Protocol of the Session on September 15, 2000

(Beifall bei der FDVP)

Für die PDS-Fraktion spricht jetzt die Abgeordnete Frau Dirlich.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben in diesem Hause mehrfach über das Schicksal von Vertriebenen gesprochen. Die PDS-Fraktion hat ihren Standpunkt dazu mehrfach deutlich gemacht. Trotzdem wiederhole ich unseren Standpunkt.

Vertreibung bedeutet Not und Elend, bedeutet Bedrohung des Lebens, Hab und Gut geht verloren, die Menschen werden entwurzelt. Vertreibung und Unterdrückung von Minderheiten dürfen nicht länger zu den Mitteln von Politik gehören. Die Politik der Zukunft muss von Freizügigkeit, von Toleranz, von Zivilcourage und der Achtung der Menschenrechte geprägt sein. Zukunft braucht Versöhnung und nicht das Offenhalten von alten Rechnungen.

Aus dieser Sicht muss die PDS-Fraktion den Antrag der CDU ablehnen. Ich will das begründen.

Wie, so frage ich, soll Versöhnung stattfinden, wenn der Bund der Vertriebenen in seiner Charta der deutschen Heimatvertriebenen zwar auf Rache und Vergeltung verzichtet, gleichzeitig aber Besitzansprüche erhebt und bis heute aufrechterhält?

(Frau Wiechmann, FDVP: Das sind Menschen- rechte, Frau Dirlich!)

Die Worte, die der Bundeskanzler in seiner Festrede zum 50. Jahrestag der Charta am 3. September offen

sichtlich für nötig hielt, belegen, dass dem so ist. Ich zitiere mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin:

„Die Bundesrepublik Deutschland hat keine Gebietsansprüche gegen ihre Nachbarländer. Die Bundesregierung wird die Beziehungen mit diesen Staaten nicht mit politischen und rechtlichen Fragen belasten, die aus der Vergangenheit herrühren.“

(Zuruf von Frau Wiechmann, FDVP)

Wie soll, meine Damen und Herren, Versöhnung stattfinden, wenn die Charta von den Völkern der Welt, also auch vom jüdischen Volk, erwartet, ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen zu empfinden? Diese Forderung wurde nie zurückgenommen, sie wurde nicht einmal relativiert.

Wie soll Versöhnung stattfinden, wenn der Bund der Vertriebenen in seiner Entschließung zur Wehrmachtsausstellung sagt - wiederum ein Zitat -:

„Besonders heimatvertriebene Frauen, Kinder und die alten Menschen wissen aber noch, dass sie ihr Leben und die Fluchtmöglichkeit deutschen Soldaten zu verdanken haben, die bis zur Erschöpfung bemüht waren, die Front zu halten,“

(Zuruf von Frau Wiechmann, FDVP)

„im Bewusstsein der unweigerlich folgenden feindlichen, todbringenden Kriegsmaschinerie.“

Ich weiß auch, dass das stimmt. Was ich anprangere,

(Herr Wolf, FDVP: Meiner Mutter glaube ich mehr als Ihnen!)

ist die Tatsache, dass die Entschließung nicht die geringste Andeutung dazu enthält, dass sich die deutsche Armee auf dem Rückzug befand, auf dem Rückzug von einem verheerenden Weltkrieg, einem Krieg, der in der Sowjetunion und in Polen ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht, der Millionen Menschen - Männern, Frauen und Kindern - das Leben gekostet hat, einem Krieg, der mit äußerster Brutalität auch gegen die Zivilbevölkerung geführt wurde.

Wie soll Versöhnung stattfinden, wenn die Rolle der deutschen Bevölkerung in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten, ausschließlich - ich betone dieses „ausschließlich“ - als die von Opfern dargestellt wird? Gab es den Ruf nach Heimholung im Sudetenland wirklich nicht? Gab es den wirklich nicht?

Wer stand eigentlich jubelnd am Straßenrand, als die deutschen Soldaten in der ehemaligen Tschechischen Republik einmarschierten? Ist es etwa unwahr, dass Tschechen als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden, und das in einem Land, das immerhin auch ihre Heimat war?

Von all dem in den Erklärungen des Bundes der Vertriebenen - „leider“ muss ich sagen, weil wir uns mehrfach darüber unterhalten haben, wie berechtigt Forderungen von Heimatvertriebenen sind

(Zurufe von der FDVP)

und wie viel Unrecht ihnen angetan wurde -, von all dem in den Verlautbarungen des Bundes der Vertriebenen leider, wiederhole ich, kein Wort. Kein Wort übrigens davon auch in der inhaltlichen Konzeption des geforderten

Zentrums gegen Vertreibung. Herr Schomburg hat es eben hier vorgestellt. Kein Wort davon.

In der Vorstellung der Konzeption des Zentrums wird bei seinen Aufgabenstellungen der historische Hintergrund der Vertreibungen vollständig ausgeblendet. Auch Sie, Herr Schomburg, haben heute zum wiederholten Male - wir haben hier ja schon mehrfach zu diesem Thema diskutiert - kein Wort zu diesem historischen Hintergrund gesagt und setzen einfach voraus, dass wir es wissen.

(Herr Schomburg, CDU: Sie wissen es doch!)

Aber Sie können auch voraussetzen, Herr Schomburg, dass wir uns über das Schicksal von Vertriebenen im Klaren sind, und auch darüber reden Sie hier immer wieder.

(Zuruf von Frau Wiechmann, FDVP)

Sie können voraussetzen, dass wir auch das im Hinterkopf haben.

(Herr Dr. Daehre, CDU: Das haben wir doch schon alles gehört bei Ihnen, Frau Dirlich!)

Die PDS-Fraktion kann in dem vorgeschlagenen Zentrum - und das tut uns sehr Leid - keinen Beitrag zur Versöhnung und Völkerverständigung in Europa und in der Welt erkennen und wird das Anliegen nicht unterstützen.

Auf Ihre Frage, Herr Dr. Bergner, wie viel das kosten solle: In der Konzeption, die vorgelegt wurde, zumindest in der Vorstellung vor der Presse wurde davon geredet, dass sich die Bundesländer mit insgesamt 160 Millio- nen DM, und zwar innerhalb von fünf Jahren mit jeweils 32 Millionen DM, beteiligen sollen. Sie können selber ausrechnen, dass es fast 2 Millionen DM für SachsenAnhalt wären. Sehen Sie einmal im Haushaltsplan nach, wie viel Mittel insgesamt für die Gedenkstätten in Sachsen-Anhalt zur Verfügung stehen.

(Frau Wiechmann, FDVP: Da können wir doch noch ein paar Möglichkeiten eröffnen!)

Frau Kollegin Dirlich, Sie müssen zum Schluss kommen.

Entschuldigung! - Das nur, weil Sie nach der Finanzierung gefragt haben. - Danke.

(Beifall bei der PDS)

Die DVU-FL-Fraktion verzichtet auf einen Redebeitrag? - Nein. Dann spricht jetzt der Abgeordnete Herr Czaja. Bitte schön.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der DVU-FL stellt sich voll hinter die Forderung zur Errichtung eines Zentrums gegen Vertreibung in der Hauptstadt Berlin. 50 Jahre nachdem die Stuttgarter Charta der Heimatvertriebenen verabschiedet wurde, in der unsere vertriebenen Landsleute auf Rache und Vergeltung verzichtet haben, obwohl ihnen viel Leid angetan wurde, sollten sie endlich einmal die Möglichkeit erhalten, sich und das von ihnen erlittene Unrecht gewürdigt zu wissen. Eine Wiedergutmachung ist das längst nicht und kann es auch nicht sein.

In der Charta heißt es unter anderem:

„Wir haben unsere Heimat verloren. Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineingestellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat zu trennen bedeutet, ihn im Geiste zu töten.“

Es wurden viele getötet und nicht nur im Geiste. 18 Millionen Deutsche mussten nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges ihre angestammte Heimat verlassen. Wenn sie sich auf dem Gebiet der DDR niederließen, durften sie nicht einmal von Vertreibung sprechen, geschweige denn sich mit den Landsleuten einer Landsmannschaft zu treffen. Das wurde von der damaligen Partei- und Staatsführung der DDR sofort kriminalisiert und als Revanchismus bezeichnet.

Bis heute gelten noch die Dekrete des extremen Nationalisten Benes. Man hat sich nicht einmal im Geiste von ihnen getrennt. Eine Geste, die unsere Heimatvertriebenen sicherlich nicht falsch verstehen würden. - Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der DVU-FL)

Herr Schomburg hat noch einmal für die CDU-Fraktion das Wort.

Frau Präsidentin, ich möchte dies nicht über Gebühr beanspruchen.

Frau Dr. Kuppe, Sie hatten zwei Einwendungen gegen diesen Antrag geltend gemacht. Der eine ist, dass Ihnen ein achtseitiges Konzept vorliegt, das im Moment noch keine Zustimmung ermöglicht. Da uns dieses Konzept nicht vorliegt, würden wir gern beantragen, dass unser Antrag in den Innenausschuss überwiesen wird und dass wir dort einmal mit dem Konzept bekannt gemacht werden, um uns selbst ein Bild über die Situation verschaffen zu können.

(Zustimmung bei der CDU)

Ich sehe insgesamt hinsichtlich dieses Zentrums keine Eilbedürftigkeit, sodass wir unbedingt heute schon einen Beschluss dazu fassen müssten. In der Tat sind auch wir interessiert daran, dass ein Beschluss, wenn er gefasst wird, eine fundierte Grundlage hat.

Ihrem anderen Argument, dass es bereits in verschiedenen Ländern der Bundesrepublik Museen gibt, kann ich auch nicht ganz folgen. In der Tat ist dieses Problem allein mit musealen Mitteln nicht zu beherrschen.

Der neue Ansatz, der in diesem Zentrum gefunden wird, heißt ja auch, es solle Forschung betrieben und das Vertreibungsgeschehen in der ganzen Welt aktuell verfolgt werden, um aus diesen Erkenntnissen den poli-tischen Druck zu entwickeln, der dazu führt, dass die Vertreibung international so nachhaltig geächtet wird, dass es kein Politiker mehr wagt, sie als Mittel der Politik anzuwenden. Das soll perspektivisch mit diesem Zentrum verhindert werden.