Obwohl die Union mit der Erweiterung auf künftig 27 Mitgliedstaaten vor ihrer größten Herausforderung steht, scheiterte der große Wurf für ihre institutionelle Reform, wie bereits im Juni 1997 in Amsterdam, an kleinkariertem Besitzstandsdenken und am Standortnationalismus.
Der für die Erweiterung zuständige EU-Kommissar Günter Verheugen gestand in einem Interview mit der „Welt“ vom 18. Dezember 2000 offen ein, dass seit langem ausschließlich Machtfragen verhandelt worden seien, und zwar die, wie viel Einfluss der Nationalstaat noch auf die gemeinsame Beschlussfassung habe. Niemand dürfe sich daher wundern, wie hart die Interessen dabei aufeinander prallten.
Die institutionelle Reform sollte eigentlich der größte Umbau der Gemeinschaft seit Beginn der europäischen Integration sein. Im Kern ging es darum, die EU der 27 funktions-, entscheidungs- und handlungsfähig zu machen und die erheblichen Demokratiedefizite abzubauen. Deshalb hätten effektivere, demokratische und transparente Entscheidungsmechanismen für die gemeinschaftliche Politik geschaffen, alle so genannten Überbleibsel, die Left-overs von Amsterdam beseitigt werden müssen. Dabei handelt es sich um die Neugewichtung der Stimmen und die Ausweitung von Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit im Rat sowie um Größe, Zusammensetzung und Einsetzung der EU-Kommission.
Der neu vereinbarte Abstimmungsmechanismus im Ministerrat erwies sich als schwierigstes Problem, weil es um Macht, Einfluss und Geld in der künftig erweiterten Union geht. Deshalb wurde auch die Neugewichtung zwischen Groß und Klein, wie Außenminister Fischer freimütig bekannte, zugunsten der Großen hergestellt. Entscheidungen erfordern nunmehr eine dreifache Mehrheit von Stimmen, Staaten und Bevölkerung.
Die Presse kommentierte das neue Verfahren mit den Worten, man brauche nun Mathematiker, um festzustellen, wann im Ministerrat etwas entschieden sei. Durch die Einführung des demografischen Faktors soll sichergestellt sein, dass eine qualifizierte Mehrheit immer 62 % der EU-Bevölkerung - dies wird auch als demografisches Sicherheitsnetz bezeichnet - und die Mehrheit der Mitgliedstaaten erfordert.
Insgesamt ist dieses Verfahren weniger durchschaubar und deutlich schlechter als das alte Verfahren, weil Mehrheitsentscheidungen in einer erweiterten Union schwieriger, Blockaden durch eine Minderheit von Staaten hingegen künftig einfacher werden. Damit werden Gestaltungsmöglichkeiten wie in der umstrittenen europäischen Sozialpolitik weiter eingeschränkt. Bereits drei große Länder und ein kleines Land, zum Beispiel Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Malta, können einen Beschluss im Ministerrat verhindern, was die Schwelle für Sperrminoritäten deutlich absenkt. Die neue Stimmengewichtung soll ab 2005 gelten.
Die von der EU-Kommission eingebrachte doppelte Mehrheit bei der Stimmengewichtung war nicht durchsetzbar. Das heißt, eine Mehrheit von Staaten kann nur dann entscheiden, wenn sie gleichzeitig auch die Mehrheit der EU-Bevölkerung repräsentiert. Dies wäre transparenter und auch demokratischer gewesen, weil die Stimmen der Staaten gleichberechtigt blieben und die Mehrheit der Bevölkerung bei Entscheidungen, die alle Menschen in der EU betreffen, gesichert wäre.
Gegen eine solche Regelung wird eingewandt, dass dadurch die politische Parität zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland in Europa aufgegeben werde, weil Deutschland wegen seiner größeren Bevölkerungszahl ein größeres Stimmengewicht erhalte und damit in eine Vormachtstellung gebracht werde. Wegen der vergangenen deutschen Aggressionspolitik sei die Parität aber ein zu wahrendes Gut.
Dieser Einwand ist gewiss schwerwiegend und natürlich begründet. Es muss allerdings gefragt werden, was längerfristig mit der Unterstützung der europäischen Einigung in der Bundesrepublik geschehen könnte, wenn mehr als 20 Millionen Menschen auf Dauer unberücksichtigt bleiben. Die Akzeptanz der europäischen Einigung könnte kippen.
Tatsache ist, dass mit der neuen Stimmengewichtung Rolle und Einfluss der Bundesrepublik in der EU deutlich zunehmen. Das weckt große Befürchtungen in den Nachbarstaten, denen die Bundesregierung Rechnung tragen muss. Hinzu kommt, dass Deutschland als wirtschaftlicher und politischer Hauptprofiteur der EU-Osterweiterung angesehen wird.
Die dreifache Absicherung bei der Stimmengewichtung hätte es zumindest ermöglicht, Mehrheitsentscheidungen im Rat deutlich qualitativ auszuweiten und sie durch Mitbestimmung des Europäischen Parlaments demokratischer zu gestalten, um die Union der 27 handlungsfähig zu machen und den Ministerratsbeschlüssen fortan eine größere demokratische Legitimation zu geben.
Meine Damen und Herren! Es ist bereits erwähnt worden, dass der größte Verlierer von Nizza das Europaparlament ist. Es darf in Sachen gemeinsame Agrar-politik, Wirtschaft und Währungsunion, Wettbewerb und staatliche Beihilfen, wo bereits mit qualifizierter Mehrheit entschieden wird, auch weiterhin nicht mitbestimmen. Statt das Demokratiedefizit zu verringern, hat man es vergrößert. Weder die Befugnisse des Europaparlaments - dar
über gab es bei der Beschlussfassung zur qualifizierten Mehrheit nicht einmal eine Diskussion - noch die Rolle der nationalen Parlamente wurden in den europapolitischen Entscheidungsprozessen ausgeweitet.
Verändert bzw. bestimmt wurde die Sitzverteilung der EU-Mitgliedsstaaten und der Beitrittsländer. Die Obergrenze wurde auf 732 Sitze festgelegt. Gewinner ist die Bundesrepublik Deutschland, die als einziger großer Mitgliedsstaat ihre 99 Abgeordnetensitze behält. Die Sitzverteilung folgt keinem Prinzip, sondern war ein Adhoc-Ergebnis der Feilscherei bei der Stimmengewichtung im Rat.
Dem Grundsatz von Gleichheit und Demokratie widerspricht, dass Tschechien und Ungarn weniger Sitze erhalten als Länder mit einer geringeren Bevölkerungszahl. Das macht einmal mehr deutlich - das unterstreicht unsere Befürchtungen -, dass im Gegensatz zu anderen Beitrittsverhandlungen, etwa mit Dänemark, die Beitrittsverhandlungen mit Tschechien und Polen nicht dem Prinzip der gleichberechtigten Partner, sondern eher dem Prinzip folgen: Wir entscheiden, was ihr zu machen habt. Das zeigt sich dann auch bei dem Punkt der Stimmengewichtung im Europäischen Parlament. Das halten wir für sehr problematisch.
Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass dieser Gipfel nicht gerade die Lust auf Europa befördert hat, im Gegenteil. Aus diesem Grund muss unseres Erachtens der Vertrag von Nizza abgelehnt werden, nicht um die Erweiterung der EU zu verhindern oder zu verzögern, sondern um sie erfolgreicher gestalten zu können.
Die PDS tritt mit Nachdruck für die Osterweiterung der EU ein. Aber wer die Osterweiterung will, muss den Nizza-Vertrag ablehnen und ihn nachbessern.
Bis zum Abschluss der ersten Beitrittsverträge, was frühestens im Jahr 2002 erfolgen wird, sollte nachverhandelt werden. Im Übrigen beweist die PDS durch ihr Ja zur Grundrechtecharta, dass wir keine europafeindlichen Gesellen sind.
Ich bin der Meinung, wir sollten das, was Tilmann Tögel zum Thema Europaausschuss gesagt hat, bedenken. Die Abgeordneten der nächsten Legislaturperiode sollten inhaltlich begründet und untersetzt entscheiden, ob künftig wieder ein Europaausschuss notwendig sein wird. Ich halte ihn für notwendig, um dieses Thema stärker in den Mittelpunkt der Landespolitik zu stellen, da wir alle konkret von den Auswirkungen betroffen sind.
Ich plädiere im Namen meiner Fraktion für die Überweisung beider Anträge in den Ausschuss. - Vielen Dank.
Danke sehr. - Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Brandt für die Fraktion der DVU-FL. Bitte, Frau Brandt.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Wenn die Fraktion der SPD den Landtag mit diesem Antrag auffordert, die Ergebnisse der EU-Regierungskonferenz von Nizza zu würdigen, und im gleichen Atemzug schonungslos die Mängel der Konferenz aufzeigt, dann müssen Sie von der SPD sich fragen lassen: Was soll das? Wie können Sie in diesem Hause behaupten, dass die
geänderte Stimmengewichtung im Rat trotz der größeren Einwohnerzahl der Bundesrepublik gegenüber anderen EU-Ländern für uns günstiger als bisher zu werten sei?
In unserer Republik leben 82 Millionen Bürger. Wir haben 29 Stimmen im Ministerrat und verfügen somit über genauso viele Stimmen wie Frankreich und Großbritannien, die beide jeweils ca. 59 Millionen Einwohner haben, oder Italien mit fast 58 Millionen Einwohnern. Übrigens hat unser Nachbar Österreich mit seinen acht Millionen Staatsbürgern zehn Stimmen im Ministerrat.
Meine Herren und Damen von der SPD! Die Proklamation der Charta der Grundrechte der EU verstärkt auch nicht den Grundrechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger, denn eine Rechtsverbindlichkeit konnte nicht vereinbart werden. Möglicherweise soll erst eine für das Jahr 2004 einzuberufende Regierungskonferenz diese Frage behandeln.
Wir fragen uns, mit welchem Ergebnis die Herren Schröder und Fischer nun aus Nizza nach Hause gekommen sind. Die deutsche Regierungsmannschaft hat die europäische Kommandobrücke Nizza ohne ein einziges positives Ergebnis verlassen. Die Titanic Europa hat den schützenden Hafen verlassen, das Ziel: ein vereinheitlichtes Europa. Das blaue Band „vereinigtes Europa“ kann nicht erreicht werden, weil man in dem Luxusliner Europa keine Schotten eingebaut hat.
Der Euro als Bordwährung ist in ein tiefes Loch gefallen und kann auch nicht durch Stützungskäufe gerettet werden; denn die Kapitäne der Titanic Europa haben keine Haftpflichtversicherung bezahlt. Eine alte Weisheit - viele Köche verderben den Brei - bewahrheitet sich damit erneut.
Für die große Reise ins vereinte Europa muss die Mannschaft BSE-verseuchtes Rindfleisch bunkern, weil man den mitreisenden Briten Zugeständnisse machen musste und Sanktionen vorzeitig aufhob. Die Bordseuche wird nun wohl BSEU heißen müssen. Übrigens reisen die Briten in der ersten Klasse mit. Sie logieren in der Nähe der Rettungsboote.
Auch auf Chartergäste ist man eingestellt. Man hat in Nizza die Weichen für die Osterweiterung der EU gestellt. Der Arbeitsmarkt in Europa wird mit Arbeitskräften aus baltischen Ländern überschwemmt werden. 80 % dieser Menschen werden versuchen, in Mitteleuropa Fuß zu fassen. Nun frage ich Sie: Wie sollen all diese Menschen versorgt werden? Fragen Sie bitte integrierte ausländische Mitbürger in unserem Land, wie diese darüber denken. Fragen Sie vielleicht doch einmal den deutschen Wähler. Lassen Sie diesen durch einen Volksentscheid entscheiden.
Ein einiges Europa wäre natürlich keine schlechte Möglichkeit dafür, Freundschaft und Frieden zwischen den Völkern zu pflegen; denn man darf nicht vergessen, dass in diesem Europa viele Nationen leben. Die verschiedenen Kulturen brauchen aber ihre individuellen Bereiche, brauchen ihre eigene Identität.
Zwischen den Ländern muss es aber auch Brandschutztüren geben oder für die Titanic Europa funktio-nierende Schotten, damit es unter den Völkern keinen Flächenbrand gibt, den man nicht aufhalten kann. Ich möchte nur an die Streitigkeiten zwischen den Türken und den Griechen sowie an den Krieg im Vielvölkerstaat Jugoslawien erinnern.
Der Versuch der Kommunisten, ein kommunistisches europäisches Großreich zu schaffen, ist fehlgeschlagen. Kommunistischer Internationalismus war eine Utopie. In Zeiten ihrer Macht haben sie in einigen Ländern der ehemaligen westlichen Allianz Europas nicht wenige militante linksorientierte Gruppen - auch in der Bundesrepublik - finanziell und ideologisch unterstützt, sie oft sogar ausgebildet. In einigen Fällen haben sie Topterroristen auch beherbergt. Die kommunistischen Diktaturen gibt es nicht mehr, aber die damaligen Handlanger in Westeuropa - sie waren damals junge Leute, oft Studenten -, sie sind noch da. Sie leben unter uns. Einige verbüßen lange Haftstrafen, einige werden gegenwärtig für ihre Verbrechen noch verurteilt.
Es gibt in Deutschland aber auch ehemalige Mitstreiter dieser militanten linksorientierten Chaoten, die sich in der Bundesrepublik an höchster Stelle befinden. Der amtierende Bundesaußenminister gehörte damals zu den aktiven militanten Linken in der Bundesrepublik, gab sich später gemäßigter, wurde aktiver Grüner, vertauschte Turnschuhe und Motorradhelm mit dem Nadelstreifenanzug und wurde erster deutscher Kriegsaußen-minister nach dem Zweiten Weltkrieg und einer der Kapitäne der Titanic Europa.
Wir von der Fraktion der Deutschen Volksunion-FL fragen uns: Wohin schippern wir mit dieser rot-grünen Bundesregierung, die die volle Unterstützung unserer von Stalins Erben in der PDS unterstützten roten Landesregierung hat? Dem Antrag der SPD-Fraktion können wir natürlich nicht zustimmen. - Ich bedanke mich trotzdem.
Danke sehr. - Die Debatte wird abgeschlossen mit dem Beitrag des Abgeordneten Herrn Tögel. Bitte, Herr Tögel, Sie haben das Wort.
Es gibt viel zu tun, sehr viel - auf europäischer Ebene, aber vor allem hier im Landtag. Es ist wirklich die Frage, packen wir es an oder lassen wir es sein. Manchmal frage ich mich nach einer solchen Diskussion, ob es überhaupt Sinn und Zweck hat, noch einmal intensiver darüber zu debattieren. Die Diskussion ist teilweise von Ignoranz bis hin zu Unkenntnis geprägt.
Aber wir sollten die Chance nutzen, meine Damen und Herren, im Ausschuss noch einmal den Versuch zu unternehmen, an der einen oder anderen Stelle zumindest eine gewisse Aufklärungsarbeit zu betreiben. Das betrifft die technischen Details, die im Vertrag von Nizza festgelegt sind, bis hin zu inhaltlichen Fragen.
Wenn ich die unterschiedlichen Äußerungen zur Osterweiterung und zu dem Vertrag von Nizza höre, fällt mir ein, dass ich im Staatsbürgerkundeunterricht gelernt habe, dass es antagonistische Widersprüche gibt.
Man kann nicht so blauäugig sein zu erwarten, dass Nachbesserungen zu diesem Vertrag nach diesen schwierigen Verhandlungen noch möglich sind.
(Frau Brandt, DVU-FL: Ich habe keine blauen Augen! - Herr Gürth, CDU, meldet sich zu einer Zwischenfrage)
Wenn sie nicht möglich sind, muss man dem Vertrag von Nizza zustimmen, sonst setzt man die Osterweiterung aufs Spiel. Es wird keine Osterweiterung geben, wenn man gegen den Vertrag von Nizza ist.