Protocol of the Session on January 26, 2001

Nach näherer Auswertung muss leider gesagt werden: Das Reformwerk ist nicht gelungen. Gemessen an den Ansprüchen liegt ein Reförmchen vor.

(Zustimmung bei der CDU)

Nationale Interessen wurden nicht, und wenn doch, dann nur zaghaft geopfert. Eine Annäherung an ein zwingend gebotenes Gleichgewicht von Kommission, Rat und Parlament erfolgte nur scheibchenweise und unzureichend.

(Zustimmung bei der CDU)

In den Medien, Parlamenten, Ländern, Parteien und in der Öffentlichkeit werden daher die erreichten Ergebnisse sehr unterschiedlich bewertet. Die wesentliche Einschätzung lautet: Eine einmalige Chance wurde vertan. Nur der kleinste gemeinsame Nenner der Umwidmung von nationalen Einzelinteressen wurde umgesetzt. Das ist, meine ich, zu wenig. Schon jetzt ist „nach der Reform“ gleichbedeutend mit „vor der Reform“, da der Post-Nizza-Prozess bereits eingeläutet wurde.

Wir fordern: Der zwingende Nachfolgeprozess muss noch vor dem Jahr 2004 enden und schon im Juni 2001 in Göteborg mit seinem vorzeitigen Beginn markiert werden. Die damit zu verfolgenden umfänglichen Nachbesserungen, wie weiterer Übergang zur Mehrheitsabstimmung im Rat, vereinfachte Verfahren für eine qualifizierte Mehrheit, Gewaltenteilung, Reform des Rats, Kompetenzabgrenzungen, europäische Verteidigung und einiges andere, sind unverzichtbar.

In diesem Zusammenhang begrüßen wir die Erklärung zur Zukunft der Union. Diese Erklärung hebt sich ebenso positiv vom Nizza-Gesamtrahmen ab wie die Proklamation der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die die entsprechenden Repräsentanten der Europäischen Union in Nizza feierlich unterzeichneten. Diese Charta ist ein wichtiger Baustein für den Verfassungsvertrag, der nach weiterer eingehender Diskussion in das europäische Vertragswerk einzubinden ist.

Ich meine, sie ist auch ein Beleg dafür, wie man auf der europäischen Ebene Lösungen für komplizierte, komplexe Probleme finden kann. Dies ist weniger über neue Regierungskonferenzen möglich, auf denen man sich gegenseitig blockiert, als vielmehr über Konvente,

(Zustimmung von Herrn Dr. Bergner, CDU)

mit welchen das Parlament, die Kommission und die Regierungen mit berufenen Bürgern gemeinsam eine Lösung suchen, wie es Roman Herzog aufgezeigt hat. Ich würde mich freuen, wenn sich unsere Landesregierung dafür einsetzen würde. - Herr Ministerpräsident, auch wenn Sie dadurch jetzt beim Zeitunglesen gestört werden, ich bitte Sie darum.

(Heiterkeit und Zustimmung bei der CDU)

Meine Damen und Herren! Wenn unzureichende Ergebnisse vorliegen, dann hat das seine Ursachen. Zurzeit fehlt das richtige Zugpferd für Europa. Oder anders ausgedrückt: Europa ist zurzeit ohne politische Führung. Früher waren Deutschland und Frankreich die Antriebsmotoren. Adenauer und Charles de Gaulle, Kohl und

Mitterrand, aber auch Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing waren die politischen Gestalter.

Frankreich befürchtet offenbar eine übermächtige Rolle Deutschlands in Europa und glaubt, dass eine Osterweiterung diese stärken würde. Unsere Aufgabe muss es sein, an dieser Stelle gegenzusteuern und das deutsch-französische Verhältnis und das gegenseitige Vertrauen zu verbessern und wieder als europäischen Motor aufzubauen.

Wie kann aber ein Bundeskanzler Schröder, meine Damen und Herren, im Bundestag bereits vor den Abschlussberatungen in Nizza lauthals den deutschen Anspruch auf höhere Stimmenanteile gegenüber Frankreich bekräftigen? Es ist kein Wunder, dass das nicht nur nicht erreicht wurde und dass die Franzosen alle deutschen Ambitionen mit Skepsis verfolgten. Die Folge und das Ergebnis sind Ihnen bekannt, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung von Herrn Wiechmann, FDVP)

Hierin zeigt sich eindeutig ein politisches Versäumnis. Das ist eine Folge der missglückten und unzureichenden Vorbereitungen. Das war leider ebenso auf der vorherigen Berliner Regierungskonferenz zu beobachten. Kein Geringerer als der ehemalige SPD-Vorsitzende Lafontaine wies darauf hin - - Sie gestatten, dass ich das zitiere. Lesen Sie in seinem Buch „Mein Herz schlägt links“ auf den Seiten 183 und 184 nach und Sie werden darin Folgendes finden:

„Gerhard Schröder hatte erkennbare Schwierigkeiten, dazu beizutragen, dass sich das deutschfranzösische Verhältnis verbesserte.“

(Herr Dr. Daehre, CDU: Hört, hört!)

„Die Vorbereitung des Berliner Gipfels ist ein Lehrbeispiel dafür, wie man es in Europa nicht machen soll. Die EU-Ratspräsidentschaft von Gerhard Schröder endet, wie sie begonnen hat: mit großen Sprüchen. Die angekündigten Erfolge blieben aus.“

(Beifall bei der CDU)

Wer soll es besser beurteilen als einer, der unmittelbar mit ihm zusammenarbeitete? Meine Damen und Herren! Ich sage nur: Wie sich doch die Bilder gleichen.

Nun möchte ich auf einige der Ergebnisse zu sprechen kommen. Ich ziehe zunächst eine positive Bilanz, wenn auch im Bonsaiformat: In mehr als 20 Fällen kann mit Stimmenmehrheit entschieden werden. Es gibt wesentliche Erleichterungen in der verstärkten Zusammenarbeit der europäischen Staaten. Eine Stärkung der Zusammensetzung und der inneren Struktur der Kommission wurde vorbereitet. Eine Verlagerung von Kompetenzen in der Außen- und Sicherheitspolitik von den Ländern nach Brüssel - das ist bedeutungsvoll -, eine grundlegende Reform des europäischen Gerichtssystems, eine gewisse Ausweitung der Rechte des Europäischen Parlaments, das Recht des Parlaments auf Mitentscheidung - allerdings in nur sechs Fällen - konnten erreicht werden. Eine stärkere Berücksichtigung der Bevölkerungszahl bei der Stimmengewichtung im Rat und das Mandat für eine weitere Reform der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union liegen nunmehr vor, meine Damen und Herren.

Überdeckt wird dieses Ergebnis allerdings durch offene Probleme, sogar Rückschritte, wie inzwischen erkennbar

wurde. Einige Probleme wurden bereits in den vielen gestellten Fragen deutlich. Ich gehe trotzdem noch einmal darauf ein, damit man den roten Faden behält.

Es gibt nunmehr eine gravierende Erschwerung des Zustandekommens einer qualifizierten Mehrheit im Rat. Immerhin, meine Damen und Herren, ist eine dreifache Mehrheit notwendig. Es ist nicht so, wie es der Ministerpräsident sagte; denn es geht nicht nur um Zahlen. Es geht vielmehr um die Transparenz der Entscheidungen, um den Einstimmigkeitszwang in mehr als 70 Fallgruppen sowie um die Diskriminierung von Beitrittsländern - die Länder Tschechien, Ungarn und Malta sind in diesem Zusammenhang schon genannt worden - bei der Sitzverteilung im Europäischen Parlament.

Das Land Ungarn zum Beispiel, das uns sehr nahe steht, hat eine größere Bevölkerungszahl als das Land Portugal, hat jedoch zwei Sitze weniger erhalten. Übrigens versuchte man, mit Polen ähnlich zu verfahren. Gott sei Dank konnte das verhindert werden. Das ist - das meine ich jedenfalls - böser Wille der Regie und kein Tippfehler.

(Oh! bei der SPD)

Dies bedeutet, dem Europäischen Parlament wird das Recht auf Mitentscheidung in zahlreichen Fällen verweigert, selbst in Bereichen, in denen der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet. Die Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit in Bezug auf - das ist entscheidend - die Struktur- und die Kohäsionsfonds erfolgen faktisch erst ab 2014. - Herr Ministerpräsident, das ist die Zukunft, die Sie vorhin meinten. Unter Helmut Kohl wäre das - das behaupte ich - garantiert nicht passiert.

(Beifall bei der CDU)

An dieser Stelle müssen wir das von Bundeskanzler Schröder erzielte Verhandlungsergebnis besonders kritisch hinterfragen; denn damit werden unsere Steuerzahler im nächsten Jahrzehnt wiederum übermäßig zur Kasse gebeten werden müssen. Auf weitere unzureichende Ergebnisse der Konferenz will ich nicht ein- gehen.

Meine Damen und Herren! Unter Berücksichtigung der Punkte, die ich soeben vorgetragen habe, haben wir unseren Änderungsantrag erarbeitet. Unsere Änderungen und Ergänzungen zum vorliegenden SPD-Antrag sind nicht nur logisch, sondern auch berechtigt und notwendig.

Wir können die Ergebnisse von Nizza trotz der überstürzten und harten Nachtarbeit nicht würdigen und begrüßen, wie es die SPD formulierte.

Unter Punkt 2 Absatz 2 Ihres Antrages, unter dem auf die Stärkung der demokratischen Legitimation hingewiesen wird, muss auf die unzureichenden Fortschritte hingewiesen werden. Dass diese Fortschritte unzureichend sind, wird übrigens von allen souveränen Beobachtern nicht infrage gestellt.

Trotz der unbefriedigenden Ergebnisse der Konferenz denken wir nicht, dass die zentralen Herausforderungen in Bezug auf die Handlungsfähigkeit, die Legitimation und die Gewaltenteilung durch die Verweigerung der Ratifikation des Vertrages besser bewältigt werden können. Insofern stimmen wir Punkt 3 des SPD-Antrags zu.

Aber wir binden dies an die Forderung an die Landesregierung, sich dafür einzusetzen, dass die nächste Reform bereits im Jahr 2001 eingeleitet wird. In diesem Zusammenhang fordern wir die Landesregierung auf, im

Ausschuss für Wirtschaft, Technologie und Europaangelegenheiten unter Angabe ihrer Position vierteljährlich über den Fortgang der Reformen zu berichten.

Meine Damen und Herren! Ich komme zum Schluss. Diese Einschätzungen können wir im Ausschuss für Wirtschaft, Technologie und Europaangelegenheiten gemeinsam mit der Landesregierung diskutieren und bewerten. Im Ergebnis könnte - so hoffe und erwarte ich - im Rahmen unserer Möglichkeiten eine Zustimmung zu der nationalen Ratifizierung empfohlen werden.

Für den Fall, dass Sie unserem Antrag nicht zustimmen sollten, bitte ich um die Überweisung beider Anträge in den Ausschuss. - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der DVU- FL)

Danke sehr. - Meine Damen und Herren! Auf der Tribüne haben neue Gäste Platz genommen. Ich begrüße Schülerinnen und Schüler des Walther-Rathenau-Gymnasiums in Bitterfeld. Das ist das Gymnasium, an dem auch ich mein Abitur gemacht habe.

(Beifall im ganzen Hause)

Die Debatte wird mit dem Beitrag des Abgeordneten Herrn Gärtner fortgesetzt. Bitte, Herr Gärtner, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der uns heute zur Beratung vorliegende Antrag bietet eine Möglichkeit, um die Ergebnisse der EURegierungskonferenz zu diskutieren und zu bewerten. Eines möchte ich voranstellen: Die insgesamt positive Bewertung, die im Antrag vorgenommen worden ist, wird von der PDS nicht geteilt. Ich komme im Einzelnen noch dazu.

Meine Damen und Herren! Es gab in der Geschichte der europäischen Integration noch keine Ratstagung der Staats- und Regierungschefs, bei deren Bewertung als Fehlschlag sich Experten und Kommentatoren so einig waren, wie es nach dem Gipfel von Nizza Anfang Dezember des vergangenen Jahres der Fall ist. Vielleicht wird dieser Gipfel als der große Schacher hinter verschlossen Türen an der ansonsten weltoffenen franzö- sischen Côte d'Azur in die EU-Annalen eingehen.

Katastrophe, Unverschämtheit, Willkür, fauler Kompromiss, Ziel verfehlt und Triumph nationaler Interessen - dies waren die am häufigsten benutzten Vokabeln zur Bewertung seiner Ergebnisse. In einer ersten Reaktion erklärte auch die Mehrheit der Europaparlamentarierinnen und -parlamentarier, dass der wie auf einem orientalischen Basar ausgehandelte Vertrag kaum zustimmungsfähig sei, ja, er verdiene die rote Karte. Die Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union als das Hauptanliegen des Treffens auf höchster Ebene sei von den EU-Staats- und Regierungschefs lediglich erklärt, aber nicht tatsächlich hergestellt worden, hieß es.

Doch zumindest einen Gewinner von Nizza gibt es, und zwar Bayerns Ministerpräsidenten Stoiber. Die „FAZ“ vom 13. Dezember 2000 titelte, er sei mit dem Gipfel fast zufriedener als der Bundeskanzler, weil die Richtung stimme.

In der Tat zielt sie auf Renationalisierung und passt damit in Stoibers Europakonzept. Seine Vorstellungen von der EU sind bekanntlich auf eine Freihandelszone mit bloßen ordnungspolitischen Funktionen, vor allem in der Innen- und Rechtspolitik, auf eine Vereinheitlichung der Standards im Ausländer- und Asylrecht nach unten und auf die Rückübertragung von bereits vergemeinschafteten Politikfeldern auf die Nationalstaaten gerichtet. Exakt dahin möchten Stoiber und andere den mit der schwe-dischen Ratspräsidentschaft im Januar dieses Jahres begonnenen Post-Nizza-Prozess treiben.

Meine Damen und Herren! Was scheiterte weshalb in Nizza? - Im Zentrum des Gipfels stand neben Entscheidungen zur europäischen Beschäftigungspolitik, neben der Verabschiedung einer unseres Erachtens inakzeptablen Sozialagenda, neben dem gefahrvollen und zugleich unsinnigen Einstieg in eine Militärmacht mit europäischen Eingreiftruppen und neben anderen Fragen die institutionelle Reform der Union als Voraussetzung für die baldige Aufnahme der mittel-, ost- und südeuropäischen Beitrittsländer.

Während die EU diesen Staaten seit Jahren ein Höchstmaß der Anpassung an wirtschaftliche, finanzielle, rechtliche und andere EU-Standards - oft mit Brachialgewalt und ohne Rücksichtnahme auf dortige soziale Verhältnisse - abverlangt, hat sie es in Nizza nicht vermocht, sich selbst für die Erweiterung und überdies für Anforderungen wie zum Beispiel jene, die mit der endgültigen Etablierung des Euros im nächsten Jahr verbunden sind, fit zu machen.

Obwohl die Union mit der Erweiterung auf künftig 27 Mitgliedstaaten vor ihrer größten Herausforderung steht, scheiterte der große Wurf für ihre institutionelle Reform, wie bereits im Juni 1997 in Amsterdam, an kleinkariertem Besitzstandsdenken und am Standortnationalismus.