Auch ein bestimmter Wettbewerb zwischen den Kassen hat einen Sinn. Zum Beispiel dämpft dieser die internen Verwaltungskosten und vielleicht auch die Ausgaben für Neubauten und eigene Gebäude. Wenn Sie in eine fremde Stadt kommen und Sie sehen ein großes gläsernes Hochhaus, dann ist das meistens eine Versicherungskasse.
Es gibt also Gründe, weshalb man einen bestimmten Wettbewerb zulassen sollte. Dieser muss allerdings geordnet werden. Ich wiederhole gern, was ich an anderer Stelle schon gesagt habe: Der Sozialbereich ist nicht der Bereich, in dem man alle Probleme durch freien Wettbewerb lösen kann. Dort bedarf es der ordnenden Funktion des Staates.
Aber ich sage auch, es gab viele, viele andere Gründe. Ich habe nur Zahlen von der AOK Sachsen-Anhalt bekommen. Sie hatte im Mittel des Jahres 1999 mehr als 555 Millionen DM an Defiziten zu verzeichnen. Sie war damit nicht die am meisten verschuldete Krankenkasse, aber nur Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern hatten höhere Außenstände und Schulden. Die Krankenkassen der anderen Bundesländer standen besser da. Die AOK Sachsen zum Beispiel hat bisher in keinem der Jahre Defizite ausgewiesen.
Zu diesem Problem hat auch die Bundesregierung ihren Beitrag geleistet. Die letzte Bundesregierung hat sich, wie Sie schon erwähnt hatten, mit dem ersten und zweiten NOG und den anderen Gesetzen eine erheb-liche Bürde aufgeladen, um die Finanzsituation der gesetzlichen Krankenkassen einigermaßen auszugleichen. Sie und auch wir haben in diesem Plenum dagegen laut und deutlich polemisiert, und Sie haben damit eine Wahl gewonnen. Das muss ich ganz deutlich sagen. Das muss man auch respektieren.
Was haben Sie gemacht? Sie haben zuallererst das getan, was Sie versprochen haben. Mit dem Solidaritätsstärkungsgesetz haben Sie einen Teil der Zuzahlungen zurückgenommen. Allein für die AOK Sachsen-An-halt
Als der Bundesfinanzminister Schwierigkeiten hatte, seinen Haushalt zusammenzubekommen, und jedes Ressort einen Anteil beisteuern musste, auch das Bundessozialministerium, da hat der Bundessozialminister die Bemessungsgrundlage der GKV für die Beitragsberechnung der Leistungsempfänger nach dem Arbeitsförderungsgesetz von 100 % auf 80 % reduziert. Dadurch hat er in seinem Haushaltsplan ca. 4 Milliarden DM eingespart, die er nicht nach Nürnberg überweisen musste. Diese Maßnahme hat aber für alle Krankenkassen ein Einnahmedefizit gebracht.
Es wurde versucht, diese Defizite mit der Versicherungspflicht für die 630-DM-Arbeitsverhältnisse auszugleichen. Ich habe aber keine Zahl gefunden, wie weit das Defizit ausgeglichen wurde.
Die AOK Sachsen-Anhalt hat noch im April dieses Jahres mitgeteilt - das ist auch Ihnen zugegangen -, dass sie allein aufgrund dieser gesetzlichen Maßnahmen Mindereinnahmen von mehr als 100 Millionen DM hatte. Das ist schon ein erhebliches Defizit.
Dazu kommen die Wanderungsverluste bei den Versicherten, die Frau Krause bereits beschrieben hat. Dazu kommt aber auch die Arbeitsmarktsituation im Lande. Dass wir die höchste Arbeitslosigkeit haben und demzufolge weniger in die Versicherungskassen kommt, muss zumindest auch einmal gesagt werden.
Jeder neunte sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer in Sachsen-Anhalt ist ein Auspendler. Die Zahl der Auspendler - das sind diejenigen, die in Sachsen-Anhalt wohnen und außerhalb Sachsen-Anhalts Arbeit gefunden haben - ist um mehr als 50 000 größer als die Zahl der Einpendler. Da fehlt natürlich Geld in den Versicherungskassen.
Die Zahl der Rentner ist bei uns unverhältnismäßig hoch. Auch das hängt mit den Entwicklungen zusammen, die Sie kennen. Die AOK-Ost - damit ist nicht nur Sachsen-Anhalt gemeint - hat einen Rentneranteil von 48,4 % gegenüber der AOK-West mit 35,9 %. Der Anteil der Härtefälle, das heißt derjenigen, die nicht zuzahlungspflichtig sind, beträgt bei der AOK-Ost 63,8 % gegenüber zum Beispiel 3,4 % bei den Betriebskrankenkassen, von denen Sie gesprochen hatten. Diese Unterschiede muss man berücksichtigen.
Wir müssen auch an die hohe Zahl von Insolvenzen denken; denn jeder weiß, dass die Ersten, die sich melden und Insolvenzanträge veranlassen, zumeist die Versicherungskassen sind, weil sie endlich zu ihrem Geld kommen wollen. Das ist doch die wirtschaftliche Situation im Lande, die dazu geführt hat und dazu führt, dass die Versicherungskassen bei uns unterfinanziert sind und erhebliche Probleme haben.
Zu den steigenden Ausgaben - Frau Ministerin Kuppe, ich kenne die Zahlen, die Sie auch erwähnt haben - will ich nur eines ganz deutlich sagen: Wenn Sie Ungleiches vergleichen, dann müssen Sie mit der Interpretation dieser Zahlen sehr vorsichtig sein. Wenn wir bei uns einen fast doppelt so hohen Rentneranteil haben, wenn wir bei uns einen viel höheren Anteil an Härtefällen haben, die nicht zuzahlen müssen, dabei jedoch nur die Geldwerte vergleichen und nichts anderes, dann müssen wir natürlich zu ganz anderen Ausgaben pro Versicherten kommen als in den alten Bundesländern
und dann soll man das auch den Leuten, die Rezepte unterschreiben, nicht unentwegt vorwerfen. Mit nichts kann man so wunderbar lügen wie mit Statistiken, die man durchschaut.
Herr Präsident, ich weiß, dass das Ihre Pflicht ist, und komme zum Schluss. Darf ich vielleicht noch eines sagen? Denn ich möchte gern den Herrn Ministerpräsidenten, der heute da ist, auch einmal lobend zitieren.
(Herr Oleikiewitz, SPD: Dann dürfen Sie fünf Mi- nuten weiterreden! - Zurufe von Herrn Sachse, SPD, und von Herrn Kühn, SPD)
Das darf man doch noch machen, obwohl die Zeit fast vorbei ist. Wir werden danach über die Probleme der Rentenversicherung sprechen, die eine ähnliche Entwicklung gehabt haben. Der Herr Ministerpräsident hat in einem Interview dazu etwas gesagt, was ich mir abgeschrieben habe:
Wir haben uns ein paar Fehler zu viel geleistet. Als Norbert Blüm eine neue Rentenreform vorlegte, haben wir von Rentenkürzungen gesprochen, obwohl das Modell nur die Steigerungsrate verringern sollte. Wir haben an dieser Stelle absichtsvoll ungenau gesprochen. Das fällt uns jetzt auf die Füße usw.
Alles das, meine Damen und Herren, was wir auch hier in den letzten Jahren zur gesetzlichen Krankenversicherung diskutiert haben, war mindestens genauso absichtsvoll undeutlich. Das könnte uns in den nächsten Jahren noch sehr auf die Füße fallen, uns gemeinsam.
Einen Augenblick, Herr Professor Böhmer, - ich bin zu spät darauf aufmerksam gemacht worden - Frau Krause hat eine Frage. Sind Sie bereit zu antworten?
Herr Professor Böhmer, ich stimme Ihrer Gesamtanalyse zur finanziellen Situation der Krankenkassen zu. Mir und uns war auch klar, dass das nur ein Teilproblem ist. Würden Sie mir dennoch darin zustimmen, dass gerade
aufgrund dieser komplizierten finanziellen Gesamtsituation der Kassen in Sachsen-Anhalt, vor allem der Primärkassen und der Ersatzkassen, versucht werden sollte, dieses Teilproblem mit einer Übergangslösung zumindest jetzt abzumildern, damit nicht die Dinge gänzlich wegbrechen, die wir im zweiten Halbjahr 2001 oder später, wenn der Diskussionsprozess dazu erst in Gang gekommen sein wird, nicht mehr wieder zurückholen können, zum Beispiel das Solidarprinzip, zum Beispiel annähernd gleiche finanzielle Situationen usw.? Das wäre meine Frage: Würden Sie dem zustimmen, dass eine möglichst zeitnahe Übergangslösung oder Übergangsentscheidung jetzt notwendig wäre?
Wenn Sie mit dem Teilproblem das von Ihnen vorgetragene Problem der Fluktuation in virtuelle Betriebskrankenkassen meinen, dann will ich Ihnen teilweise zustimmen. Dies ist ein Problem, das bundesweit geregelt werden muss. Wir können nicht sagen: Weil es uns in Sachsen-Anhalt besonders schlecht geht, muss es für uns eine Insellösung geben. Das haben Sie vermutlich auch nicht gemeint. Aber dass der Bundesgesetzgeber hierfür Ordnungsbedarf hat, darin stimme ich Ihnen zu.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aktuelle Debatte zur Situation der Krankenkassen in SachsenAnhalt, der gesetzlichen Krankenversicherungen wohlgemerkt, ist sicherlich wichtig. Allerdings müssen wir uns fragen, ob es ausreicht, darüber zu debattieren, oder ob wir nicht besser handeln müssten, wobei sich wiederum die Frage anschließt, ob und wo es für uns als Land Handlungsspielraum gibt bei konkret dieser akut brennenden Thematik in einem insgesamt bekanntermaßen wohl bereits chronisch kranken Gesundheitswesen.
Meine Vorrednerinnen haben die wesentlichen Fragen bereits angesprochen und uns in unserem Verständnis bezüglich dessen bestätigt, was die Einbringer der Debatte wohl konkret hinter diesem Thema versteckt haben könnten: das Problem mit den Betriebskrankenkassen in allererster Linie. Ich will mich in der Kürze der Zeit auf dieses Thema der Betriebskrankenkassen konzentrieren. Es wird sich manche Wiederholung nicht vermeiden lassen, aber ich möchte es ausdrücklich auch namens der SPD-Fraktion artikuliert haben.
Meine Damen und Herren! Die seit Jahren anhaltenden Angriffe auf unsere solidarischen Versicherungssysteme, und das nicht nur in der gesetzlichen Krankenversicherung, kommen offensichtlich in einem neuen Gewand daher. Es ist eine neue und raffinierte Art von Entsolidarisierungsversuch, nämlich zwischen den verschiedenen gesetzlichen Krankenkassen, indem sich neu gründende Betriebs-, möglicherweise auch einige Innungskrankenkassen, marktwirtschaftlich eigentlich völlig sauber agierend, mit niedrigsten Beitragssätzen junge, dynamische und leistungsfähige, also selten mal kranke Arbeitnehmer, wie schon gesagt, in ihre Versicherungen locken.
Diese auch schon als Schein- oder als - das Wort fiel vorhin schon - virtuelle Krankenkassen bezeichneten neuen BKK, die sich relativ beliebig neu gründen können, andererseits aber nicht dem im Jahr 1992 festgeschrie
benen Kontrahierungszwang zur ständigen Aufnahme jedes neuen Bewerbers unterworfen sind wie die anderen Krankenkassen, wählen ihre Mitglieder oft mit, wie gesagt, raffinierter, aber gesetzlich zulässiger Taktik nach möglichst geringem Krankheitsrisiko aus. Es gibt die Bemerkung: Sie machen Jagd auf Gesunde.
Es ist unseres Erachtens eine gravierende Wettbewerbsverzerrung - auch das wurde schon gesagt - zwischen den gesetzlichen Krankenkassen vorhanden, die offensichtlich auch durch den Risikostrukturausgleich bzw., wie bei einigen Kassenarten im Sinne von Solidarität zusätzlich praktiziert, durch einen kassenarteninternen Finanzausgleich nicht kompensiert wird.
Am meisten beunruhigen muss uns, meine Damen und Herren, dass durch diese Risikoentmischung innerhalb der GKV, einem modernen Raubrittertum in der heutigen Gesundheitsfinanzierung gleichkommend, bei dem letztlich Alte, Schwache, Behinderte und chronisch Kranke durch drohende höhere Beiträge in ihren Krankenkassen auf der Strecke bleiben, wiederum die Ostkrankenkassen und damit das ohnehin in äußerster Bedrängnis befindliche östliche Gesundheitswesen am meisten betroffen ist.
Nach Angaben von AOK, Ersatzkassen und anderen nimmt das bereits dramatische Züge an. Es wurden bereits einige Zahlen genannt. Denn es gingen dem Land aufgrund der Abwanderung günstiger Versicherungsrisiken in den letzten Jahren bereits zig Millionen an Beiträgen - bisher haben wir über Zahlen der Abwanderung gesprochen, aber in Geld ausgedrückt sind es zig Millionen - verloren und zusätzlich den Kassenärztlichen Vereinigungen der Ost-Länder die dazu gehörenden bereits erwähnten Kopfpauschalen. Das ist übrigens ein wesentlicher Grund zum Beispiel dafür, dass die Ärzte nun auch, und ein Stück, meine ich, auch berechtigt, auf die Straße gehen.
Es muss angemerkt werden, dass dem Versicherten selbst, auch konkret dem in diesem Sinne in Richtung Westen abwanderungsbewussten, an dieser Entwicklung keinerlei Schuld zuzuweisen ist. Schließlich lernt er in diesem Gesellschaftssystem nicht primär Solidarität, sondern er lernt, wo er auch in Sachen Krankenversicherung für den geringsten Preis die meiste Leistung abrufen kann. Das ist also verständlich.
Dennoch ergibt sich, wie auch von anderen schon ausgeführt, letztlich eine gefährliche Splittung in billige Dumping- und kostenintensive Versorgungskrankenkassen.
Die Politik ist gefragt als letzter Ausweg wiederum und auch - leider, muss man sagen, meine Damen und Herren - politische Regulierung, wobei die Länderkammer, um auf meine eingangs gestellte Frage nach dem Handlungsspielraum auf Landesebene zurückzukommen, nach meinem Verständnis damit ihre Aufgabe erfüllt, dass die Gesundheitsministerkonferenz am 29. Juni in Schwerin einstimmig vom Bund eine zeitnahe Organisationsreform der Krankenkassen zur Behebung solcher Verwerfungen und dieser - so wörtlich - „schnell fortschreitenden Entsolidarisierung in der Gesundheitsversorgung“ eingefordert hat.
Vielleicht gibt es aber noch andere politische Drähte, verehrte Frau Ministerin, um Bundesministerin Fischer freundlichst darauf hinzuweisen, dass es nach der eigentlich nur halbwertigen letzten Gesundheitsreformstufe noch immer an allen Ecken und Enden des Gesundheitswesens, vor allen Dingen im Osten, brennt.
Danke sehr. - Die Debatte zum Thema Krankenversicherung wird mit dem Beitrag der Abgeordneten Frau Brandt abgeschlossen. Bitte, Frau Brandt.