweiterung in der Öffentlichkeit laut werden, dann vor allem hinsichtlich der möglichen Belastung des Arbeitsmarkts in der Bundesrepublik, im Besonderen im Osten und in den Grenzregionen der fünf neuen Länder. Diese Ängste müssen, soweit sie nicht eine offene Artikulation von Ressentiments und Rassismus darstellen, ernst genommen werden. Aufklärung ist an dieser Stelle notwendig.

Alle bisher vorliegenden Studien zur Zuwanderung in die Bundesrepublik im Rahmen der EU-Erweiterung gehen von ungefähr 200 000 Zuwanderern pro Jahr aus den Beitrittsländern aus. Die Grenzregionen der Bundesrepublik werden jedoch kaum von Zuwanderern betroffen sein. Aufgrund der prekären sozialen und ökonomischen Verhältnisse insbesondere in den Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen und auch Sachsen-Anhalt ist eine ins Gewicht fallende Zuwanderung im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht zu erwarten.

Sowohl die Bundesregierung als auch die Gewerkschaften fordern Übergangsfristen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit von bis zu zehn Jahren, wie die IG BAU. Auffällig ist aber, dass meist zugleich von denen, die Übergangsfristen fordern, eingestanden wird, dass die Fristen kein soziales oder ökonomisches Problem anpacken, geschweige denn lösen, sondern dass sie im Grunde genommen ausschließlich dazu dienen, die Ängste in der Bevölkerung zu beruhigen. Niemand kann bislang auch nur eine konkrete inhaltliche Untersetzung einer Jahreszahl vornehmen.

Diese Herangehensweise ist äußerst problematisch; sie droht bestehende Ressentiments geradezu zu verstärken und verknüpft soziale Ängste mit dem Thema Zuwanderung.

Auf der EU-Ebene ist die Forderung der Bundesregierung auf viel Unverständnis gestoßen, da der größte Nutznießer der Erweiterung, die Bundesrepublik, nun auch noch den Anschein erweckt, sich alle eventuell unliebsamen Folgen vom Leibe halten zu wollen. Bis auf Österreich hat die Bundesregierung für ihre Forderungen daher keine Unterstützung zu erwarten. Die Bundesregierung stellt sich mit ihren Forderungen nach Übergangsfristen im Übrigen auch gegen die EU-Grundrechtecharta, die sie am 7. Dezember in Nizza noch selbst feierlich mit proklamierte.

Im Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist generell zu beachten, dass Freizügigkeit illegale Beschäftigung verringern hilft. Darüber hinaus können nur so Steuereinnahmen und Sozialbeiträge realisiert werden und kann das deutsche Tarifsystem mit der Maßgabe „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ zur Anwendung gebracht werden.

Aus diesem Grund plädiere ich sehr dafür, diese Frage sachbezogen zu behandeln. Eine willkürlich gesetzte Jahresfrist bei den Übergangsfristen in der Frage der Freizügigkeit hilft uns da nicht weiter. Ich hoffe, dass hierzu in allen demokratischen Parteien, angefangen von der CDU bis zur PDS, in der Bundesrepublik Deutschland ein Umdenken stattfindet.

Ich bitte um Zustimmung zur Beschlussempfehlung des Ausschusses. - Vielen Dank.

(Zustimmung bei der PDS)

Für die CDU-Fraktion spricht jetzt der Abgeordnete Herr Dr. Sobetzko.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Ausschussdiskussion haben wir auf besondere Aspekte Wert gelegt; ich möchte sie noch einmal ganz kurz hervorheben.

Erstens. Hinweis auf das unvollständige und ernüchternde Ergebnis der Regierungskonferenz.

Zweitens. Notwendigkeit der zwingenden und ausreichenden Vorbereitung des Post-Nizza-Prozesses; hierzu Einsetzung eines Konvents.

Drittens. Forderung - auch aus der Sicht unserer Landesebene - nach einer rechtzeitigen Einberufung der nachfolgenden Regierungskonferenz, wenn möglich vor den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament, die im Jahr 2004 stattfinden.

Viertens. Einbeziehung aller offenen und für den europäischen Einigungsprozess notwendigen Themen in diese Regierungskonferenz, wie Verfassungsvertrag mit der entsprechenden Grundrechtecharta, Kompetenzaufteilung auf die Europäische Union und die Regionen, Verbesserung der Transparenz der Entscheidungen der Europäischen Union und eine weitere Entscheidung zur Verbesserung der Wirksamkeit der Organe der Europäischen Union.

Fünftens. Die notwendige Zustimmung zur Regierungskonferenz trotz alledem durch eine baldige Ratifizierung.

Es ist bemerkenswert, dass wir in vielen Punkten einsichtige Zustimmung erhielten. Leider wurde aber ein Votum, die nächste Regierungskonferenz vor dem Jahr 2004 einberufen zu lassen, abgelehnt. Nicht dass wir hier den entscheidenden Einfluss hätten, aber es wäre eine wichtige Signalwirkung.

Immerhin ist der einsetzende Erweiterungsprozess der Europäischen Union von den weiteren Ergebnissen der Regierungskonferenz abhängig. Das Europäische Parlament hinterfragt und prüft ebenso kritisch.

Es kommt darauf an, dass die entsprechenden vorbereitenden Gipfel in Göteborg im Juni 2001 und in Brüssel-Laken im Dezember 2001 mit ihrem Einfluss wirken.

Meine Damen und Herren! Mit zwölf weiteren Staaten und einer halben Milliarde Einwohner insgesamt müssen die Entscheidungsabläufe - das ist eine wichtige Voraussetzung - transparent und vernünftig gestaltbar sein.

Wenn man überprüft, wie lange der Zeitraum von Beginn an über ein entsprechendes Weissbuch, das die Euro

päische Kommission erarbeitet, um sich sachkundig zu machen, bis zur Vorlage eines Gesetzentwurfs dauert, kommt man zu dem Ergebnis, dass das bis zu vier Jahren dauern kann. Wenn der Rat dann nicht nur zwölf, sondern 26 Mitglieder hat und in manchen Fällen einstimmig abgestimmt werden soll - auch in Abstimmung mit dem Parlament und der Kommission, je nachdem, wie die Sachlage ist -, dann muss man sagen, dass das sehr problematisch ist, da auch die entsprechende Stimmengewichtung noch zu berücksichtigen ist, die sehr unterschiedlich gehandhabt werden kann.

Meine Damen und Herren! Angesichts dessen muss ich sagen, dass das mit den Entscheidungen problematisch ist. Dann ist das eine problematische institutionelle Entscheidungshoheit. Transparenz und Zügigkeit bleiben ebenso wie Rechtsklarheit und die entsprechende Rechtssicherheit auf der Strecke.

Sie werden deshalb unschwer unser Anliegen verstehen, dass die für die Osterweiterung notwendigen Voraussetzungen zwingend geschaffen werden müssen. Nicht umsonst wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Osterweiterung verschoben werden sollte. Man weiß nicht genau, welches Jahr das entscheidende sein wird. Die ständigen Verschiebungen haben neben vielen anderen Gründen auch hierin ihre Ursache.

Meine Damen und Herren! Deshalb haben wir diese Sachlage noch einmal stringent aufgegriffen und werden uns, weil das nicht entscheidend berücksichtigt werden konnte, der Stimme enthalten. - Vielen Dank.

Für die DVU-Fraktion hat die Abgeordnete Frau Brandt das Wort.

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Man kann über den Vertrag von Nizza denken, wie man will; der derzeitige Ratspräsident Chirac kann natürlich nur Gutes entdecken, was nicht verwundert, ist der Vertrag doch unter seiner Regie zustande gekommen. Während viele Politiker sich freuen, dass eine Erweiterung der EU jetzt möglich ist, sehen wir, die DVU, das doch mit einiger Besorgnis, vor allem dann, wenn der Beitritt von Ländern forciert werden soll, welche noch lange nicht die europäischen Normen erfüllt haben und diese in den nächsten Jahren auch nicht erfüllen können.

Als die DDR unter anderem aufgrund ihrer miserablen Wirtschaftsführung zusammengebrochen ist, hatten wir noch lange nicht die EU-Normen erreicht. Trotz aller Aufbauleistungen und Milliardentransfers aus den alten in die neuen Bundesländer müssen wir ehrlicherweise eingestehen, dass wir auch heute noch nicht so weit sind. 40 Jahre Misswirtschaft eines totalitären Regimes, welches noch nicht einmal das zu Unrecht Erworbene erhalten konnte, lassen sich eben nicht in zehn Jahren aufholen - mit einer roten Regierung schon gar nicht.

Würde man die EU zum jetzigen Zeitpunkt erweitern, würde man gegen den Willen aller europäischen Völker handeln und nur der Großindustrie entgegenkommen. Viele würden ihre Heimatländer verlassen und versuchen, uns das zu nehmen, was bei uns knapp ist, nämlich die Arbeit. Ist es nicht jetzt schon ein Hohn, dass unsere Hauptstadt mit einem Ausländeranteil von 28 % aufgebaut wird, während gleichzeitig 80 000 Berliner Bauarbeiter stempeln gehen müssen?

Eines hat sich in Nizza auch wieder herauskristallisiert, nämlich dass Deutschland kurz gehalten werden soll. Wir sollen auch weiterhin nicht mehr so viele Abgeordnete in das EU-Parlament schicken dürfen, wie es uns als bevölkerungsreichstes Land der EU zustehen würde. Bei den Finanzleistungen, welche wir nach Brüssel tätigen, sieht die Sache natürlich ganz anders aus. Das ist eine Diskriminierung Deutschlands.

Unsere Meinung ist: Man sollte erst einmal die jetzige EU-Wirtschaft festigen und auf ein annähernd gleiches Niveau bringen und die Erweiterungspläne ad acta legen. 66 % der deutschen Bevölkerung wollen keine Erweiterung, zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Es hat mit Demokratie wenig zu tun, wenn die Politiker das Gegenteil tun.

Meine Herren und Damen! Nächstes Jahr werden wir den Euro haben, und zwar gegen den Willen der Bevölkerung. Das wird sich auch in den Wahlergebnissen niederschlagen, ist doch der Euro lange nicht so stabil, wie es uns versprochen worden ist.

Die EU ist an sich wirtschaftlich stärker als die USA, tritt aber gegen diese Weltmacht nicht geballt auf. Die USA können es sich erlauben, den Umweltvertrag von Kyoto nicht zu erfüllen, weil sie gegenüber den Europäern wirtschaftlich im Vorteil bleiben wollen. In diesem Punkt wäre es angebracht, seitens der EU Druck auszuüben, natürlich keinen militärischen - Danke.

(Beifall bei der DVU)

Für die SPD-Fraktion spricht der Abgeordnete Herr Tögel.

Schönen Dank, Frau Präsidentin. - Für das Protokoll ganz kurz einen Satz zu unseren rechten Teilnehmern im Plenarsaal: Erstens ist die Anwesenheit bzw. die Mitarbeit der rechten Vertreter des Landtages im Wirtschaftsausschuss äußerst eingeschränkt. Zweitens reden sie überhaupt nicht zu diesen Themen, geschweige denn dass sie nachfragen. Insofern bin ich immer wieder verblüfft, was für große Reden hier geschwungen werden, ohne dass nur ansatzweise versucht wird, im Ausschuss mitzuarbeiten. Wie gesagt, das nur fürs Protokoll, damit das offiziell festgehalten wird.

(Beifall bei der SPD und bei der PDS - Herr Metke, SPD: Der derzeitige Ratspräsident heißt nicht Chirac!)

- Genau. Herr Metke hat mich eben darauf hingewiesen, ich hatte es mir auch schon aufgeschrieben. Manche sind ihrer Zeit voraus, andere sind ihrer Zeit in erheblichem Maße hinterher. Der derzeitige Ratspräsident ist Herr Göran Persson aus Schweden. Die Ratspräsidentschaft von Herrn Chirac ist Schnee vom letzten Jahr gewesen. Aber, wie gesagt, so viel auch nur fürs Protokoll.