Protocol of the Session on May 30, 2018

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir könnten die gesamte Sitzung jetzt von hier aus abhalten.

(Staatsminister Christian Piwarz: Das wäre doch mal was! – Lebhafter Beifall)

So muss es damals in Athen auf der Agora gewesen sein. So war es im Senat der Stadt Rom. Aber wir sind hier auf die Elektronik, auf die elektrotechnische Grundstruktur angewiesen. Deshalb unterbreche ich die Sitzung für 10 Minuten, in denen es uns – vielleicht – gelingt, unsere Mikrofonanlage wieder hochzufahren. Falls uns das nicht gelingt, bleibt uns nur die Antike; dann wird es eine vollkommen andere Sitzung.

(Beifall)

Eröffnung

(Beginn der Sitzung: 10:09 Uhr)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es hat nicht 10 Minuten gedauert, sondern wir haben weit vorher alle Schwierigkeiten bewältigt – jedenfalls die technischen. Ich kann die 72. Sitzung des 6. Sächsischen Landtags eröffnen.

Folgende Abgeordnete haben sich für die heutige Sitzung entschuldigt: Frau Springer, Frau Klotzbücher und Herr Gemkow.

Die Tagesordnung liegt Ihnen vor. Das Präsidium hat für die Tagesordnungspunkte 3 bis 9 folgende Redezeiten festgelegt: CDU 105 Minuten, DIE LINKE 70 Minuten, SPD 56 Minuten, AfD 35 Minuten, GRÜNE 35 Minuten, fraktionslose MdL je 4,5 Minuten, Staatsregierung

70 Minuten. Die Redezeiten der Fraktionen und der Staatsregierung können auf die Tagesordnungspunkte je nach Bedarf verteilt werden.

Ich sehe jetzt keine Änderungsvorschläge oder gar Widerspruch gegen die Tagesordnung. Die Tagesordnung der 72. Sitzung ist damit bestätigt.

Meine Damen und Herren! Ich rufe auf

Tagesordnungspunkt 1

Fachregierungserklärung zum Thema:

Zuwanderung und Integration gut gestalten – Zusammenhalt leben,

Zuwanderungs- und Integrationskonzept II des Freistaates Sachsen

Ich übergebe das Wort an die Staatsministerin für Gleichstellung und Integration beim Staatsministerium für Soziales und Verbraucherschutz. Bitte, Frau Staatsministerin, Frau Kollegin Köpping, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

(Ausfall des Mikrofons am Rednerpult)

Es funktioniert nicht.

Es ist eingestellt. Sekunde!

Ich müsste fast sagen: Ich gebe die Rede zu Protokoll.

(Heiterkeit und Beifall)

Können Sie es bitte noch einmal versuchen?

Ja.

(Das Mikrofon am Rednerpult funktioniert nach wie vor nicht. – Jörg Urban, AfD: Einfach lauter reden!)

Frau Staatsministerin, ich unterbreche die Sitzung noch einmal – ich hoffe, nur für fünf Minuten –, damit wir das hier zum Laufen kriegen. Ich bitte um Geduld.

(Kurze Unterbrechung)

Meine Damen und Herren! Wir müssen die gesamte Anlage herunter- und wieder hochfahren. Ich unterbreche die Sitzung bis 11 Uhr.

(Unterbrechung von 10:13 bis 11:00 Uhr)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir haben die technischen Probleme behoben und setzen dort wieder ein, wo wir vor der Unterbrechung gewesen sind. Ich erteile erneut das Wort an Frau Staats

ministerin für Gleichstellung und Integration beim Staatsministerium für Soziales und Verbraucherschutz. Bitte, verehrte Kollegin Petra Köpping.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Ich glaube, jetzt bin ich zu hören.

Im Februar dieses Jahres konnten wir in den Zeitungen spannende Berichte über den belgischen Bürgermeister Bart Somers lesen. Er hat in den vergangenen Jahren die 86 000-Einwohner-Stadt Mechelen von der „formal dreckigsten Stadt Belgiens“, und das sind nicht meine Worte, in eine lebenswerte wachsende Stadt mit hohem sozialen Frieden verwandelt.

Das hat er einerseits geschafft mit einer Mischung aus law and order, also der Aufstockung der Polizei um 50 %, der Installation von Überwachungskameras an allen großen Plätzen und einer massiven öffentlichen Präsenz von Polizeibeamten, und andererseits einem hoch engagierten Paket aus sozialer und integrativer Prävention mit Nachbarschaftshelfern, Beratungsangeboten und Streetworkern. Dabei hat er sich zuerst der Problemviertel angenommen, die Straßen gereinigt, Spielplätze angelegt und Parks aufgehübscht. Mit diesem vergleichsweise simplen Ansatz, bei dessen Umsetzung er richtigerweise viel Geld in die Hand genommen hat, ist eine prosperierende Stadt entstanden.

Aus den Kosten für Kriminalitätsbekämpfung sind Kosten der Prävention, der Integration und der sozialen Daseinsfürsorge geworden. Alle diese Investitionen in Kitas, Schulen, Grünflächen, Spielplätze und vieles mehr haben sich gelohnt für Mechelen, für seine Bewohnerinnen und Bewohner und für den Bürgermeister, der mit dieser Politik zum World Mayor, dem weltbesten Bürgermeister, gekürt wurde. Und es hat sich noch an anderer Stelle gelohnt: Der rechtsnationale Vlaams Belang rutschte von einem Drittel des Wähleranteils auf unter 9 %. Es ist diese Mischung, wenn nicht gar diese Balance aus sozialer Prävention und polizeilicher Stärke, die den sozialen Frieden – oder anders gesagt –, den sozialen Zusammenhalt schafft, stärkt und bewahrt.

Wenn ich heute nicht in unsere Gesellschaft, in ein friedliches Miteinander, in die Stärkung von demokratischer, kultureller und sozialer Teilhabe aller investiere, dann zahle ich morgen die Zeche für negative Kriminalitätsstatistiken.

(Beifall bei der SPD)

Wenn es um so etwas Bedeutendes wie das gesamtgesellschaftliche Zusammenleben geht, dann ist eben nicht nur eine politische Ebene, ein Ministerium und ein Amt dafür zuständig, sondern es handelt sich um eine Aufgabe für alle.

Im nunmehr vorliegenden fortgeschriebenen Zuwanderungs- und Integrationskonzept spiegelt sich genau diese Vielfalt an Maßnahmen wider, freilich konzentriert auf

den Bereich der Zuwanderungs- und Integrationspolitik, aber stets mit dem Wissen, dass gerade dieser Bereich in den letzten Jahren nicht nur viel politische Kraft gebunden hat, sondern es eben auch eine Frage ist, die über unsere sächsische Zukunft in einer globalen Welt mitentscheidet und die von nicht wenigen infrage gestellt wird, sei es aus ausländerfeindlicher Überzeugung oder aus zu großer Unwissenheit und Unerfahrenheit.

Doch schauen wir uns die Rahmenbedingungen, die die Erstellung des aktuellen Zuwanderungs- und Integrationskonzeptes begleiten und beeinflussen, im Einzelnen an. Die Frage nach dem richtigen Umgang mit dem demografischen Wandel ist seit mehreren Jahren eine landespolitische Kernfrage. Die Ausgangsvoraussetzungen sind nicht gerade die einfachsten. Wir leben in Deutschland wie auch in der gesamten Europäischen Union in überwiegend alternden Gesellschaften. Der Anteil der Bevölkerung, der über 80 Jahre alt ist, steigt zunehmend. Nicht falsch verstehen: Das ist erfreulich, doch eben auch eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft. Dann kommt noch ein Spezifikum dazu: Sachsen ist ebenso wie andere ostdeutsche Länder aufgrund der Abwanderung vor und nach der Vereinigung Deutschlands 1989 noch einmal ganz besonders demografisch benachteiligt. Der Freistaat gehört zu den Alterspionieren. Das heißt, das Durchschnittsalter der Bevölkerung steigt schneller als in anderen Teilen Deutschlands.

Durch unterschiedlich starke Fort- und Zuzüge gibt es zudem regional unterschiedliche Entwicklungen in unserem verhältnismäßig dicht besiedelten Freistaat. Da sind die Großstädte, deren Bevölkerung in der Regel weiter wächst. Daneben gibt es viele Regionen im ländlichen Raum, in denen besonders Klein- und Mittelstädte von Überalterung und Verringerung der Bevölkerung betroffen sind. Der demografische Wandel ist an und für sich ein langfristiger Prozess, der von Politik und Gesellschaft vorausschauend gestaltet werden kann und auch wird.

Weitaus weniger vorhersehbar hingegen sind die weltweiten Wanderungsbewegungen, die nunmehr auch uns direkt betreffen und auf die teilweise ausgesprochen kurzfristig reagiert werden muss. Das hat mit der Flüchtlingssituation in Deutschland in den Jahren 2015 und 2016 begonnen. Obwohl es schon immer Wanderung und Migration gegeben hat und auch Sachsens Geschichte viel stärker davon beeinflusst wurde, als manch einer sich das denkt, war die Quantität der vergangenen Jahre schon besonders; und sie hat nicht nur einen demografischen Effekt, sondern eben auch einen gesellschaftspolitischen. Den folgenden Satz sage ich bewusst so, wie ich ihn sage: Veranlasst, nicht verursacht, durch die Flüchtlingssituation der vergangenen Jahre herrscht und dominiert in Politik und Öffentlichkeit das Phänomen der Ausgrenzung.

Für mich stellt sich das so dar: Mitten unter uns fühlen sich Menschen ausgegrenzt und unwürdig behandelt und fordern nunmehr, auch andere Menschen auszugrenzen und diese unwürdig zu behandeln. Wie komme ich da

rauf? Ich habe unendlich viele Gespräche mit besorgten Bürgern, Asylkritikern und Pegidisten geführt, nie mit den Demagogen und Hetzern an deren Spitze, sondern immer mit den Menschen, die sich einreihen und einreihten.

Ich wollte wissen, was sie dazu antreibt, warum aus dem ruhigen und sonst zurückhaltenden Sachsen ein Wutbürger wird, der teilweise seine gute Erziehung vermissen lässt. Sie alle kennen meine These von den Verletzungen, Ungerechtigkeiten und Kränkungen der Nachwendezeit, die ein nicht unwichtiger Grund für Desintegration und Demokratieferne sind. Die Fragestellungen, die die Menschen beunruhigen, begannen weder mit den Flüchtlingen, noch enden sie damit. Globalisierung, Arbeit 4.0, Digitalisierung, der eingangs erwähnte demografische Wandel und Migration sind nur einige Beispiele für Begriffe, die die Politik beschäftigen und gleichzeitig Menschen verunsichern.

Kurzum – seit einigen Jahren fordern nicht wenige Schlagworte und die dahinterstehenden Veränderungen den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft permanent heraus. Dazu zählt letztendlich auch die Zunahme kultureller Vielfalt durch alle Formen der Zuwanderung, welche nicht von allen Menschen als Gewinn oder als Chance gesehen wird. Gleichzeitig werden die Bindungskräfte traditioneller Institutionen, wie zum Beispiel Familien, Parteien und Kirchen, einfach schwächer. Am Ende der logischen Kette gibt es ein Fazit. Ist der Zusammenhalt gefährdet, sind auch die Grundwerte unserer Gesellschaft von der Gleichberechtigung über die Gewaltfreiheit bis hin zu den demokratischen Prinzipien gefährdet.

Nun liegt es an uns, den demografischen und gesellschaftlichen Wandel und Umbruch in einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft zu gestalten und insbesondere die Fachkräftesituation zu sichern. Dazu gehört zum einen die stärkere Aktivierung des inländischen Arbeitskräftepotenzials von Älteren, Frauen, gering Qualifizierten und Langzeitarbeitslosen. Zum anderen bieten aber auch Zuwanderung und Integration ein gewisses Potenzial zur wirtschaftlichen Stabilisierung. Insbesondere qualifizierte Zuwanderung kann in einer älter werdenden Bevölkerung und bei allgemein rückläufiger Erwerbsbeteiligung zur Sicherung der Fachkräftebasis und zum weiteren Fortschritt beitragen. Deshalb bleibt es auch ein Zuwanderungs- und Integrationskonzept. Gezielte Zuwanderung von Studierenden, Auszubildenden und vor allem von Professoren, Spitzenforschern, Fachexperten und Fachexpertinnen auf allen Gebieten von Wirtschaft, Verwaltung und Forschung sind und bleiben wichtig. Dieser Fakt liegt leider sehr selten im öffentlichen Fokus.

Im Mittelpunkt der Diskussion stand und steht oft, manchmal sogar zu oft die Zuwanderung aus humanitären Gründen, so wie wir sie vor allem in den Jahren 2015 und 2016 erlebten. Auch hier sage ich: Mit intensiven Integrationsangeboten eröffnen wir auch hier die Chancen auf Teilhabe an der Gesellschaft für Menschen, die zu Recht Hilfe beanspruchen und bei uns Asyl erhalten. Damit

schließt sich der Kreis, denn eine moderne Zuwanderungs- und Integrationspolitik ist ein Teil der zukunftsorientierten Strategie der Staatsregierung zur Bewältigung des demografischen und gesellschaftlichen Wandels. Zuwanderung und Integration gut gestalten, Zusammenhalt leben – das ist die Leitidee des unter Federführung meines Geschäftsbereiches Gleichstellung und Integration fortgeschriebenen Zuwanderungs- und Integrationskonzeptes für den Freistaat Sachsen, kurz ZIK genannt.