Protocol of the Session on December 10, 2009

Der Tagesordnungspunkt ist damit beendet.

Ich rufe auf

Tagesordnungspunkt 11

Gemeinschaftsschulen erhalten – Schulversuche ergebnisoffen weiterführen

Drucksache 5/602, Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

„Längeres gemeinsames Lernen ermöglichen – Rahmenbedingungen für Gemeinschaftsschulen schaffen“ jetzt umsetzen!

Drucksache 5/41, Antrag der Fraktion DIE LINKE, mit Stellungnahme der Staatsregierung

Die Fraktionen können in folgender Reihenfolge in der ersten Runde Stellung nehmen: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, DIE LINKE, CDU, SPD, FDP, NPD und die Staatsregierung, wenn das Wort gewünscht wird.

Meine Damen und Herren! Die Aussprache ist eröffnet. Ich erteile der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Wort. Frau Abg. Annekathrin Giegengack, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn Sie jetzt erwarten bzw. befürchten, dass ich eine zehnminütige Brandrede für die Gemeinschaftsschulen halten werde, dann muss ich Sie enttäuschen. Ich erliege nicht der Versuchung zu glauben, dass, nachdem in diesem Hause schon so viele Stunden über das längere gemeinsame Lernen debattiert wurde, gerade ich die Skeptiker oder gar die Gegner überzeugen kann.

Meine Damen und Herren! Ich bin auch der Ansicht, dass alle Argumente für und gegen das längere gemeinsame Lernen ausgetauscht sind. Die Schuldebatte hat sich längst – und nicht nur im Freistaat – zu einem ideologischen Stellungskrieg entwickelt, bei dem man sich letztlich nur noch die neuesten PISA-Ergebnisse gegenseitig in die Schützengräben wirft. Stellvertretend sei hier nur Hamburg erwähnt.

Es ist eine Tatsache, dass Sachsen, gefolgt von Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen, zumindest im bundesdeutschen Vergleich, sehr gute Ergebnisse bei den PISA-Tests vorweisen kann.

(Beifall bei der CDU)

Genauso ist es eine Tatsache, dass Finnland als Vorzeigenation für längeres gemeinsames Lernen in der PISASpitzengruppe liegt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Gründe für gute PISA-Ergebnisse können nicht nur in der Eigenart des jeweiligen Schulsystems liegen. Nach meiner Überzeugung spielt hierbei sicher auch die Kontinuität von Bildungspolitik an sich eine Rolle.

(Beifall bei der CDU)

Doch, meine Damen und Herren, nach über 20 Jahren mehr oder weniger Alleinherrschaft in Sachsen hat sich die Kontinuität der Bildungspolitik nach meiner Ansicht zunehmend zu einer Erstarrung gewandelt.

(Beifall bei der Linksfraktion)

Selbstherrlich werden Erfolge angepriesen und arrogant werden kritische Fragen abgetan. Dazu passt der Umgang mit der rechtlichen Regelung zu Gemeinschaftsschulen. Ohne die Öffentlichkeit zu informieren, hat das SMK per Rechtsverordnung die Leitlinie zur Gemeinschaftsschule verändert. Bis heute liegt keine offizielle Version der geltenden Regelung vor. – So viel zur Informationspolitik des Kultusministeriums.

Den Gipfel der Überheblichkeit sehe ich persönlich in einer Äußerung des Ministers in der „SZ“. Auf die Zukunft der Gemeinschaftsschule angesprochen, erwiderte er: „Wir wollen keine Reformpädagogik machen, sondern Qualitätspädagogik.“ Diese Äußerung ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht vieler Lehrer und Hunderter Eltern in diesem Land, die sich intensiv für Bildung und Erziehung unserer Kinder engagieren, sondern diese Äußerung zeugt auch von Oberflächlichkeit bei der Auseinandersetzung mit der Sache selbst, denn die Schule von heute, Herr Staatsminister – Ihre eigene Antwort auf meine Kleine Anfrage dazu hat es eindeutig bestätigt – ist ohne die Impulse der Reformpädagogik undenkbar: dass Mädchen und Jungen gemeinsam lernen, dass Klassen ins Schullandheim fahren; Fächer wie Sport und Werken, Ganztagsschule, Projekttage, Projektunterricht und Gruppenarbeit – alles Dinge, die in Reformschulen erprobt wurden und in die Regelschulen übertragen worden sind.

(Beifall bei den GRÜNEN, der Linksfraktion und der SPD)

Was bitte soll Qualitätspädagogik jenseits der Reformpädagogik sein? Wenn Kontinuität nicht zur Erstarrung führen soll, muss man sich auf Neues einlassen. Die Variierung des Dagewesenen – Stichwort Oberschule – ist keine Weiterentwicklung.

Meine Damen und Herren von der Koalition! Sie waren bereits einen Schritt weiter. Einmütig haben Sie sich im Juni 2005 für den Schulversuch „Gemeinschaftsschule“ ausgesprochen. – Herr Herbst, ich würde mich freuen, wenn Sie mir Ihr Ohr leihen könnten. – Vielleicht erinnern Sie sich noch daran: Sie haben damals den Antrag ins Plenum eingebracht und die Gemeinschaftsschulen als einen wichtigen Beitrag der zukünftigen Gestaltung des sächsischen Bildungssystems bezeichnet.

Im FDP-Wahlprogramm unterstützen Sie nicht nur die Gründung weiterer Gemeinschaftsschulen, sondern Sie

fordern für diese Schulen sogar einen eigenständigen schulgesetzlichen Status und dann unterzeichnen Sie einen Koalitionsvertrag, der vorsieht, die Gemeinschaftsschulen abzuschaffen. Das ist für mich nicht mehr nachvollziehbar.

Auch Sie, meine Damen und Herren von der CDUFraktion, haben sich für die Einführung der Gemeinschaftsschulen ausgesprochen. Herr Colditz, nicht gerade als Verfechter längeren gemeinsamen Lernens bekannt, lobte hier im Plenum die sorgfältige Vorbereitung auf die intensive Diskussion aller notwendigen Rahmenbedingungen zur Einführung der Gemeinschaftsschule und sprach von Verlässlichkeit und Transparenz. Ihre Verlässlichkeit reicht, wie es aussieht, gerade einmal vier Jahre.

Der Minister hat für den lapidaren Satz der Koalitionsvereinbarung, dass die bisher genehmigten Schulversuche zur Gemeinschaftsschule abgeschlossen und evaluiert werden, inzwischen mehrere Begründungen gefunden.

Erste Begründung: Wir brauchen keine neuen Schularten. Wir haben in Sachsen ein klares übersichtliches Schulsystem mit zwei weiterführenden Schularten: die Mittelschule und das Gymnasium. Das System ist sehr erfolgreich und sogar Modell für andere Länder. Doch Gemeinschaftsschulen sind keine weiteren Schularten, Herr Staatsminister. Es sind in der Regel Grund- und Mittelschulen, die auf der Grundlage eines Bescheides Ihres Ministeriums den Schulversuch „Schule mit besonderem Profil Gemeinschaftsschule“ durchführen. Nach § 4a Schulgesetz gelten die Gemeinschaftsschulen in der Sekundarstufe I als Mittelschulen. Gern diskutiere ich mit Ihnen, ob wir eine weitere Schulart brauchen, nämlich die Schulart, an der nicht wie bei den Gemeinschaftsschulen ein paar Hundert, sondern knapp 27 000 Schüler in Sachsen lernen, und die Sie gern unterschlagen, wenn Sie Ihr Schulsystem anpreisen, nämlich die Förderschulen. 80 % aller Förderschüler verlassen die Schule ohne Abschluss. Lassen Sie uns über die Sinnhaftigkeit dieser Schulart oder dieses Abstellgleises diskutieren, Herr Staatsminister.

(Beifall bei den GRÜNEN, der Linksfraktion und der SPD)

Ihre zweite Begründung: Sie sagen, Schulversuche seien immer auf eine begrenzte Zeit zur Erprobung neuer pädagogischer und organisatorischer Konzepte angelegt. Daraus kann und darf nicht der Anspruch auf Dauerhaftigkeit abgeleitet werden.

Nun, der Gesetzgeber – und das waren zu dieser Zeit in Mehrheit Sie, meine Damen und Herren von der CDUFraktion – hat im § 15 Schulgesetz keine zeitliche Begrenzung für Schulversuche vorgesehen. In den Leitlinien des Ministeriums zum Schulversuch „Gemeinschaftsschule“ heißt es sogar, dass der Schulversuch bei Erfolg regulär weiterlaufen soll.

Staatsminister Flath entgegnete damals der FDP auf ihr Ansinnen, dass die Gemeinschaftsschulen ja wacklige Schulstandorte retten könnten: „Dies würde auch dem

entgegenlaufen, dass Gemeinschaftsschulen etwas Dauerhaftes sein sollen.“

Ihre dritte Begründung, Herr Staatsminister: Die pädagogisch wertvollen Erfahrungen der Gemeinschaftsschulen sollen nach der Evaluation aufgenommen und an die anderen Schularten, insbesondere an die neue Oberschule, übertragen werden. Dagegen ist absolut nichts einzuwenden, im Gegenteil. Doch das ist noch kein hinreichender Grund, die Gemeinschaftsschulen ganz zu schließen. Das ist eigentlich so, als ob ein Autokonzern ein neues Modell entwickelt, danach die Innovation in die alten Modelle einbaut und den Prototyp verschrottet. Was ist denn das für eine Logik? Ich kann es nicht nachvollziehen. Viele Kunden des Konzerns würden sich sicherlich an den Kopf greifen und genau das tun die Eltern der Kinder in den Gemeinschaftsschulen auch.

In Artikel 101 unserer Verfassung heißt es: „Das natürliche Recht der Eltern, Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu bestimmen, bildet die Grundlage der Erziehungs- und Schulwesens. Es ist insbesondere bei dem Zugang zu den verschiedenen Schularten zu achten.“

Meine Damen und Herren! Es gibt nach meiner Auffassung keinen rationalen Grund und kein dringendes Handlungsbedürfnis, die Gemeinschaftsschulen jetzt abzuwickeln.

(Beifall bei den GRÜNEN, der Linksfraktion und der SPD)

Lassen Sie den Schulversuch „Gemeinschaftsschulen“ ergebnisoffen weiterlaufen. Die Zwischenevaluation im August 2008 weist aus, dass die untersuchten Versuchsschulen durchaus wirksam arbeiten und dass die Schüler in den Fächern Deutsch und Mathematik, auf die Sie so großen Wert legen, sogar leicht bessere Ergebnisse erzielen als die Schüler vergleichbarer Mittelschulen. Stehen Sie zu Ihrem einmal gefassten Entschluss, den Schulen bei Erfolg einen regulären Status zu geben.

Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN, der Linksfraktion und der SPD)

Den Antrag der Linksfraktion wird Frau Falken einbringen. Frau Falken, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Giegengack, Sie haben natürlich recht. Wir haben in diesem Hohen Haus in den letzten fünf Jahren sehr viel, sehr häufig und sehr umfangreich Meinungen und Überlegungen zu der Problematik Gemeinschaftsschulen ausgetauscht. Das ist gar keine Frage. Trotzdem werden wir als Linksfraktion – und ich als bildungspolitische Sprecherin ganz persönlich – in diesen fünf Jahren das Thema Gemeinschaftsschulen im Freistaat Sachsen wach halten. Ich hoffe, dass Sie als Oppositionsfraktionen uns unterstützen werden, weil es die bessere Schulform ist.

Ich glaube, es gibt viele Leute hier im Saal, die dieses auch so sehen, und noch viel mehr Bürgerinnen und Bürger draußen im Freistaat Sachsen, die das ebenfalls so sehen.

(Beifall bei der Linksfraktion)

Schauen Sie sich die Anmeldezahlen in den Gemeinschaftsschulen an. Schauen Sie sich an, wie groß inzwischen die genehmigten Gemeinschaftsschulen bereits sind. Diese Zahlen sprechen für sich.

Wir wollen auch mit der Regierung, die wir jetzt im Freistaat haben, mit Schwarz-Gelb, den Rechtsanspruch von Gemeinschaftsschulen in Sachsen, das heißt, den Rechtsanspruch dieser Schulform im Schulgesetz verankern. Das ist unser Ziel. Da wollen wir nicht noch einmal fünf Jahre warten.

Thüringen geht genau diesen Weg. Thüringen wird mit der neuen Regierung einen Rechtsanspruch im Schulgesetz festschreiben. Das ist ein Ziel, das offensichtlich in anderen Bundesländern überhaupt keine Frage ist. Auch wenn sich der Freistaat Sachsen wegen der PISAErgebnisse sehr rühmt, merken Sie gar nicht, dass in Sachsen die Entwicklung im Bildungsbereich in den Schulen zurückgeht. Sie entwickeln sich im Bildungsbereich zurück.

Nicht das längere gemeinsame Lernen steht auf der Tagesordnung, sondern in der Koalitionsvereinbarung gehen Sie ganz klar davon aus, dass Sie die Hauptschule bereits ab Klasse 5 einführen wollen. Das heißt, Sie gehen einen Riesenschritt zurück.

Wenn ich mir anschaue, dass Herr Zastrow – nun ist er leider – – er ist doch da, ganz in der letzten Reihe, in Ordnung – vorhin, als es ums Geld ging, uns dafür aufschließen wollte, dass wir die Glaubwürdigkeit erhalten sollen, dann frage ich Sie, Herr Zastrow, und natürlich insbesondere Ihre Fraktion: Was ist denn mit Worthalten? Was ist denn im Bildungsbereich zum längeren gemeinsamen Lernen die Glaubwürdigkeit?

(Holger Zastrow, FDP: Alles!)