Nun tut sich der eine oder andere mit dem Begriff Inklusion vielleicht noch schwer. Auf der einen Seite sorgt er für Begeisterung, für Enthusiasmus, auf der anderen Seite aber auch für Skepsis und Ängste. Das liegt auch daran, dass die Diskussion um den Begriff Inklusion teilweise mit Extrempositionen geführt wurde, wie zum Beispiel die sofortige Abschaffung aller Förderschulen. Das verängstigt natürlich. Insofern wünsche ich mir von der Kampagne, dass sie auch dazu beiträgt, dass wir dem Begriff Inklusion in Sachsen unverkrampft und natürlich begegnen. Jeder und jede von uns im Raum kann auf dem Weg in die inklusive Gesellschaft seinen/ihren Beitrag leisten, ganz unabhängig davon, ob ich mich dabei auf die UN-Behindertenrechtskonvention oder das Alte Testament berufe.
Für die ebenfalls einbringende SPD-Fraktion sprach gerade Frau Kollegin Kliese. Jetzt geht es weiter in der Reihenfolge der Redner mit den LINKEN, der AfD, den GRÜNEN und der
Vielen Dank, Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! „Behindern verhindern – der Freistaat Sachsen auf dem Weg in die inklusive Gesellschaft“, heute die erste Aktuelle Debatte am Plenartag. Und nicht weil es die Behinderten verdient haben, Herr Krasselt. Der Freistaat Sachsen sollte sich das leisten, die Menschen im Freistaat Sachsen haben es verdient, darüber nachzudenken, welches Menschenbild sie haben. Meinen Sie alle Menschen im Freistaat Sachsen? Die Einbeziehung von Menschen in die Gesellschaft, das ist eigentlich das, was der Begriff Inklusion meint, Herr Krasselt, und nicht schon wieder diese Abstufung mit dem defizitären Ansatz von Menschen mit Beeinträchtigung. Nein, wir haben es alle verdient. Darüber müssen wir immer wieder nachdenken. Insofern begrüße ich die Initiative.
Ich bin der Sächsischen Staatsregierung, insbesondere der Staatsministerin, dankbar, dass sie nach den gemeinsamen Gesprächen mit den Menschen mit Beeinträchtigungen in den Behinderten- und Sozialverbänden die Initiative gestärkt hat. Als ich gefragt wurde, ob ich mir vorstellen könne, ein Botschafter dieser Kampagne zu sein, war das für mich gar keine Frage. Selbstverständlich möchte ich das sein. Ich lebe ein Leben lang als Mensch mit Beeinträchtigungen und seit 2000 eben als Mensch im Rollstuhl, der von heute auf morgen eine völlig andere Perspektive auf die Gesellschaft hatte. Für mich ist es schon immer wichtig, nicht nur Forderungen an andere zu artikulieren – das ist leicht –; viel schwieriger ist es, die Forderung an sich selbst zu haben. Aber das ist nicht nur der Blick für die Menschen mit Beeinträchtigungen, die Forderung an sich selbst muss jeder selbst stellen. Was will ich leisten in der Gesellschaft? Welche Ausbildung will ich absolvieren? Überhaupt, welchen Beitrag will ich leisten. Das unterscheidet uns gar nicht.
Hanka Kliese, ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren Beitrag, auch für den emotionalen Beitrag, den Sie hier gegeben haben. Das spiegelt das Problem in der Gesellschaft wider. Was erlauben wir uns über andere zu richten oder eben nicht? Wir sind Menschen und wir wollen als Menschen wahrgenommen werden. Das sage ich als einer, der im Rollstuhl sitzt. Nun weiß ich, dass die Kampagne allein noch längst nicht die inklusive Gesellschaft schafft. Hanka Kliese hat das angedeutet.
Herr Krasselt, es ist nicht nur die Opposition, die sauer darüber ist, dass der Freistaat Sachsen ganz hinten hängt, auch Sie müssten darüber sauer sein, damit Sie endlich mit Vorreiter und Pionier werden, wenn es um die Schaffung der inklusiven Gesellschaft geht. Wir sind jetzt auf einem guten Weg und das soll die Kampagne mit leisten. Wir brauchen also ganz konkrete Maßnahmen, die Barrieren, wo wir sie in der Gesellschaft noch finden, abbauen,
und zwar in allen Bereichen. Sind diese abgeschafft, ist es wirklich möglich, am Leben in der Gemeinschaft teilhaben zu können. Nehmen wir die sprachlichen Barrieren. Es sollte selbstverständlich sein, dass ein Gebärdensprachdolmetscher Landtagssitzungen und nicht nur zu einer Aktuellen Debatte und nicht nur zu einem besonderen Thema für die Menschen da draußen übersetzt, die uns nicht verstehen können.
Ich möchte in dieser Runde auch sagen, dass wir einen erlauchten Kreis an Botschaftern haben. Einige sind hier im Saal im Publikum, der Beauftragte für die Belange der Menschen mit Behinderung im Freistaat Sachsen, Stefan Köhler, Silke Hoekstra als die Geschäftsführerin der Lebenshilfe, Prof. Kahlisch als Chef der Deutschen Zentralbücherei für Blinde und mein Freund Uwe Adamczyk, der übrigens auch mal Landtagsabgeordneter war und der sich sehr für unsere Interessen stark gemacht hat.
Und, meine Damen und Herren, wir brauchen noch viele, viele Initiativen im Freistaat Sachsen, die wirklich die inklusive Gesellschaft ermöglichen. Es ist auch an der Zeit, dieses schwierige Gesetz – und jetzt sage ich das mal –, Gesetz zur Verbesserung der Integration von Menschen mit Behinderung im Freistaat Sachsen, abzulösen durch ein sächsisches Inklusionsgesetz. Das ist auch an der Zeit, wenn wir es ernst meinen wollen mit der inklusiven Gesellschaft, meine Damen und Herren.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dass im Jahre 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention auch in Deutschland in Kraft getreten ist und damit gewährleistet werden soll, dass Menschen mit Behinderung vollumfänglich am gesellschaftlichen Leben beteiligt werden, war zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung.
Wenn jedoch von einer inklusiven Gesellschaft gesprochen wird, dann ist mit Sicherheit nicht jedem klar, was das eigentlich bedeutet. Der Kampfbegriff Inklusion geistert durch Politik und Medien und wird von vielen missverstanden oder falsch interpretiert. Zudem wird meines Erachtens vieles, so zum Beispiel Inklusion und Integration, in einen Topf geworfen, obwohl sich beides grundlegend unterscheidet. Auch wenn sich die Teilhabe nicht nur auf den Bereich der Bildung bezieht, möchte ich zuerst auf genau diesen Bereich eingehen, da er in dieser Diskussion einen sehr hohen Stellenwert besitzt.
Mit der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention haben benachteiligte Kinder einen Anspruch auf den Besuch einer Regelschule. Dies ist erst einmal grundsätzlich zu begrüßen. Das heißt aber per se nicht, dass Kinder nicht an einer Förderschule unterrichtet werden dürfen, so wie es die Anhänger des radikalen Inklusionsbegriffs fordern. Natürlich ist zu begrüßen, wenn behinderten und nicht behinderten Kindern das Recht auf ein gemeinsames Lernen eingeräumt wird. Aber dort, wo es – beispielsweise bezogen auf Kinder, die an einer starken geistigen Beeinträchtigung leiden – gemeinsames Lernen verhindert, die Grenze des allgemein Machbaren übersteigt oder einfach die Voraussetzungen nicht gegeben sind, muss auf eine Förderschule, die über speziell ausgebildetes Personal und die entsprechenden Lehrpläne verfügt, zurückgegriffen werden.
Jeder sollte nach seinen Möglichkeiten gefördert, gefordert und eingesetzt werden. Das bedeutet aber nicht, dass jeder, aus welchen Gründen auch immer, alles leisten kann. Wir müssen davon wegkommen, Unterschiedlichkeiten als etwas Negatives darzustellen, und dürfen diese Unterschiede nicht immer als Ungerechtigkeit ansehen. Das wäre Gleichmacherei und eine Abkehr, ja sogar eine Ausblendung bestehender Vielfalt. Fördern, aber nicht überfordern – dies gilt sowohl für die nicht behinderten, aber auch für die behinderten Kinder, aber auch für diejenigen, die dies umzusetzen haben. Wir müssen uns zudem bewusst machen, dass Bildung immer noch Bildung und nicht Betreuung bedeutet. Dies darf, wenn wir sachlich über dieses durchaus schwierige Thema diskutieren, nicht ausgeblendet werden.
Ich möchte den ersten Teil meines Redebeitrags gern mit zwei Zitaten beenden und diesbezüglich zum Denken anregen.
Zitat 1: „Die Anwesenheit von Kindern mit besonderen Problemlagen im Regelunterricht kann dabei nur zwei pädagogische Grenzen haben, einerseits das Wohl aller Kinder, anderseits die Leistungsfähigkeit und Gesundheit der Lehrkräfte.“
Zitat 2: „Wie soll es funktionieren, wenn alle Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit demselben Lernstoff folgen? Die einfache Antwort lautet: Das ist unmöglich. Die Anhänger einer radikalen Inklusion verabschieden sich daher ganz klar von zentralen Bildungsstandards.“
In meinem zweiten Redebeitrag werde ich auf die Kampagne und die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention hier in Sachsen Bezug nehmen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht ist der Freistaat ja auf dem Weg, sich auf den Weg in eine inklusive Gesellschaft zu machen. Die Frage ist nur, ob und wann er da auch ankommt. „Behindern verhindern“ ist aber auf jeden Fall schon einmal die richtige Einstellung. Die gleichlautende Kampagne der Staatsregierung hat interessante Motive, die zum Nachdenken anregen. Frau Klepsch hält sie für frech – nun ja.
Sachsen auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft, das hat aber auch wirklich lange gedauert. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist immerhin schon 2009, also vor sieben Jahren, in Deutschland ratifiziert worden, und ohne den Druck, den die Behindertenverbände hierbei auf die Staatsregierung gemacht haben, hätte sie sich wahrscheinlich nie auf den Weg gemacht. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an eine Plenarsitzung in der letzten Legislaturperiode. Damals waren Sie, Frau Clauß, noch Ministerin. Damals hat die GRÜNE-Fraktion die Erarbeitung eines Aktionsplans beantragt, und dazu haben Sie gesagt, Sachsen brauche hier keinen Aktionismus. Damit hat sich die Ministerin quasi gegen einen solchen Plan ausgesprochen. Diese Zeiten sind zum Glück vorbei.
Aber nach wie vor behindern zu viele Widerstände die gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen. Der echte Veränderungswille im Sinne von Weichenstellung ist für mich noch nicht wirklich spürbar.
Warum bin ich noch skeptisch? Ich möchte das kurz darlegen. Wenn Sie sich einmal den Prozess der Erstellung des Landesaktionsplans anschauen, so wurde darin wiederholt von den Behindertenverbänden angemahnt, dass sie ihre Beteiligung eher als Alibi empfunden haben. Sie hatten den Eindruck, dass ihre Stimme kein oder zu wenig Gewicht hat, und das ist doch fatal, meine Damen und Herren, weil es um die Teilhabe von Menschen mit Behinderung geht. Auch das Online-Beteiligungsportal der Staatsregierung ist zunächst mit recht hohen technischen und sprachlichen Barrieren gestartet. Ob auch die gesamte Staatsregierung hier echten Gestaltungswillen hat, möchte ich noch bezweifeln.
Gerade wird ja das Schulgesetz überarbeitet. Eine wesentliche Weichenstellung für gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung wäre zum Beispiel, Begegnung auf Augenhöhe zu ermöglichen. Wo sonst, wenn nicht in der Schule, sollte man das einüben? Gemeinsames Lernen, egal, ob in der Dorfschule oder in der Großstadtschule, legt doch den Grundstein für gemeinsames Arbeiten dann später, gemeinsame Kino- und Schwimmbadbesuche, Theaterbesuche oder zum Beispiel das gemeinsame Leben in einer Wohngemeinschaft während der Ausbildung. Diese wichtige Weichenstellung wird allerdings verpasst, indem Sie es unterlassen, entsprechende Regelungen im Schulgesetz zu treffen. Sie halten eben an der Förderschulpflicht fest. Ihre Inklusionsstrategie in der Schule heißt Inklusion nach Haushaltslage,
nach Ermessen der Schulleiter, und das ist eigentlich das Gegenteil dessen, was die UN-Behindertenrechtskonvention will. Damit verhindern Sie nicht das Behindern; vielmehr wird Behinderung im Schulsystem weiter manifestiert.
Eine andere Weichenstellung wäre zum Beispiel die Absicherung und Herstellung weitestgehender Barrierefreiheit oder Barrierearmut im öffentlichen Raum. Da geht es um Barrieren, die den Zugang zu Gebäuden verhindern. Es geht aber auch um Barrieren, die kulturelle Teilhabe unmöglich machen, um Barrieren in der Kommunikation. Auch diesbezüglich steht die Staatsregierung meines Erachtens wirklich noch am Anfang. Der große Wurf ist hier noch nicht gemacht.
Wir befassen uns ja gerade intensiv mit dem neuen Doppelhaushalt. Dort sind gerade einmal an vier Stellen Mittel für die Herstellung von Barrierefreiheit eingeplant, so für das Programm „Lieblingsplätze für alle“, für ein Fortbildungsprogramm Barrierefreiheit, dann die Zuschüsse, die für barrierefreie Anpassung von Mietwohnungen geplant sind, und natürlich für Barrierefreiheit bei der Informationstechnik und beim E-Government. Die dafür eingestellten Mittel sind aber zunächst einmal nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Das ist allenfalls ein Zeichen, mehr noch nicht, und von einem grundlegenden „Behindern verhindern“ kann beim Thema Barrierefreiheit in Sachsen wirklich noch nicht die Rede sein.
Ich könnte jetzt die Liste der Nachholebedarfe noch fortführen. Aber ich möchte Sie eigentlich motivieren, Frau Klepsch, hier aktiv weiterzumachen.
Haben Sie mehr Mut und treiben Sie vor allem Ihre Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Ministerien an, sich hier wirklich mit mehr Elan und mit mehr Engagement für das Ziel „Behindern verhindern“ ins Zeug zu legen. – So weit von uns.
Mit Herrn Kollegen Zschocke, der für die GRÜNEN sprach, sind wir am Ende der ersten Runde angekommen. Wir eröffnen sofort eine zweite Runde. Für die einbringende CDU-Fraktion spricht erneut Herr Gernot Krasselt.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bevor ich noch einmal auf die Kampagne eingehe, weil vorhin die Zeit nicht ausreichte, möchte ich noch ein paar Grundsätze darstellen. Die Schaffung einer inklusiven Gesellschaft wird immer ein Prozess sein und bleiben. Wir werden nie ein Ende erreichen. Ich denke, das ist uns allen klar.
Ich möchte es aber noch einmal deutlich sagen, damit es jedem klar ist: Bereits vor dem Jahr 2009 gab es im Freistaat eine verantwortliche Behindertenpolitik.
Ich möchte nur an die Behindertenwerkstätten erinnern, die es bis zum Jahr 1990 nicht gab. Sie gibt es inzwischen in erheblichem Maße. Es gibt viele weitere Beispiele. Natürlich hat die UN-Behindertenrechtskonvention – ich sagte es bereits – ein ganz neues, viel stärkeres und tragfähigeres Fundament gelegt.
Was mir bei der ganzen Debatte bisher ein bissschen unangenehm aufgefallen ist, ist der Beitrag der AfD, der sich hauptsächlich mit der Abgrenzung und Ausgrenzung beschäftigte. Wir müssen heute in erster Linie nicht darüber reden, was nicht möglich ist. Wir sollten versuchen zu sagen, was möglich ist.