Protocol of the Session on November 9, 2016

Ja, außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen.

(Enrico Stange, DIE LINKE, steht am Mikrofon.)

Nur bezweifele ich, zumindest aus Sicht meiner Fraktion, dass Schaufensteranträge solche außergewöhnliche

Maßnahmen sind. Sie sind es schon deswegen nicht, –

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

– weil wir solche Anträge ja häufiger von Ihnen bekommen.

Herr Hartmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ja, aber gern, Herr Präsident.

Herr Abg. Stange, bitte.

Vielen Dank, Herr Präsident! Kollege Hartmann, vielen Dank. Geben Sie mir darin recht, dass in der Formulierung in Punkt 2 unseres Antrags – ich darf kurz zitieren – „die bereits erkennbaren Schlussfolgerungen zur Sicherheitsgewährleistung“ mit dem Wort „bereits“ eine Voraussetzung in diesen Antragspunkt eingefügt wurde. Es ist eine Voraussetzung, dass bereits Schlussfolgerungen, also Erkenntnisse, vorliegen müssen, um das Folgende im Antragspunkt erfüllen zu können. Würden Sie mir darin recht geben?

Ich würde den Ansatz im Grundsatz mittragen. Allerdings wird uns Dialektik an der Stelle auch nicht weiterhelfen; denn jetzt könnte ich Ihnen entgegnen: Würden Sie mir zustimmen – das ist eine rhetorische Frage –, dass mit Blick auf ein von Ihnen

gefordertes Gesamtkonzept es nicht sinnvoll sein kann, jetzt einzelne aktionistische Maßnahmen zu ergreifen – in von Ihnen nicht näher definierter Art und Weise –,

(Zuruf des Abg. Klaus Bartl, DIE LINKE)

um damit eigentlich ein Ziel zu erreichen: der Staatsregierung unnötigen Aktionismus dann wiederum vorzuwerfen?

Insoweit ist Ihr Antrag in sich nicht stringent und schlüssig. Er wäre es an der Stelle, wenn Sie jetzt mit eigenen Änderungsanträgen innerhalb dieses Haushaltsprozesses weiter vorangehen würden.

Im Übrigen erlaube ich mir festzustellen, dass es höchst außergewöhnlich ist, dass Sie die Staatsregierung auffordern, eine Ergänzungsvorlage einzubringen. Der gewöhnliche Weg wäre: Sie leisten jetzt mit Änderungsanträgen Ihren Beitrag, und wenn die Staatsregierung Handlungsbedarf sieht, kommt sie ihrer Verantwortung nach.

Ansonsten, Herr Stange, haben wir keinen Dissens. Wir haben auch keinen Dissens hinsichtlich der unzulässigen Zitierung aus einem Protokoll der Ausschusssitzung, sowohl der Staatsminister des Innern, die Staatsregierung – insoweit war der Hinweis ja richtig –, als auch die Regierungskoalition. Das habe ich auch in meiner Rede ausgeführt.

Was die Frage des Einsatzablaufes und der einzelnen Maßnahmen betrifft, sehen wir durchaus Handlungs- und Aufarbeitungsbedarf, der sich vor allen Dingen mit der Erkenntnis einer völlig veränderten Lage, eines völlig anderen Tätertypus und anderen Gefährdungspotenzialen beschäftigt. Daraus resultierend sehen wir natürlich den Ausbildungs- und Fortbildungsbedarf, einschließlich zur Frage von Amoklagen und Terrorismus. Übrigens haben wir in Sachsen in den letzten Jahren – ich verweise beispielsweise auf letztes Jahr – zum Thema Terrorpaket 2 die ersten entscheidenden Maßnahmen getroffen, bevor eine solche Situation eingetreten ist. Den Eindruck hier jedes Mal zu vermitteln, wir würden nur auf Entwicklungen reagieren, die schon eingetreten sind, ist falsch.

Kurzum: Wir sind im Inhalt durchaus beieinander, was die Frage der Stärkung der Ausbildungskapazitäten, der polizeilichen Fortbildung, der Ausrüstung und der Fortbildungsmaßnahmen betrifft. Aber ob es der Schaufensterdebatten in diesem Haus bedarf oder ob wir nicht besser sachliche Ausschuss- und Detailarbeit leisten sowie vor allem der Staatsregierung die Möglichkeit geben, ein entsprechendes Maßnahmen- und Handlungspaket vorzulegen, wofür die ersten Schritte im Haushaltsentwurf zu sehen sind, bedarf anscheinend einer unterschiedlichen Sichtweise.

Es bleibt dabei: Wir werden Ihrem Antrag nicht zustimmen. Er ist inhaltlich schlecht gemacht. Er ist nicht erforderlich. Da helfen auch Ihre Dialektik und Ihre vernünftige Rhetorik nichts.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU und der SPD – Zuruf des Abg. Enrico Stange, DIE LINKE)

Meine Damen und Herren! Ich frage nun in die Runde: Gibt es weitere Wortmeldungen aus den Reihen der Fraktionen in der dritten Rederunde? – Das ist nicht der Fall. Jetzt frage ich die Staatsregierung erneut: Wird das Wort gewünscht? – Bitte sehr, Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! „Andauernder faktischer Schlafentzug durch sogenannte Selbstmordprävention zerstört einen Menschen physisch und psychisch. Es ist eindeutig eine Verletzung der Menschenrechte und mit nichts zu rechtfertigen.“ Dieses Zitat der Bundestagsabgeordneten Renate Künast ist etwa anderthalb Jahre alt und bezieht sich auf die in Abständen von 15 Minuten vollzogenen Suizidpräventionskontrollen eines damals in NordrheinWestfalen einsitzenden Untersuchungsgefangenen.

Dieses Zitat verdeutlicht, vor welchen Herausforderungen die Entscheidungsträger in den Justizvollzugsanstalten tagtäglich stehen. Sie sehen sich in einem zutiefst grundrechtsintensiven Bereich täglich Entscheidungen gegenüber, die einerseits kaum zu rechtfertigende Grundrechtseingriffe oder andererseits fatale Folgen für Gefangene, Mitgefangene oder Bedienstete nach sich ziehen können.

Diese Entscheidungen können – und das macht der Fall al-Bakr deutlich –, jedenfalls rückblickend betrachtet, auch falsch sein. Bewusst werden sollten wir uns aber bei der Bewertung dieser Entscheidungen, dass die Suizidprävention nur ein Baustein im Alltag des Justizvollzugs ist. Im sächsischen Justizvollzug messen wir aber gerade diesem Baustein generell einen sehr hohen Stellenwert bei.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Vordergrund der Arbeit in den Justizvollzugsanstalten steht immer die Sicherheit und Ordnung der Anstalten, das heißt, die Sicherheit der Mitgefangenen, Bediensteten und letzten Endes aber auch die Sicherheit von uns allen, der Bürgerinnen und Bürger. Deshalb sind Begriffe wie Staatsversagen oder voreilige Negativbewertungen der Ereignisse im Fall al-Bakr ohne Kenntnis des Sachverhaltes und der rechtlichen Grundlagen wenig hilfreich. Sie sind sogar kontraproduktiv, denn sie diskreditieren die aufopferungsvolle und verantwortungsvolle Arbeit der Bediensteten. Dabei beziehe ich neben den Mitarbeitern im sächsischen Justizvollzug ausdrücklich die der sächsischen Ermittlungsbehörden, von Polizei und Staatsanwaltschaften und des Verfassungsschutzes mit ein; denn gerade diese Menschen sind es, die mit ihrer Arbeit täglich Straftaten und möglicherweise auch Terroranschläge verhindern oder aufklären.

In der Debatte zu den Umständen der Verhaftung und der Inhaftierung und des Suizids des Terrorverdächtigen alBakr verlieren wir eines aus den Augen: dass dank der Arbeit des Verfassungsschutzes und der sächsischen

Sicherheitsbehörden ein wahrscheinlich schwerer Terroranschlag in Deutschland verhindert werden konnte und möglicherweise der Verlust vieler Menschenleben nicht zu beklagen ist. Auch Sie, ich, vielleicht unsere Familien hätten Opfer eines schrecklichen Attentats werden können. Aber anders als in Belgien und Frankreich und auch anders als in Ansbach und Würzburg konnte ein solcher Terrorakt verhindert werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das eingangs angeführte Zitat führt uns aber auch vor Augen, wie schwierig es ist, unsere rechtsstaatlichen Grundsätze im ganz konkreten Einzelfall anzuwenden. Unser Rechtsstaat unterscheidet aus guten Gründen nicht zwischen Straftätern erster, zweiter und dritter Klasse. Bei uns gibt es zu Recht keine Gefängnisse, in denen Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte von Gefängnismauern ausgesperrt werden, und es sind gute Gründe, aus denen alle Gefangenen zunächst einmal nach denselben Grundsätzen behandelt werden.

Mich macht es nachdenklich, wie schnell man auch in vielen Teilen demokratischer Kräfte, jedenfalls angesichts der öffentlichen Verlautbarungen zum Fall al-Bakr, bereit ist, die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und Verhältnismäßigkeit beim Kampf gegen Terrorismus – und ich stelle mir die Frage, bei welchen Sachverhalten in Zukunft vielleicht noch – über Bord zu werfen.

(Beifall bei der CDU, der SPD, den LINKEN und vereinzelt bei der Staatsregierung)

Auch der Vorwurf der Ahnungslosigkeit greift aus meiner Sicht und aus Sicht der Staatsregierung zu kurz.

Für uns ist aber auch eines klar: Mögliche Versäumnisse müssen aufgearbeitet werden und – noch viel wichtiger – die richtigen Schlüsse für zukünftiges Handeln müssen wir miteinander finden.

Uns ist natürlich bewusst, dass der mehrtägige Polizeieinsatz nicht so verlaufen ist, wie wir es uns alle gewünscht hätten – am allerwenigsten die Einsatzkräfte selbst. Es ist auch offensichtlich, dass die Prognose zur akuten Suizidalität des gefangenen mutmaßlichen Terroristen nicht zutreffend und die Maßnahmen zur Suizidprävention in der JVA Leipzig im Ergebnis nicht ausreichend gewesen sind. Es ist auch klar: Wer in so kurzer Zeit so gravierende Entscheidungen treffen muss, der unterliegt nun einmal der besonderen kritischen Beobachtung und muss seine Handlungen entsprechend erklären, verantworten und – ganz wichtig – aus möglichen Fehlern lernen.

Dazu werden die sächsischen Behörden in den kommenden Wochen uneingeschränkt ihren Beitrag leisten. Ich kann Ihnen heute noch einmal ganz ausdrücklich persönlich versichern, dass es mir ein wichtiges Anliegen ist, den Fall al-Bakr aufzuarbeiten, gerade auch im Hinblick auf zukünftige, vielleicht ähnliche Situationen im Umgang mit mutmaßlichen islamistischen Terroristen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Staatsregierung steht zu ihrer Verantwortung und will deshalb, dass die Vorgänge im Zusammenhang mit der Festnahme und

Inhaftierung der mutmaßlichen islamistischen Terroristen und der Selbsttötung in der JVA Leipzig unabhängig und transparent aufgeklärt werden. Dazu haben wir bereits – das ist schon angesprochen worden – am 16. und 18. Oktober die notwendigen Beschlüsse gefasst und eine unabhängige Kommission berufen. Vier externe unabhängige Experten besetzen die Kommission, und sie hat unter anderem den Auftrag, die Umstände rund um den polizeilichen Zugriff und die Festnahmen der beiden Terrorverdächtigen aufzuklären, die Umstände der Inhaftierung einschließlich psychologischer Begutachtung, Überwachung und Einbeziehung eines Dolmetschers einzuschätzen, die Standards zur Suizidprävention in den sächsischen Haftanstalten in Bezug auf Selbstmordattentäter zu untersuchen und Empfehlungen zum Änderungsbedarf im Umgang mit internationalen Terrorverdächtigen zu erarbeiten.

Um den Untersuchungsauftrag erfüllen zu können, wurde die Kommission vom Kabinett mit den entsprechenden Vollmachten ausgestattet. Die Expertenkommission plant, ihren Bericht bis zum Ende dieses Jahres der Staatsregierung zu übergeben. Aber ich will dazusagen: Die Kommission ist völlig frei. Wenn sie den Eindruck hat, dass sie längere Zeit braucht, um das zu bearbeiten, dann wird sie das mit Sicherheit tun. Dieser Bericht wird nach einer Behandlung im Kabinett dem Sächsischen Landtag zur Beratung zugeleitet und maßgebliche Beachtung bei der Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen im zukünftigen Umgang mit diesem neuen Täterprofil finden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben ohne Frage die Pflicht, die Vorgänge um die Festnahme und den Selbstmord des mutmaßlichen Terroristen restlos aufzuklären und die richtigen Lehren daraus zu ziehen. Aber ich appelliere an uns alle – gerade heute, an einem 9. November –: Vergessen wir bei aller Aufgeregtheit in der Debatte nie unser Fundament, unsere universellen, für jeden Menschen geltenden Grundrechte. Auch dafür haben Hunderttausende 1989 das Wort ergriffen. Die Feinde unserer Werteordnung hätten den ersten Sieg errungen, wenn wir unsere rechtsstaatlichen Grundsätze im Kampf gegen den Terrorismus infrage stellen würden.

(Beifall bei der CDU, der SPD, den LINKEN und vereinzelt bei der AfD – Beifall bei der Staatsregierung)

Vielen Dank, Herr Staatsminister Gemkow. Wir kommen zum Schlusswort. Herr Abg. Bartl für die Fraktion DIE LINKE, bitte.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Staatsminister, ich habe in keinem Wort einen Dissens mit Ihnen. Ich habe auch die gesamte Zeit in der Fraktion dafür geworben – und die Fraktion ist dafür eingetreten –, dass wir exakt so herangehen, dass wir Wertungen und endgültige Schlussfolgerungen erst dann ziehen, wenn wir die Erkenntnisse haben.

Es ist in diesem Hohen Hause aus anderen Bereichen gekommen, davon zu reden, er sei kein normaler Gefangener, oder zu sagen, er werde behandelt wie ein einfacher Ladendieb. Ich bin auch der Auffassung: Wenn wir beginnen, in Gefangene besonderer Art einzustufen, dann sind wir auch beim nächsten Mal bei der Frage, ob Folter zulässig ist oder Ähnlichem mehr, und das geht nicht.

(Beifall bei den LINKEN)

Da sind wir völlig mit Ihnen d’accord, keine Frage.

(Zuruf des Abg. Valentin Lippmann, GRÜNE)

Der zweite Punkt – es steht im Antrag drin, da ist von Staatsversagen die Rede. Sie werden in meiner Rede kein Wort von Staatsversagen finden, nur im Kontext mit – Bundesjustizminister Maas.

(Zuruf des Abg. Martin Modschiedler, CDU)

Gut, dann nehme ich „Staats“ zurück und spreche von Versagen. Mein Problem ist: Wir haben definitiv – da sind wir doch alle nicht blauäugig genug – bereits hinreichende Erkenntnisse, dass das alles nicht ideal gelaufen ist.

Nun geht es inzwischen darum – das ist einfach unsere Auffassung –, heute von der Regierung die bisher gesammelten Erkenntnisse zu hören. Die Regierung kann meinethalben sagen, dass es verantwortungsbewusst gelaufen ist. Wir wollten es in diesem Fall aus dem Mund des Ministerpräsident hören, weil nun einmal dieses Sachsen-Bashing stattgefunden hat.