Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer hätte gedacht, dass wir hier fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung und während der Laufzeit der Kommission für gleichwertige Lebensverhältnisse im Bund eine Debatte über Entwicklungschancen für Stadt und Land führen, nachdem wieder eines der steuerfinanzierten Wirtschaftsforschungsinstitute vorgeschlagen hat, den ländlichen Raum quasi aufzugeben und sich bei Investitionen ganz auf die Städte und Wachstumskerne zu konzentrieren?
Wenn wir diesem Ratschlag folgen würden, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann könnten wir aufhören, Politik zu machen; denn es hat dann nichts mehr mit Gemeinwohl, Daseinsvorsorge und gleichwertigen Lebensverhältnissen zu tun. Dafür bin ich und sind Sie wahrscheinlich alle nicht in die Politik gegangen.
Im Grunde genommen würden wir dann den Auftrag des Grundgesetzes ignorieren und den Menschen im Freistaat
und anderswo ein völlig falsches Signal senden. Dieses Signal hieße dann, wir kümmern uns nur noch um die großen und starken Leuchttürme. Der Rest muss zusehen, wo er bleibt, oder geht eben in die Städte. Den Denkzettel, den wir dafür erhalten würden, können wir uns sicherlich alle gut vorstellen.
Nun ist es müßig, hier eine Debatte über die vermeintlich fehlende Produktivität ostdeutscher Unternehmen zu führen; denn sie bringt uns in keiner Weise weiter. Wir suggerierten den Menschen damit nur, dass die Betriebe hier schlechter wirtschafteten und die Arbeitsleistung der Ostdeutschen weniger wert wäre, was mitnichten der Fall ist.
Der Sturm der Entrüstung, wie es die „Sächsische Zeitung“ schrieb, den sich das IWH Halle für seine Ratschläge eingehandelt hat, zeigt deutlich, dass das Institut über das Ziel hinausgeschossen ist, indem es suggeriert, der ländliche, vor allem ostdeutsche Raum sei nun einmal abgehängt und könne sich selbst überlassen werden. Er, der ländliche Raum hier bei uns im Osten, profitiere ja von einem – ich sage einmal – im neoliberalen Denken auch „Trickle-down-Effekt“ genannten Wachstum der Städte und einer davon ausgehenden Ausstrahlung auf den Rest.
Den gleichen Sturm der Entrüstung hatte sich bereits Prof. Ragnitz vom Dresdner ifo Institut eingehandelt, als er im letzten Jahr in doch ziemlich polemischer Weise vorschlug, manche Dörfer zu schließen und den Leuten quasi Abwanderungsprämien zu bezahlen. Der liebe Herr Prof. Ragnitz – den Seitenhieb will ich mir jetzt einmal nicht verkneifen – stellt sich nun auch hin und kritisiert seine Kollegen vom IWH Halle, weil doch im Zuge der Konzentration auf regionale Wachstumszentren weite Teile Ostdeutschlands ausbluten würden. Was also solche Ratschläge von diesen Experten wert sind, das hat Herr Ragnitz damit selbst beantwortet.
Im Klartext: Würden wir dem Vorschlag des IWH folgen, würde dies zweifelsfrei bedeuten, Einkommens- und Kaufkraftunterschiede weiter zu zementieren, Investitionen in ohnehin überdurchschnittlich entwickelte Ballungsräume zu verschieben und so die falsche Leuchtturmpolitik noch zu verstärken, welche erst zur Entvölkerung der ländlichen Räume geführt hat.
Für die Metropolregionen und großen Städte hieße das ansteigenden Pendler- und Individualverkehr, Verknappung und somit zwangsläufig Verteuerung des Wohnraumes sowie eine Überlastung der Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge.
Für meine Fraktion möchte ich deshalb feststellen: Es ist der komplett falsche Ansatz, den das IWH, also das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle, bzw. sein Präsident Herr Gropp in der letzten Woche verbreitet hat. Wir werden genau das nicht tun, was Herr Gropp fordert. Wir werden als SPD und mit dieser Koalition eben nicht den ländlichen Raum aufgeben.
Wir stehen zum ländlichen Raum. Wir stehen zur Daseinsvorsorge. Wir lassen uns auf dem Weg zur Stärkung der ländlichen Räume auch von solchen Experten nicht abbringen. – So weit in der ersten Runde.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ein Teil dieser Aktuellen Debatte hat die Überschrift „Versöhnen statt Spalten“. Was wollen Sie uns eigentlich mit dem Leitbild von Johannes Rau sagen, der es während seiner Zeit als Bundespräsident angewandt hat? Wer soll denn jetzt versöhnt werden und wer hat denn eigentlich gespalten?
Ich darf Sie vielleicht daran erinnern, dass es tatsächlich die CDU gewesen ist, die in diesem Land genau diese Spaltung hervorgerufen hat, wenn Sie jetzt jammern, dass irgendein Ökonom vor sich hin denkt und alle Leute schreiben: Nein! Das geht ja überhaupt nicht! – Entschuldigung! Ich darf Ihnen einmal zitieren, was Herr Gillo im Jahr 2003 gesagt hat – es ist also schon ein paar Jahre her –: „Das ist eine Bestätigung für unsere Politik, nämlich der Leuchtturmpolitik der vergangenen 13 Jahre.“
Dann hat Ministerpräsident Biedenkopf auch einen schönen Spruch gesagt, aus dem Jahr 2004: „Wo Tauben sind, fliegen Tauben hin. Das Schwierigste ist, die ersten Tauben einzufangen.“ Das hat er erklärt, nachdem Siemens angesiedelt worden ist und er auch noch AMD nach Sachsen gelockt hatte. Herr Kollege Milbradt hat auch noch mitgemacht und erklärt: „Entweder Dresden oder gar nicht.“
Also, liebe Kollegen von der CDU, warum jammern Sie hier eigentlich? Genau diese Politik haben Sie die letzten Jahre hier, in Sachsen, vollzogen. Sie haben eine Leuchtturmpolitik betrieben. Sie haben eine Konzentration betrieben. Sie haben nicht darauf gehört, dass die Kommunen lamentiert haben. Es hat Sie nicht interessiert, dass große Teile aus dem ländlichen Raum weggezogen sind. Danach haben Sie die Wohnungen abgerissen. Ja! Danach haben Sie die Schulen geschlossen. Okay! Danach haben Sie die Buslinien abgeschafft. Den Auszug der Polizei haben Sie auch noch vorangetrieben. Den Nahverkehr haben Sie abgestellt. Nachdem die Kommunen so klein geworden sind, haben Sie sie zusammengeschlossen. Dann haben Sie noch große Kreise gebildet. Das ist nichts weiter als Leuchtturmpolitik zugunsten von einzelnen Städten, weil Sie dann eine Konzentration von Verwaltungen vor Ort vorgenommen haben. Jetzt lamentieren Sie herum, dass das alles sozusagen nicht gehen würde. Hallo! Was ist das für eine Politik?
Herr Kollege Gebhardt, nehmen Sie zur Kenntnis, dass bei der Übernahme der Verantwortung für den Freistaat Sachsen durch die Personen, die Sie genannt haben, unser erster Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, sein Nachfolger Georg Milbradt und auch Wirtschaftsminister Gillo, durchaus andere Ausgangssituationen hier in Sachsen vorhanden waren? Hier lief uns bereits Ende der Achtzigerjahre die Jugend weg.
Herr Heidan, ich nehme zur Kenntnis, dass es eine Ausgangssituation gegeben hat, ja. Diese war vielleicht auch nicht einfach. Ich darf Ihnen aber, weil Sie mir die Gelegenheit geben, noch ein Zitat zur Antwort geben, nämlich warum sich unter anderem AMD damals in Dresden angesiedelt hat. Damals hat der Manager dieser Firma gesagt, die Ansiedlung in Dresden sei wegen der vorausschauenden Weisheit der Staats- und Parteiführung der DDR möglich gewesen, weil sie damals nämlich die Mikroelektronik in Dresden angesiedelt habe.
(Beifall bei den LINKEN – Unruhe bei der CDU – Sebastian Fischer, CDU: Was? – André Barth, AfD: Der war gut! – Carsten Hütter, AfD: Alter Schwede!)
Also, Herr Heidan, tun Sie nicht so, als wenn hier alles nur grau, heruntergekommen und heruntergewirtschaftet gewesen wäre. – Das war die Antwort auf Ihre Frage.
Wenn Sie mir diese Frage stellen, Herr Heidan, Entschuldigung, dann kann ich Ihnen nur antworten, was hierzu auch gesagt worden ist.
Ich will Sie noch einmal darauf hinweisen, dass Ihr heutiges Lamentieren auf hohem Niveau tatsächlich mit Ihrer eigenen Politik zu tun hat. Ich will auch daran erinnern, dass schon im Jahr 1999 einer meiner Vorgän
ger, nämlich Peter Porsch, eine heftige Auseinandersetzung auch während des Wahlkampfs geführt hat, nämlich genau über diese Ansiedlungspolitik. Das kann man übrigens gut nachlesen in einem Buch, das ein nicht ganz unbekannter Mann aus dem Sächsischen Landtag, der heute hier Verantwortung trägt, nämlich Herr
Dr. Schubert, herausgegeben hat. Er hat nämlich damals aufgelistet, welche Auseinandersetzungen die politischen Parteien gerade auch im Zusammenhang mit der Leuchtturmpolitik der sächsischen CDU geführt haben.
Ich will am Ende meiner Ausführungen in der ersten Runde vor allen Dingen noch einmal darauf hinweisen, worum es uns jetzt geht. Ich darf dazu Herrn Dr. Brückner vom sächsischen Verband der Wirtschaft zitieren. Er hat uns ans Herz gelegt:
„Die Landespolitik muss vielmehr mit einer klugen Strukturpolitik dafür sorgen, dass dort leistungs- und wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen bestehen, wo produktive Arbeit zur Wertschöpfung und damit zur Sicherung des gesellschaftlichen Wohlstands beiträgt, das heißt beispielsweise, auch im ländlichen Raum eine wohnortnahe Versorgung bei Kindergärten und Schulen zu gewährleisten sowie Berufsschulstandorte zu sichern.
Zudem müssen die sächsischen Fördermittel für die öffentlichen Forschungseinrichtungen konsequent an die Zusammenarbeit mit konkreten Kooperationen mit regionalen Unternehmen vor Ort gebunden werden.“
Hätten wir diese Forderung aufgemacht, würden Sie uns Sozialismus vorwerfen und Kommunismus, was Sie nicht mehr wollen. Also wenn Sie wenigstens Ihre Fehler eingestehen würden und sagten, wir haben erkannt, dass wir Fehler gemacht haben und deswegen umsteuern, dann würde ich sagen: Sie machen jetzt vielleicht doch eine ehrliche Politik. Da Sie das aber nicht machen, glaube ich Ihnen das nicht. Deswegen ist das alles nur Wahlkampfgetöse, das Sie aufgrund einer Aussage eines Professors aus Halle vornehmen. Das ist unredlich.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Bei Nennung des heutigen Debattenthemas habe ich mich sofort gefragt, was denn die Staatsregierung in den letzten 20 Jahren gegen die Spaltung von Stadt und Land eigentlich getan hat. Nun gut, es wurden Infineon, VW, BMW und Linde in die Städte gelockt. Dabei wurden Hunderte Fördermillionen ausgegeben. Der Ehrlichkeit halber muss man dazusagen, dass dadurch auch gut bezahlte Arbeitsplätze in den Ballungsgebieten Dresden, Leipzig und Zwickau entstanden sind. Was ist eigentlich zugleich im ländlichen Raum passiert? Sie haben Müllermilch und Wacker Chemie mit noch mehr Fördermillionen den ländlichen
Raum schmackhaft gemacht. Das mag schon gut sein, aber zwei Schwalben machen eben noch keinen Sommer.
Wie sieht jetzt die Gegenwart und Zukunft unseres ländlichen Raumes tatsächlich aus? Kurz und knapp: Die Bevölkerung schrumpft und überaltert. Bis 2030 werden 90 000 Sachsen weniger im ländlichen Raum leben und der Altersdurschnitt der verbliebenen Bevölkerung wird von 47 Jahren auf 51 Jahre wachsen. 2030 werden 26 % der Bevölkerung auf dem Land über 65 Jahre sein. Jeder Vierte ist dann also Rentner. Bereits heute sind 33 % aller Erzieher auf dem Land älter als 55 Jahre. Da entsteht eine neue Versorgungslücke. Aber vielleicht ist das gar nicht so schlimm, denn wenn das so weitergeht, wird in mehr als zehn Jahren kaum noch einer mit seinen Kindern im ländlichen Raum wohnen.
Eine ähnliche Baustelle, ganz aktuell: 80 % aller neu eingestellten Lehrer in der Oberlausitz sind heutzutage Seiteneinsteiger, weil regelständig ausgebildete Lehrer das unattraktive Land wie die Pest meiden. Wollen Sie sterben oder wollen Sie eher sterben? Dann ziehen Sie aufs Land. Falls Sie mir das nicht glauben: Die Luft ist dort zwar besser, die Rettungsfrist nach einem Notruf aber schlechter. Die zwölfminütige Rettungsfrist kann auf dem Land nicht mehr eingehalten werden. In einem Viertel aller Fälle wird die Rettungsfrist überschritten. Fiktives Beispiel einer 85-jährigen Frau: