Protocol of the Session on December 14, 2012

mit besonderem Entwicklungsbedarf im Freistaat Sachsen

Drucksache 5/10649, Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Meine Damen und Herren! Es liegt keine Empfehlung des Präsidiums vor, eine allgemeine Aussprache durchzuführen. Von daher spricht nur die einreichende Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Für die Fraktion hat jetzt dazu die Gelegenheit die Abg. Giegengack. Bitte schön, Sie haben das Wort.

Vielen Dank, Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich möchte meine Rede gern zu Protokoll geben und bitte um die Überweisung an den Ausschuss

für Schule und Sport und den Haushalts- und Finanzausschuss.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das kommt jetzt etwas überraschend. Ich sehe aber von Ihnen, meine Damen und Herren, keinen Protest, sodass wir so verfahren. Aus diesem Grunde lasse ich das zu und wir kommen darüber zur Abstimmung, ob Sie dem Vorschlag des Präsidiums entsprechen möchten, den Entwurf des Gesetzes zur

Stärkung von Kindertageseinrichtungen in Ortsteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf in Sachsen wie beantragt an den Ausschuss für Schule und Sport – federführend – und an den Haushalts- und Finanzausschuss zu überweisen. Wer dem Vorschlag zustimmen möchte, hebt bitte die

Hand. – Vielen Dank. Ist jemand dagegen? – Das ist nicht der Fall. Möchte sich jemand enthalten? – Auch das ist nicht der Fall. Damit ist die Überweisung des Gesetzentwurfes beschlossen und dieser Tagesordnungspunkt beendet.

Erklärung zu Protokoll

Charakteristisch für die Lebenslage „Armut“ ist, dass sie vielfältige Desintegrationseffekte umfasst und sich sozialräumlich niederschlägt. Wohngebiete, in denen sich Menschen mit wirtschaftlichen und/oder sozialen Problemen konzentrieren, sind gekennzeichnet durch hohe Einkommensarmut, fehlende oder unterdurchschnittliche Integration in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt, zum Beispiel aufgrund von Sprach- oder Bildungsdefiziten, und einen erhöhten Jugendhilfebedarf.

Diese Quartiere vollziehen meist über Jahre eine Abwärtsentwicklung, das heißt, die selektive Migration wird stärker, die sozial aktiven und kompetenten Bewohner wandern ab. Die Konflikte innerhalb solcher Quartiere spitzen sich zu, das Leben in diesen Quartieren, in denen sich die Benachteiligten konzentrieren, wird selbst benachteiligend.

Kindertagesstätten kommt in diesem Prozess eine wichtige gegensteuernde Bedeutung zu. Sie können dem sich in vielfältiger Form im Alltag der Kinder niederschlagenden Desintegrationsprozess effektiv entgegenwirken.

So kommt Prof. Holger Brandes in der durch das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst in Auftrag gegebenen Studie „Potenziale in Kindertagesstätten – Erforschung und Entwicklung der Potenziale von Kindertageseinrichtungen bei der Kompensation von Bildungsbenachteiligung von Kindern“ von 2010 zu dem Ergebnis: „Generell schneiden Kinder im Grundschulalter bei Tests umso besser ab, je länger sie den Kindergarten besucht haben. Dieser Effekt ist besonders deutlich bei Kindern aus einkommensschwachen Familien oder mit Migrationshintergrund. Auch zeigt sich, dass das bei niedrigem Bildungsabschluss der Eltern gegebene (statis- tische) Risiko einer Rückstellung vom Schuleintritt durch frühzeitigen Kindergartenbesuch fast vollständig ausgeglichen wird. Aber: Die kompensatorischen Effekte sind nicht nur von der Dauer des Kindergartenbesuchs abhängig, sondern auch von der Qualität der Einrichtung! Diese Qualität hat zu tun mit der pädagogischen Konzeption und deren Umsetzung durch das Fachpersonal sowie den Rahmenbedingungen.“

Über drei Viertel der in oben angeführter Studie befragten Fachkräfte geben an, dass bildungsbenachteiligte Kinder besondere Entwicklungsproblematiken in den Bereichen Konzentration, Problemlösefähigkeit, Sprache und sozialemotionales Verhalten aufweisen, die es auszugleichen gelte, die Zeit für Vor- und Nachbereitung ihrer pädagogi

schen Arbeit als auch für Beobachtung und Dokumentation jedoch weniger bis nicht angemessen sei. Hinzu kommt die notwendig intensivere Elternarbeit. „Kinder generell, insbesondere Kinder aus sozial belasteten Familien, benötigen klare Strukturen und Rahmensetzungen für ihre Entwicklung“, heißt es in der Studie von Brandes. „Sie bringen aus ihrem Elternhaus immer weniger Erfahrungen im Umgang mit elementaren Regeln und Strukturen des Zusammenseins mit. Ob dies mit einer falsch verstandenen ‚Partnerschaft‘ zum Kind zusammenhängt (Winterhoff), ist fraglich, eher schon mit Auflösungserscheinungen familiären Lebens durch Langzeitarbeitslosigkeit, extensiven Medienkonsum und Überforderung der Eltern und hieraus folgend einer Laissez-FairHaltung gegenüber den Kindern.“ Das heißt, Eltern müssen immer wieder angesprochen und motiviert, beraten und in ihrer Erziehungsarbeit begleitet werden. Außerdem ist in Krisensituationen auch von häufigeren Kontakten zu Vertretern des Hilfesystems auszugehen.

Die Personalkapazitäten der Kindertageseinrichtungen gehen mit diesem besonderen Förderbedarf nicht konform. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die in der Bertelsmann-Studie „Wer fördert Deutschlands sozial benachteiligte Kinder? Rahmenbedingungen zur Arbeit von Kitas mit Kindern aus sozial benachteiligten Familien“ befragten Kita-Leitungen den größten Handlungsbedarf bei der Verbesserung der Personalressourcen sehen.

Dieser Problematik versucht sich die geplante Gesetzesinitiative zu stellen. So sollen Kindertagesstätten in Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf auf Antrag und unter Berücksichtigung eines Eigenanteils des kommunalen Jugendhilfeträgers besonders gefördert werden. Besonderer Entwicklungsbedarf liegt vor, wenn der Erwerbslosenanteil an der Bevölkerung des Stadtteils mindestens 15 %, der Anteil von Leistungsempfängern nach SGB II an den Einwohnern des Stadtteils mindestens 30 % und der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund mindestens 5 % betragen. Eine Kindertagesstätte kann eine Förderung erhalten, wenn sie in einem Stadtteil liegt, der mindestens zwei der drei Kriterien erfüllt.

Der Gesetzentwurf soll es Mitarbeitern in Kindertageseinrichtungen ermöglichen – abweichend vom geltenden Personalschlüssel –, zwei Stunden pro Tag zusätzlich für Vor- und Nachbereitung aufzuwenden. Besonderes Augenmerk soll auf die Möglichkeit der aktiven Einbeziehung und Beratung von Eltern gelegt werden. Gute Ansätze hierzu enthält das Konzept der Kinder- und

Familienzentren aus Leipzig, welche sich von einer Kindertageseinrichtung hin zu einem Anlaufpunkt für die gesamte Familie fortentwickelt haben, in denen auch die Eltern umfassend in den Alltag einbezogen werden. Durch den geplanten Gesetzentwurf ist die allgemeine Forderung nach einer Verbesserung des Personalschlüssels an Kindertageseinrichtungen nicht obsolet, er stellt vielmehr eine – dem besonderen Förderbedarf von Kindern aus Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf entsprechende – Ergänzung dar.

Konkret soll in das Gesetz über Kindertageseinrichtungen in Sachsen (SächsKitaG) ein Paragraf aufgenommen werden, der eine Pauschalförderung für Kindertageseinrichtungen in Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf gemäß oben angeführten Kriterien vorsieht. Das Förderverfahren soll dem Förderverfahren in § 18 SächsKitaG entsprechen und in Form eines nicht rückzahlbaren Zuschusses erfolgen. Die Förderung soll für Personalausgaben aufgewendet werden. Die fachlichen Anforderungen, die Höhe der Förderung und die Mög

lichkeiten der Beantragung sollen in einer Rechtsverordnung geregelt werden. Die Förderungsdauer soll ab Genehmigung eine Dauer von zwei Jahren aufweisen, Folgeanträge sollen bei Fortbestehen der antragsberechtigenden Rahmenbedingungen möglich sein.

Entsprechend den oben genannten Kriterien wird erwartet, dass mindestens 57 Kindertageseinrichtungen in den drei kreisfreien Städten einen Anspruch auf die Förderung erheben könnten. Damit wäre ein Mehrbedarf von insgesamt rund 2,4 Millionen Euro verbunden, wobei hiervon 603 000 Euro die kommunalen Jugendhilfeträger zu tragen hätten. Mit der Erhebung der statistischen Daten der Stadtteile wäre kein Mehraufwand verbunden, da die Kommunen und Landkreise diese Daten ohnehin erheben.

Wir bitten um Überweisung dieses Gesetzentwurfes an den Ausschuss für Schule und Sport.

Meine Damen und Herren! Wir kommen zu

Tagesordnungspunkt 4

Babyklappen und anonyme Geburten rechtssicher gestalten

Drucksache 5/10176, Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP

Wir kommen zur Aussprache in der Reihenfolge CDU, FDP, DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, NPD und Staatsregierung, wenn gewünscht.

Für die CDU-Fraktion beginnt mit der Aussprache Frau Abg. Strempel. Bitte, Frau Strempel, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Mutter erstickt neugeborenen Säugling“. Als Mutter macht einen das zutiefst betroffen, stimmt traurig, ist schwer nachvollziehbar und man steht verständnislos da. Trotzdem müssen die Ursachen geklärt werden. Am 27. November 2012 wurde gegen 05:30 Uhr morgens Alarm ausgelöst in der Babyklappe des Krankenhauses Bautzen. Ärzte und Krankenschwestern konnten ein leblos scheinendes Neugeborenes bergen, welches trotz Reanimationsmaßnahmen nicht mehr gerettet werden konnte. Am 29. November dieses Jahres findet ein Pfleger morgens gegen 05:30 Uhr einen nur wenige Stunden alten Säugling im alten Ambulanzeingang des Diakonissenkrankenhauses in Dresden. Nach den ersten Untersuchungen ist das Neugeborene gesund.

Es kann Zufall sein, dass die Ereignisse so kurz nacheinander aufgetreten sind. Gleichwohl lenken sie den Blick auf ein Thema, welches nicht nur emotional schwierig, sondern auch rechtlich, ethisch und gesellschaftlich nicht unproblematisch ist, nämlich die anonyme Geburt. Am bekanntesten in diesem Zusammenhang – ich nannte es bereits – sind die Babyklappen, welche es in Deutschland seit zwölf Jahren gibt. Sie bieten die Möglichkeit, ein Neugeborenes mittels dieser Einrichtung bei einem

Krankenhaus oder bei einem Verein anonym abzugeben, wo eine sofortige Hilfe einsetzen kann. Damit das Neugeborene eine Chance hat, zu überleben und vernünftig aufzuwachsen, sind diese geschaffen worden. Es gibt aber auch an einigen Krankenhäusern die Möglichkeit, dass Frauen ihr Kind zwar anonym zur Welt bringen, aber damit sowohl die Frauen als auch das Kind einer ärztlichen Betreuung unterliegen.

Meine Damen und Herren! Seit der Einrichtung von Babyklappen wird intensiv über das Für und Wider dieser Möglichkeit der anonymen Kindsabgabe diskutiert. Einerseits wird juristisch argumentiert – wir konnten es sicherlich auch schon aus der Zeitung entnehmen –, dass das Recht der Kinder auf Kenntnis der eigenen Herkunft verletzt sei.

(Christian Piwarz, CDU: Artikel 2!)

Das mag ja richtig sein, aber andererseits geht es hier um einen ganz schwerwiegenden Fakt, nämlich um das Leben des Kindes. Durch diese anonyme Abgabe, aber auch durch die anonyme Geburt im Krankenhaus kann ein Kind vor einem möglichen schweren Schicksal oder sogar vor dem Tod bewahrt werden.

(Beifall bei der CDU und der Staatsregierung)

Verschiedene Verneiner der Babyklappen sprechen von einer – das trifft mich als Frau – frauenfeindlichen Einrichtung, da schwangere Frauen keine medizinische oder soziale Versorgung in Anspruch nehmen oder nehmen wollen. Aber warum nehmen diese Frauen das in Anspruch, was verbirgt sich dahinter, welche Verzweiflung

muss man haben, dass man wenigstens das Kind in eine Babyklappe legt?!

Auch wenn rechtlich die Babyklappen nicht abgedeckt sind, weil sie unter anderem gegen das Meldegesetz verstoßen, oder auch nicht abgedeckt sind durch das sogenannte Notstandsrecht oder durch die Hilfeleistungspflicht, wird durch diese Einrichtung mit hoher Wahrscheinlichkeit Kindsleben gerettet. Leider gab es da schon Ausnahmen.

Der Ethikrat hatte sich 2009 allerdings gegen diese Einrichtung, vor allem gegen die Babyklappen, ausgesprochen, unter anderem auch aufgrund des Rechtes der Kinder auf Kenntnis der Abstammung und die grundrechtlich abgesicherte Eltern-Kind-Beziehung, die damit nicht gewährleistet sei.

Trotz dieser Ablehnung möchte ich noch eine andere Seite nennen, nämlich die Studie des Deutschen Jugendinstituts zum Thema „Anonyme Geburt und Babyklappen in Deutschland“, die 2011 veröffentlicht wurde. Diese Studie bietet erstmals halbwegs valide Daten – halbwegs, muss man wirklich sagen –, indem sie Problemfelder aufzeigt. Ein entscheidendes Problemfeld ist, dass trotz allem bestimmte Zielgruppen, die wir erreichen wollen, eben leider nicht erreicht werden.

Interviewte Mütter, welche ihr Kind in einer Babyklappe abgegeben haben, machten deutlich, dass für sie die Situation persönlich extrem schwierig sei. Gerade hier – und das ist vollkommen richtig – ist es Aufgabe des Staates, Maßnahmen mit allen Verantwortungsträgern zu entwickeln und anzubieten. Diese sind zwar vorhanden, aber sie müssen überarbeitet werden, um Müttern in schwierigen Situationen eine vertrauensvolle Unterstützung anzubieten, ohne dass diese Mütter gleich an den rechtlichen Pranger gestellt werden.

Ich möchte aber auch das Sondervotum des Ethikrates kurz zitieren, das Folgendes besagt, allerdings für eine kleine Zahl von Eltern und Kindern. Ich zitiere: „... das Angebot anonymer Kindesabgaben ein letzter Ausweg sein (kann), der ihnen eine Alternative aufzeigt, ihr Kind unversorgt auszusetzen. Deshalb erscheint uns ihre Duldung trotz der aufgezeigten ethischen und rechtlichen Bedenken weiter vertretbar.“

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Solange nicht widerlegt werden kann, dass in extremen Not- und Konfliktsituationen und in akuten Ausnahmesituationen eine Babyklappe sowie die anonyme Geburt in der jetzigen Handhabung selbst nur in wenigen Fällen dazu beiträgt, das Leben von Neugeborenen zu retten, sollen die kritischen Einwände bitte zurückgestellt werden.

(Beifall bei der CDU und der Abg. Gitta Schüßler, NPD)

Ethisch, rechtlich und gesellschaftlich müssen Wege aufgezeigt werden, um zu helfen. Lassen Sie mich bitte auch an dieser Stelle ein Zitat bringen bzw. aus einer Studie vorlesen und ich glaube, das kann schwer jemand

widerlegen: Es ist eine Studie der Medizinischen Universität in Wien, die über die anonyme Geburt erstellt wurde.

Dort wird unter anderem gesagt: Ohne anonyme Geburt gibt es keine Reduktion der Neugeborenentötung. Frau Claudia Klier weist darin nach, dass gerade Schwangere bzw. diejenigen, die ungewollt schwanger sind, meistens das Kind innerhalb der ersten 24 Stunden nach der Geburt töten, weil sie während der Schwangerschaft diese Schwangerschaft verdrängt haben und in den ersten 24 Stunden meist diese Reaktion erfolgt. Sie sagt: „Gerade diese werdenden Mütter versuchen, das Gesundheitssystem zu umgehen. Die anonyme Geburt ist ein sehr effektives Mittel, um diesen Frauen in ihren schwierigen Situationen zu helfen und sie vor, während und nach der Geburt medizinisch und psychosozial zu betreuen.“

Weiterhin wird in der Studie klar zum Ausdruck gebracht, dass die Babyklappe als wichtiges Zusatzangebot gesehen wird. Ich denke, dem ist nichts hinzuzufügen.

Ich wiederhole mich nochmals: Es ist von hoher Wichtigkeit, Angebote für Schwangere und Frauen mit Neugeborenen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt anzusetzen, um eben solche Notlagen zu vermeiden und frühzeitig helfend einzugreifen. Dabei kommt es darauf an, gefährdete und betroffene Frauen rechtzeitig – ich wiederhole: rechtzeitig! – zu erreichen und Vertrauen zu gewinnen. Dazu gehört auch, die Daten nicht um jeden Preis preiszugeben – zum Schutz der Kinder!