Protocol of the Session on September 15, 2000

„Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem alle Völker ohne Furcht und Zwang leben können.“

In der Diskussion ist derzeit allein die Frage, welche Orte sich für die Arbeit des Erinnerns und Mahnens am besten eignen. Der Bund der Vertriebenen hat dazu bereits im letzten Jahr die Errichtung des im vorliegenden Antrag angesprochenen Zentrums gegen Vertreibung in Berlin angeregt.

Meine sehr geehrten Herren und Damen! Die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Frau Steinbach, hat die Ministerpräsidentin und die Ministerpräsidenten der Länder regelmäßig über den jeweils aktuellen Stand dieses Projekts informiert. Zuletzt wurde Ende Mai ein knapp acht Seiten umfassendes Grobkonzept übersandt. Nach diesen Unterlagen befindet sich das Projekt noch nicht in einer Phase, in der vorbehaltlos eine Zustimmungserklärung abgegeben werden könnte. Es gibt noch eine Reihe von wichtigen Fragen, die noch nicht

hinreichend beantwortet sind. Ich will nur zwei Problemkreise kurz anreißen.

Der eine betrifft das wissenschaftliche Konzept eines solchen Zentrums. Vertreibung im Allgemeinen und insbesondere die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten nach 1945 darf niemals isoliert betrachtet werden, sondern es muss der sie umgebende Sachzusammenhang gesehen werden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Hierarchie von Ursache und Wirkung ins Gegenteil verkehrt wird.

(Zustimmung bei der SPD und bei der PDS)

Die 15 Millionen deutschen Heimatvertriebenen waren Opfer, und zwar in allererster Linie Opfer der verbrecherischen Politik der Nationalsozialisten und des Hitler‘schen Aggressionskrieges.

(Beifall bei SPD und bei der PDS)

Wie immer sich diese Menschen im Einzelnen zur Nazidiktatur verhalten haben - sie bezahlten, ganz überwiegend ohne persönliche Schuld auf sich geladen zu haben, für die historisch einzigartige Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten.

Andererseits waren die Heimatvertriebenen nicht die einzigen Opfer der Nazibarbarei. Subjektiv sicher nachvollziehbar bezeichnen sie sich in ihrer Charta der Heimatvertriebenen, die auch programmatische Grundlage für das Zentrum gegen Vertreibung sein soll, als die vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen. Diese Hierarchisierung der Opfer der Nazidiktatur, meine sehr geehrten Herren und Damen, kann aus historischer Sicht in dieser Absolutheit keinen Bestand haben.

(Zustimmung bei der SPD und bei der PDS)

Um auch nur die Möglichkeit einer relativierenden oder verharmlosenden Interpretation der Nazigeschichte zu vermeiden, muss das Schicksal der Vertriebenen daher in eine Darstellung der gesamten deutschen und europäischen Geschichte dieser Zeit einbezogen werden.

Diese inhaltliche Frage leitet dann unmittelbar zum zweiten Problemkreis, über den noch diskutiert werden muss, über, nämlich zu der Frage, die Notwendigkeit des geplanten Zentrums angesichts verschiedener bereits bestehender Einrichtungen in Deutschland zu beleuchten.

Die Darstellung der gesamten deutschen Geschichte einschließlich der Vertreibung im europäischen Zusammenhang ist derzeit Aufgabe des Deutschen Historischen Museums in Berlin. Neben dem Deutschen Historischen Museum bestehen sieben Landesmuseen, die zumindest auch das Thema Flucht und Vertreibung behandeln. Ich nenne beispielhaft das Pommersche Landesmuseum in Greifswald und das Ostpreußische Landesmuseum in Lüneburg.

Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch die finanziellen Mittel, die Bund, Länder und Kommunen den Verbänden für die Erinnerung an die Vertreibung bereitstellen. So hat das Land Sachsen-Anhalt - auch das nenne ich nur exemplarisch - zur Heimat- und Brauchtumspflege und für Integrationsmaßnahmen für Spätaussiedler allein in diesem Haushaltsjahr 300 000 DM zur Verfügung gestellt.

Angesichts der schwierigen Haushaltslage, die wir heute Vormittag diskutiert haben und die nicht nur SachsenAnhalt betrifft, sondern alle Bundesländer genauso wie den Bund, stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoller

wäre, auch unter dem Gesichtspunkt, dass Projekte der Verbände unterstützt werden sollen, die bestehenden Einrichtungen konzeptionell weiterzuentwickeln und vielleicht auf ein neues Zentrum zu verzichten.

Kollegin Kuppe, würden Sie eine Frage von Herrn Dr. Bergner beantworten?

(Herr Dr. Bergner, CDU: Das kann zum Schluss sein; das ist vielleicht besser!)

Sie können sie am Ende Ihrer Ausführungen beantworten.

Ich denke, meine sehr geehrten Damen und Herren, ohne die Begutachtung des Konzeptes durch ein Wissenschaftlergremium, das mindestens die inhaltlichen und institutionellen Fragen klärt, die ich an dieser Stelle nur angerissen habe, sollte zu dem Vorhaben Zentrum gegen Vertreibung seriöserweise nicht abschließend Stellung genommen werden.

Ich möchte noch einen Hinweis dazu geben, der eher einen fairen Umgang der Bundesländer untereinander betrifft. Im Bereich der Gedenkstättenförderung ist unter anderem grundsätzlich die Übernahme der Trägerschaft für eine Einrichtung durch das Sitzland gefordert. Das vom Bund der Vertriebenen vorgelegte Konzept lässt bisher nicht erkennen, ob das Land Berlin zur Übernahme dieser Trägerschaft überhaupt bereit ist. Bevor dies nicht geklärt ist, sollten unmittelbar nicht beteiligte Bundesländer von der Forderung der Ansiedlung einer weiteren Einrichtung in Berlin, denke ich, auch wiederum seriöserweise absehen. - Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der PDS)

Frau Ministerin, Sie wollten noch eine Frage beantworten. Herr Dr. Bergner, bitte.

Frau Ministerin, ich würde zum einen ganz gern wissen, ob bei der Übersendung des Konzeptes des BdV irgendeine Kostenangabe gemacht worden ist. Liegt dem Land Sachsen-Anhalt irgendeine Größe vor, die besagt, welche Kosten sich mit der Unterstützung des Projektes verbinden würden, zum Beispiel nach dem Königsteiner Schlüssel oder wie auch immer?

Der zweite Punkt betrifft das Grundverständnis, das Sie angesprochen haben. Stimmen Sie mir in der Aussage zu, dass selbst angesichts des großen Unrechts, das durch die Nationalsozialisten verursacht wurde und das Auslöser für eine ganze Menge von dramatischen Ereignissen in Europa war, man Unrecht gegen Menschen nicht gegen anderes Unrecht aufrechnen darf?

(Herr Dr. Sobetzko, CDU: Unrecht gegen Unrecht!)

Was meinen Sie als Gegensatz? Unrecht gegen Menschen? Ich differenziere nicht zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft. Meinen Sie dann Unrecht gegen Sachen?

Nein. Wir haben zwei in der Dimension sehr unterschiedliche Unrechtstatbestände: zum einen das Unrecht der Nationalsozialisten, Holocaust und anderes, was auch entsprechend gewürdigt werden soll, und zum anderen das Unrecht der Vertreibung gegenüber den in den früheren deutschen Ostgebieten Lebenden.

Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe, aber sind Sie - deshalb stelle ich die Frage - mit mir der Meinung, dass Unrecht gegen Menschen gesondert gesehen werden muss und nicht das eine Unrecht gegen das andere aufgerechnet werden darf?

(Herr Dr. Sobetzko, CDU: Ja, richtig!)

In diesem Punkt teile ich Ihre Meinung. Es darf keine Hierarchie im Unrecht geben; aber man muss Ursache und Wirkung auch im Auge behalten.

(Zustimmung von Frau Dirlich, PDS, und von Frau Krause, PDS - Zuruf von Frau Krause, PDS)

Das Unrecht, das Verbrechen gegen die Deutschen oder die Vertreibung von Deutschen beruhte auf dem Unrecht der Nazidiktatur und diesen Sachzusammenhang darf man bei der Bewertung dieser Probleme und dieser Verbrechen nicht außer Acht lassen.

(Zustimmung bei der SPD - Zuruf von Herrn Bi- schoff, SPD - Herr Dr. Sobetzko, CDU: Das ist richtig!)

Ansonsten ist ein Opfer wie ein anderes Opfer zu betrachten.

(Zuruf von Herrn Dr. Sobetzko, CDU)

Was die Finanzen anbelangt, so liegt dieses Gesamtkonzept noch nicht vor, und deswegen kann es für das Gesamtkonzept auch noch keine Kostendarstellung geben.

(Beifall bei der SPD)

Danke, Frau Ministerin. - Die SPD hat auf einen Diskussionsbeitrag verzichtet. Für die FDVP-Fraktion spricht jetzt der Abgeordnete Herr Weich.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon seltsam, manchmal gibt es doch noch einen Lichtblick in der CDU von Sachsen-Anhalt.

(Lachen bei der SPD und bei der CDU)

Einen Antrag im Sinne der Vertriebenen mit Inhalt? Haben wir nicht erst am Tag der Heimat in der Magdeburger Stadthalle von CDU und SPD, die schon jahrzehntelang die Heimatvertriebenen belügen und betrügen, nur das übliche Blablabla gehört? Für Dr. Püchel sind sogar die Vertriebenen aus Polen vertrieben worden,

(Herr Dr. Bergner, CDU: Hat Ihnen das Herr Schu- bert aufgeschrieben, die Geistesgröße Schubert?)

und Herr Oleikiewitz hat wieder einmal erzählt, ohne etwas zu sagen. Dr. Polte hat eine Wahlkampfrede

gehalten und die linksradikale PDS war wie immer nicht anwesend, wenn es um Schicksale von Deutschen geht.

Auf Druck dieser Scheindemokraten durfte die FDVP vermutlich nicht sprechen. Trotzdem: Die Vertriebenen wissen, dass die Freiheitliche Deutsche Volkspartei und die FPÖ in Österreich 100-prozentig hinter den Forderungen der Vertriebenen stehen.

Heute wissen wir, dass nach dem Kriegsende im Jahr 1945 mehr als 15 Millionen Deutsche vertrieben wurden. Etwa 3 Millionen Deutsche kamen durch die Verbrechen der Sieger- und Vertreiberstaaten ums Leben. Diese Menschen waren in jeder Hinsicht unschuldig.

Bis zum heutigen Tag werden Menschen gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben. An dieser Stelle nur einige Beispiele: Auf staatliche Anweisung wurden Millionen Indianer in den USA vertrieben und vernichtet, die jüdische Diaspora und das Schicksal von Millionen Juden im Dritten Reich, die Vertreibung von Millionen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, die Vertreibung und die Vernichtungsverbrechen durch Frankreich und die USA in Kambodscha und in Vietnam usw. Heute sind wir erneut Zeugen von Vertreibungsunrecht, zum Beispiel in Afrika.

Die Forderung der Vertriebenen, ein Zentrum gegen die Vertreibung zu errichten, ist die richtige Antwort auf die bis heute anhaltende Vertreibung von Menschen aus ihrer Heimat. Wir stimmen dem Antrag zu. - Danke schön.