Hierzu können die Fraktionen jetzt Stellung nehmen. Für die einbringende Fraktion der SPD erteile ich Ihnen, Frau Dr. Stange, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu später Stunde gibt es etwas schwere Kost. Aber ich denke, das Thema ist es wert, dass wir es auf der Tagesordnung haben.
Während uns in den Neunzigerjahren – viele von Ihnen werden sich noch daran erinnern – viele gut qualifizierte junge Menschen, vor allem viele gut qualifizierte junge Frauen, gen Westen auf der Suche nach einem qualifizierten Ausbildungs- und dann auch Arbeitsplatz verloren gegangen sind, ihnen sogar noch Geld dafür in die Hand gegeben wurde, sucht heute nicht nur das Handwerk verzweifelt nach Auszubildenden, wie wir an der Imagekampagne deutlich sehen können.
Betriebe, aber auch Verwaltungen und Schulen werden in den kommenden Jahren nicht nur im Osten, aber dort in besonderem Maße verzweifelt dem qualifizierten Nachwuchs hinterherlaufen. Auch der mangelnde Zuzug von Migranten in Sachsen, im Osten insgesamt, wird die Situation weiter zuspitzen oder – anders ausgedrückt – nicht entschärfen können. Hinzu kommt die Niedriglohnpolitik der Landesregierung und des Verbandes der Sächsischen Wirtschaft, die vor allem gut Ausgebildete, egal ob Facharbeiter oder Akademiker, in andere Bundesländer vertreibt. Bei den Ingenieuren, bei den Ärzten, aber auch bei den Lehrkräften spüren wir das heute schon schmerzlich.
Wer will, dass Fachkräfte nicht nur hier ausgebildet und vielleicht sogar junge Auszubildende nach Sachsen angezogen werden, der muss ihnen hier im Land eine
vernünftige Perspektive geben. Das ist mit einer Niedriglohnstrategie vermutlich auf Dauer nicht machbar.
Aufgrund der demografischen Entwicklung, die sich bereits in den Neunzigerjahren andeutete und die nicht nur den DGB zur Kritik an der Staatsregierung veranlasste, statt des Umzugsgelds für die Auszubildenden vernünftige Ausbildungsplätze auch in der dualen Ausbildung in Sachsen zu finanzieren, ist die Zahl der Auszubildenden fast um die Hälfte gesunken. Waren es 2006 noch knapp 90 000, so sind es derzeit lediglich noch 53 000 junge Menschen.
Wie der jüngste, vor wenigen Tagen veröffentlichte 14. Berufsbildungsbericht der Bundesregierung zeigt, ist das größte Problem das sogenannte Matching, also das Zusammenführen von betrieblichen Angeboten einerseits, egal in welchem Bereich, und der Nachfrage der Jugendlichen auf der anderen Seite. Das trifft sowohl regional zu, also im ländlichen Raum, das trifft die Berufe aber auch anforderungsspezifisch.
Ausbildungsplätze bleiben auch in Sachsen leer oder werden teilweise von den Unternehmen gar nicht mehr angeboten. Vor allem die Kleinstunternehmen im Osten mit weniger als vier Beschäftigten können im Durchschnitt nur noch jeden dritten Ausbildungsplatz besetzen und versuchen es deswegen das nächste Mal kaum noch. Damit werden auch Unternehmensnachfolgen in kleinen und mittelständischen Unternehmen in den kommenden Jahren verstärkt gefährdet sein, vor allem mit Folgen in den ländlichen Regionen.
Das ist vielleicht auch die Auswirkung einer verfehlten Schulschließungspolitik. Der Bürgermeister von Cunewalde, Herr Martolock, hat sich nicht ohne Grund für die Gemeinschaftsschule in seinem Ort eingesetzt. Seine Argumentation war, dass er ein stabiles Gewerbe, stabile Unternehmen in seiner Region haben und fördern möchte und dazu Jugendliche benötigt, die vor Ort bereits jetzt Kontakte mit den Unternehmen aufnehmen können. Das war einer der wesentlichen Gründe, warum er sich für seine Schule im Ort eingesetzt hatte.
Aktuell haben wir 10 722 Schüler auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Demgegenüber stehen sage und schreibe rund 11 400 freie Ausbildungsstellen. Damit kommt eigentlich rein rechnerisch auf jede freie Ausbildungsstelle ein suchender Bewerber. Das ist aber wirklich rein theoretisch. Angebot und Nachfrage passen eben nicht eins zu eins zusammen. Das ist das von mir vorhin erwähnte Matching, das nicht funktioniert.
Sachsen leistet sich trotz dieser bedrohlichen Situation immer noch ein Schulsystem, bei dem mehr als 10 % der Jugendlichen die Schule ohne den niedrigsten Schulabschluss, den Hauptschulabschluss, verlassen. Ein sehr großer Teil davon kommt aus den Förderschulen. Das sind nicht nur junge Menschen, die anschließend eine Perspektive – wenn man das so sagen kann – in einer Werkstatt haben.
Auf unsere Frage, was den Schülerinnen und Schüler an den Förderschulen an Berufs- und Studienorientierung angeboten wird, antwortet die Staatsregierung: „Schülerinnen und Schüler an Förderschulen wurden bereits bisher und werden auch weiterhin entsprechend ihren individuellen Voraussetzungen intensiv in die in allen Schularten etablierten Maßnahmen insbesondere der Berufsorientierung einbezogen.“ Wie viele kommen denn danach tatsächlich in eine Lehrstelle? Es war eigentlich unsere Frage gewesen, ob der Staatsregierung bekannt ist, wie viele junge Menschen von dieser Berufsorientierung so partizipieren, dass sie dann auch eine Ausbildungsstelle bekommen.
Statt mit zahlreichen parallelen Maßnahmen die Förderung von abschlussgefährdeten Jugendlichen und die Berufsorientierung über ESF-Projektmittel in einem undurchsichtigen Dschungel über 2014 hinweg vorzuschreiben, wäre es jetzt dringend an der Zeit, ein nachhaltiges und integriertes Konzept der Förderung und Beratung von Schülerinnen und Schülern bis zum Übergang in eine qualifizierte und anerkannte Ausbildung zu begleiten.
Nein, Frau Kultusministerin und auch Herr Morlok, man kann Ihnen nicht wirklich Untätigkeit in diesem Bereich vorwerfen. Das zeigen die Papiere und Ihre Antworten ohne Weiteres. Es erinnert jedoch eher an ein hektisches, verzweifeltes Agieren einer auf dem Rücken liegenden Landschildkröte. Auch die kommt nicht voran, um wieder auf den Füßen zu stehen, aber sie ist ungeheuer aktiv.
Sachsen finanziert ausschließlich mit jeweils befristeten ESF-Mitteln einen Dschungel voller Angebote im Bereich der berufs- und studienorientierenden Maßnahmen – das einerseits. Andererseits werden, vollkommen unabhängig davon, abschlussgefährdete Jugendliche gefördert. Unternehmen legen sich ins Zeug, veranstalten Tage der offenen Tür und Messen, beteiligen sich an Kammertagen und vieles mehr. Wir haben Praxisberater, Berufsberater, Sozialpädagogen, Kompetenzentwicklung – alles parallel nebeneinander. Am Montag wurde bundesweit durch die Bundesagentur für Arbeit die „Woche der Auszubildenden“ ausgerufen – auch eine gute Maßnahme. Sie wird sicherlich von vielen Jugendlichen und Eltern genutzt.
Im Jahr 2011 lösten dennoch mehr als 30 % einen Ausbildungsvertrag. Mit der vorzeitigen Lösung von Ausbildungsverträgen entstehen für die Betriebe erhebliche Kosten. Die frei gewordenen Ausbildungsplätze können meist ein Jahr lang nicht besetzt werden, und die Jugendlichen verlieren wertvolle Ausbildungszeit.
Die Hauptgründe für die Ausbildungsabbrüche sind falsche Vorstellungen der Auszubildenden – wo ist die Berufsorientierung? –, mit der Ausbildung veränderte Lebensumstände oder individuelle Probleme. Ja, Berufs- und Studienorientierung ist seit 2004 Bildungsauftrag der Schulen, doch leider nicht im Schulgesetz verankert. Schon das würde eine Novellierung des Schulgesetzes rechtfertigen.
Ja, es ist richtig, es gibt ungeheuer viel Engagement innerhalb und außerhalb der Schulen zu beobachten, um
diesem Bildungsauftrag gerecht zu werden. Zahlreiche Bildungsträger sind immer wieder damit befasst, zu prüfen, welches Ministerium auf Landes- oder Bundesebene welches Programm aus- oder umschreibt oder wie der Bildungsträger sein qualifiziertes Personal gegebenenfalls in der nächsten Förderperiode sichern kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer koordiniert eigentlich alle diese Maßnahmen? Wer sorgt dafür, dass die richtigen Instrumente die erhoffte Wirkung zeigen oder gar bei den Schülern eine Berufs- oder Studienorientierung hervorrufen?
Ach ja, ich hatte vergessen, dass es neuerdings die Koordinierungsstellen Berufs- und Studienorientierung gibt. Das ist auch eine gute Maßnahme, die zum Glück sogar die Förderlücke übersteht, bis 2015 der Anschluss kommt. Nur sind sie leider nicht flächendeckend vorhanden, auch wieder mit ESF-Mitteln gefördert und auch wieder befristet.
Warum interessiert die Landesregierung eigentlich nicht, ob die Ziele dieser Maßnahme tatsächlich erreicht werden, mehr Jugendliche in eine qualifizierte Ausbildung bzw. ein Studium zu bringen und dies erfolgreich abzuschließen? Das war unsere Frage nach einer Evaluierung und nicht nach den EU-Förderkriterien.
Die Schulen und auch die Bildungsträger sind zunehmend und zu Recht von den immer wieder neuen Maßnahmen genervt. Das konnten wir jüngst bei unserem runden Tisch feststellen. Die Maßnahmen haben zu kurze Laufzeiten, immer neue Namen werden geboren, es gibt immer neue Finanzierungsregelungen und einen hohen Aufwand der Beantragung. Die aktuellen Probleme beim Auslaufen der Förderperiode und der Bruch vor dem Start einer neuen ESF-Förderperiode zeigen diese Probleme mehr als überdeutlich.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wollen mit unserem Antrag erreichen, dass diese zahlreichen Maßnahmen endlich grundlegend durch ein stabiles Landesprogramm untersetzt werden, an die sich ESF-Programme andocken und diese unterstützen können. Bestmögliche individuelle Förderung in Berufs- und Studienorientierung bedarf einer Evaluierung nach festgelegten Kriterien, ob die Jugendlichen überhaupt dort ankommen, wo wir sie haben wollen, nämlich in der Ausbildung oder in einem Studium.
Wir schließen uns an dieser Stelle auch der sächsischen Wirtschaft an, die in ihrer Stellungnahme aussagt: Aus Sicht der Wirtschaft bedarf es einer durchgreifenden Systematisierung, Koordinierung und Transparenz sämtlicher Maßnahmen. Für die neue Förderperiode sollten Wirksamkeit von Projekten und deren Praxisnähe in den Mittelpunkt gerückt werden. Ja, genau das will unser Antrag.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das war Frau Dr. Stange für die einbringende Fraktion der SPD. Nach § 86 Abs. 1 Satz 1 unserer Geschäftsordnung müssen Mitglieder der Staatsregierung auf ihr Verlangen jederzeit gehört werden. Das ist jetzt der Fall. Frau Staatsministerin Kurth hat das Wort gewünscht. – Bitte, Frau Staatsministerin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Den richtigen Beruf zu finden ist wahrlich keine leichte Entscheidung. Deshalb stehen unseren Schülerinnen und Schülern vielfältige Orientierungsmöglichkeiten zur Verfügung.
Die Staatsregierung hat in ihrer Stellungnahme zum Antrag bereits ausführlich geantwortet. Ich möchte mich deshalb kurzfassen und nur auf einige wenige Punkte eingehen.
Meine Damen und Herren! Mein Anspruch ist es, alle Schülerinnen und Schüler zu erreichen und diesen Prozess frühzeitig und systematisch zu beginnen. Welche Maßnahmen hat mein Haus in den letzten Jahren initiiert, um unseren Schülerinnen und Schülern die Ausbildungsreife anheimzustellen?
Zunächst einmal ist Berufs- und Studienorientierung seit vielen Jahren fester Bestandteil der Lehrpläne unserer weiterführenden Schulen. Sie wird alters- und schulartspezifisch ab Klasse 5 von jeder Schule mit eigenen Konzepten mit Blick auf die Schulsituation und die regionale Angebotsstruktur umgesetzt. Ausgehend vom Einblickgewinnen in die Arbeitswelt in den Klassenstufen 5 und 6, steht in den Klassenstufen 7 bis 10 im Vordergrund, Zukunftsvorstellungen zu entwickeln und Möglichkeiten zu schaffen, um sich vielfältig auszuprobieren. Die Komplexität der Berufs- und Studienorientierung erfordert an jeder einzelnen Schule das abgestimmte Zusammenwirken von schulischen und außerschulischen Partnern. Diese Zusammenarbeit ist seit Jahren gewachsen und wird vor Ort im Freistaat Sachsen engagiert gelebt.
Damit die Berufs- und Studienorientierung erfolgreich sein kann, braucht sie verlässliche Partner. Ich denke hierbei vor allem an die Bundesagentur für Arbeit. Mit der Regionaldirektion Sachsen hat die Staatsregierung vor fünf Jahren eine Vereinbarung geschlossen und die sächsische Strategie der systematischen Berufs- und Studienorientierung festgeschrieben. Diese dauerhafte Zusammenarbeit ist bundesweit beispielgebend und manifestiert sich gegenwärtig insbesondere in der flächendeckenden Umsetzung der Berufseinstiegsbegleitung und der gemeinsamen Umsetzung unseres Projektes „Praxisberater an Schulen“.
Während mit der Berufseinstiegsbegleitung mittels intensiver persönlicher Begleitung abschlussgefährdete Schüler bis hinein in die Ausbildung unterstützt werden, sind die Praxisberater Ansprechpartner für alle Schüler. Sie sollen die Klassenlehrer der Klassenstufen 7 und 8
koordinierende Arbeit unterstützen und damit für eine zielgenaue Beratung der Schülerinnen und Schüler sorgen.
Anfang März haben sie die Arbeit an 50 sächsischen Oberschulen aufgenommen. Finanziert wird das Projekt zu gleichen Teilen durch Landesmittel und Mittel der Bundesagentur in Höhe von insgesamt 2 Millionen Euro jährlich. Es gilt nun zu schauen, ob und wie die Schülerinnen und Schüler von den Praxisberatern profitieren. Davon abhängig ist der weitere Ausbau des Projektes.
Meine Damen und Herren! Berufs- und Studienorientierung funktioniert nur, wenn kommunale Entscheidungsträger und Wirtschaftsunternehmen mit im Boot sind; denn sie wissen am besten, was sie beispielsweise und wen sie brauchen. Um vorhandene Potenziale zu bündeln, werden seit dem Jahr 2012 regionale Koordinierungsstellen für Berufs- und Studienorientierung über alle Landkreise und die drei kreisfreien Städte eingerichtet, um eine dauerhafte Koordination in festen Strukturen zu ermöglichen.
Diese Koordinierungsstellen werden wir auch in der neuen Förderperiode mit ESF-Mitteln unterstützen. Sie werden ihre Tätigkeit also nachhaltig im gesamten Freistaat Sachsen ausüben können. Ähnliches leistet die Landesarbeitsgemeinschaft Schule-Wirtschaft, die mit ihren regionalen Arbeitskreisen auf dem Vor-Ort-Prinzip aufbaut. Ihre Tätigkeit basiert auf der Freiwilligkeit aller Akteure, dem ehrenamtlichen Engagement sowie der Vielfalt der regionalen Aktivitäten.
Meine Damen und Herren! Momentan befinden wir uns im Übergang zwischen zwei Förderzeiträumen, der überbrückt werden muss, um eine nachhaltige Wirkung zu entfalten. Mein Haus hat daher in den letzten Wochen gemeinsam mit der Regionaldirektion der Bundesagentur eine Übergangsregelung zur Berufsorientierung auf den Weg gebracht. Die Übergangsregelung hat ein Volumen von insgesamt 5 Millionen Euro. Den Trägern wird es damit ermöglicht, die Maßnahmen ohne Fördermittellücke bis zum Start der neuen Förderperiode nachhaltig und kontinuierlich fortzusetzen.
Die Förderung wird mit Beginn des kommenden Schuljahres einsetzen, also lückenlos anschließen. In den letzten Wochen wurden die administrativen Voraussetzungen dafür getroffen. Die Staatsregierung hat die geänderte Förderrichtlinie auf den Weg gebracht. Mein Dank gilt der Regionaldirektion der Bundesagentur, die bereit war, sich sehr zeitnah und unkompliziert an der Übergangsförderung zu beteiligen.
Meine Damen und Herren, nunmehr sind die Träger gefordert, Folgeanträge zu stellen. Sie werden in diesen Tagen durch die Sächsische Aufbaubank informiert. Bis zum 5. Mai 2014 können die Anträge bei der SAB eingereicht werden. Damit ist sichergestellt, dass die Förderung rechtzeitig zum Schuljahresbeginn in der gewohnten Art
Ich denke, wir haben hiermit eine nachhaltige Lösung gestaltet, die sowohl den Schülern als auch den bisher mit großem Engagement in diesem Bereich tätigen Trägern die Fortsetzung der strukturierten Berufsorientierung ermöglicht.