Protocol of the Session on May 10, 2012

Wie schon gesagt, das schlimme Erbe des Kraken Stasi wird uns lange weiter beschäftigen. Das bestätigt auch die immer noch wachsende Zahl von Auskunftsanträgen, die im I. Quartal dieses Jahres um ein Drittel höher lag als im Vorjahr. Deshalb ist es sehr gut, dass dieses Hohe Haus im Mai vergangenen Jahres mit Lutz Rathenow einen neuen Landesbeauftragten eingesetzt hat. In der Person von Roland Jahn hat auch der Bundestag einen neuen Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen gewählt. Dass der erste Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde Joachim Gauck heute Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland ist, kann von seiner Symbolkraft her gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

(Beifall des Abg. Volker Bandmann, CDU – Beifall bei der Staatsregierung)

Die gegenwärtig aus unterschiedlichen politischen Interessen in Berlin losgetretene Debatte über eine vorzeitige Auflösung der Stasi-Unterlagenbehörde wird deshalb von meiner Fraktion abgelehnt. Viel mehr unterstützen wir die Vereinbarung der Innenminister von Sachsen, SachsenAnhalt und Thüringen, die sich vor drei Tagen für den Erhalt der Stasi-Unterlagenbehörde und ihrer Außenstellen bis mindestens 2019 ausgesprochen haben.

Ich bin dem Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich ausdrücklich dankbar für seine gestrige Presseerklärung, in der es heißt: „Es ist selbstverständlich, dass wir diese Unterlagen so lange zugänglich machen, wie der Bedarf besteht, und das vor Ort. Unseren Bürgerinnen und Bürgern soll auch in den kommenden Jahren Einsicht in die Akten der Staatssicherheit der ehemaligen DDR gewährt werden. Das gehört zur Aufarbeitung dazu und folgt keinem Kalender.“ Warum ausgerechnet Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse sich an die Spitze der Bewegung setzt, die die Auflösung der Stasi

Unterlagenbehörde fordert, muss mir jemand von der SPD erklären.

Meine Damen und Herren! Auslöser unserer heutigen Debatte ist der alljährliche Tätigkeitsbericht des Sächsischen Landesbeauftragten für den Zeitraum vom 1. Juli 2010 bis 30. Juni 2011. Nach dem Ende der verdienstvollen Tätigkeit von Michael Beleites als Landesbeauftragter wurde die Behörde ab Dezember 2010 bis Mai 2011 durch seine Stellvertreterin Frau Dr. Nancy Aris

bis zum Amtsantritt von Lutz Rathenow kommissarisch geleitet. Auch als Lutz Rathenow schwer erkrankte, lag der Hauptteil der Arbeit der Behörde wieder bei Frau Dr. Aris, der an dieser Stelle wie auch ihren Mitarbeitern herzlich Dank gesagt werden soll.

Wie der Bericht ausführlich beschreibt, konzentrierte sich die Arbeit der mit vier Mitarbeitern kleinsten Behörde des Freistaates auf die Beratung von Bürgern, die trotz politisch begründeter Haftstrafen noch nicht rehabilitiert worden sind und folglich auch noch nicht die Opferrente für Haftopfer beantragen konnten. Die hohe Zahl von Beratung Suchenden wird auf das gestiegene öffentliche Interesse an der Aufarbeitung der DDR-Geschichte im Allgemeinen und einer wieder breiter gewordenen Diskussion in den Medien zurückgeführt. Die nicht abreißen wollende Berichterstattung über das Agieren ehemaliger Stasimitarbeiter im benachbarten Bundesland Brandenburg in Politik und öffentlichen Ämtern trägt dazu bei, dass das Thema Staatssicherheit in der öffentlichen Debatte wachgehalten wird.

Ein weiteres, in diesem Umfang neues Phänomen ist die oft telefonische, aber auch persönliche Vorsprache von Menschen, die aufgrund einer Unterbringung in Jugendwerkhöfen und Spezialkinderheimen eine Schädigung erfahren haben. Wir haben heute in der Aktuellen Debatte schon viele schlimme Dinge erfahren. Häufig ist es nicht allein die Suche nach Akten, um das eigene Schicksal zu verstehen, sondern auch die Suche nach Anerkennung für die erfahrenen Leiden und die Hoffnung auf eine Entschädigung. Die diesbezüglichen Erwartungen sind groß und die Unklarheit, wie die möglichen gesetzlichen Regelungen beschaffen sein werden, belastet diese Menschen sehr. Neben der persönlichen Beratungstätigkeit widmete sich der Landesbeauftragte auch der Öffentlichkeitsarbeit und der politischen Bildung an Schulen, um unsere Jugend mit unserer jüngsten Vergangenheit vertrauter zu machen.

Dass der Geschichtsunterricht über die DDR an einigen Schulen noch zu wünschen übrig lässt bzw. von einigen Lehrern lustlos und wenig überzeugend vermittelt wird, kann man zuweilen bei Schülergesprächen im Landtag feststellen. Das ist wohl auch noch Teil unseres Erbes aus dem Volksbildungsministerium der Margot Honecker, die im Gegensatz zu vielen Stasiopfern heute in Chile eine gute Rente bezieht und Gift und Galle auf das wiedervereinigte Deutschland spuckt.

Meine Damen und Herren! Vom jüdischen Friedensnobelpreisträger und Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel stammt der Ausspruch: „Die Vergangenheit können wir nicht mehr ändern, aber wenn wir uns erinnern, haben wir die Kraft, die Zukunft zu gestalten.“

Im Namen der CDU-Fraktion bitte ich den Landesbeauftragten und sein Team, sich an diesem Leitspruch zu orientieren, und danke für die geleistete Arbeit. Dazu wünsche ich besonders Ihnen, lieber Lutz Rathenow, beste Gesundheit.

(Beifall bei der CDU, der FDP und der Staatsregierung)

Meine Damen und Herren! Ich bitte Sie um Zustimmung zur Beschlussempfehlung, die der Verfassungs-, Rechts- und Europaausschuss am 25. April 2012 einstimmig angenommen hat.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU und des Staatsministers Dr. Jürgen Martens)

Mir liegen noch weitere Wortmeldungen vor. Für die Fraktion DIE LINKE Herr Prof. Besier.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Behörde des Landesbeauftragten hat ihren 19. Tätigkeitsbericht vorgelegt und bei allem demonstrierten Fleiß erneut deutlich gemacht, dass sie ihren eigenen Standort noch nicht gefunden hat. Auf Seite 4 heißt es, zwei Themen hätten die Diskussion bestimmt: die zukünftige Anbindung und inhaltliche Ausrichtung der Behörde und die finanzielle Förderung der Verfolgtenverbände.

Ähnlich wie Roland Jahn in Berlin sucht auch Lutz Rathenow nach Möglichkeiten, seine Einrichtung auf Dauer zu erhalten. Das ist jenseits des Gebietes, im Grunde das generelle Problem von zeitlich begrenzten Sonderbehörden. Sie wollen sich verstetigen und finden im politischen Raum immer auch wieder Verbündete. Rathenow treibt die Verteidigung seiner Institution so weit, dass er das Außergewöhnliche gern zur Regel machen und auch den westlichen Bundesländern am liebsten Landesbeauftragte verordnen möchte. Doch die im Westen denken gar nicht daran. Ihnen genügt ihre Landeszentrale für politische Bildung.

Auf Bundesebene – davon war schon die Rede – kämpfen mindestens drei pädagogisch-politische Bewältigungseinrichtungen um Marktanteile. Die Bundeszentrale für politische Bildung und die Stiftung Aufarbeitung warten sehnlichst auf die Auflösung der Stasi-Unterlagenbehörde, deren Aufgaben sie zusammen mit dem Bundesarchiv leicht übernehmen könnten. Um sich nicht überflüssig zu machen, möchte Jahn aus der Behörde einen „Campus für Demokratie“ machen und würde damit in fremden Gewässern fischen. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat sich ganz empört geäußert.

In Sachsen kann freilich eine solche Diskussion nicht aufkommen, weil eine große Mehrheit in diesem Hause an der Sonderbehörde festhalten will und die eigentlich zuständige Landeszentrale für politische Bildung stillhält. Wer allerdings den Bericht aufmerksam liest, dem können Erosionserscheinungen und ein gewisses Maß an Dilettantismus – ich meine jetzt jenseits der zahlreichen Rechtschreibfehler – nicht verborgen bleiben. So heißt es auf Seite 9: „Verallgemeinernd kann man feststellen, dass die Anzahl der Rat Suchenden zwar einerseits tendenziell eher abnimmt, dafür aber die Kompliziertheit der Fälle

zunimmt.“ Insgesamt scheint sich die Beratung immer mehr auf das Feld der Psychotherapie zu verlagern. Immerhin ist von posttraumatischen Belastungsstörungen die Rede. Ob hier „psychologisches Einfühlungsvermögen“, wie es heißt, reicht, scheint eher fraglich. Viel mehr müsste den Betroffenen professionelle Hilfe gegeben werden. Andernfalls könnte eintreten, was wir aus anderen Bereichen sehr gut kennen: eine Fixierung auf die Opferrolle, eine Flucht ins Leid, die einen Neuanfang eher erschwert.

Ein anderes Feld ist auf Seite 11 die Arbeit mit Zeitzeugen: „Unsere Versuche, mehr Zeitzeugen in den Geschichtsunterricht einzubinden, wurden von den Lehrern nicht aufgegriffen.“ Es wäre interessant, die Vorbehalte der Lehrer gegen diese Art von Unterricht in Erfahrung zu bringen. Davon ist nicht die Rede. Was bewegt Lehrer, nicht ewig Zeitzeugen einladen zu wollen?

Bedauerlich scheint mir insgesamt die rituelle Bekräftigung des ewigen Mantras, man dürfe nicht vergessen. Es ist uns schon so eingegraben im Gehirn – –

(Widerspruch des Abg. Martin Modschiedler, CDU)

Sie waren auch nicht dabei. Sie gehören auch zu den Migranten, um mit Herrn Bandmann zu sprechen.

Inzwischen gibt es längst gewichtige Einwände gegen den in Deutschland geradezu obsessiven Erinnerungsboom. Es geht nicht darum, das Leid von Opfern herunterzuspielen.

Ihnen muss Recht widerfahren. Ihre Würde muss wiederhergestellt werden. Aber es gehört eben auch zu unseren anthropologischen Fähigkeiten, zu vergessen und für die Zukunft offen zu sein. Die richtige Balance zwischen Erinnerung und Vergessen muss noch gefunden werden.

(Zurufe von den GRÜNEN)

Gelangweilte Schüler, die angesichts immer neuerer Erinnerungsanstrengungen „abschalten“, führen uns

solche Zusammenhänge vor Augen.

(Zuruf von der CDU: Unerhört! Unerhört!)

Herr Prof. Besier, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ja. Herr Kollege aus dem Westen.

Herr Besier, gehe ich recht in der Annahme, dass Sie – –

Aus Hessen auch noch.

Hessen ganz vorn.

Es geht aber um diese – –

Herr Prof. Besier, die Fragen dürfen Sie nicht stellen. So sieht das die Zwischenfrage vor. Das können Sie vielleicht nachher machen.

Entschuldigung, Herr Präsident, ich habe nicht gefragt, ich habe nur eine freche Bemerkung gemacht.

Dann ist das ein Weg in die Selbsterkenntnis. Ich würde aber jetzt gern Herrn Modschiedler die Gelegenheit geben, seine Frage zu stellen.

Ich würde nur gern wissen, ob Sie an diesem Ausschuss teilgenommen haben und genau diese Diskussion, die Sie gerade führen, mit den Diskutanten und dem Unterlagenbeauftragten geführt haben, oder ob das jetzt erstmalig hier von Ihnen diskutiert wird bzw. ob es – weitergeführt – nicht besser wäre, solche Diskussionen im Ausschuss zu führen, wo sie hingehören.

(Vereinzelt Beifall bei der CDU)

Im Ausschuss können wir die Diskussionen gern weiterführen. Ich bin ohnehin am Ende.

Ich meine Betroffenen-Erinnerung als Beruf. Das läuft nicht – nicht einmal in Sachsen.

Vielen Dank.

(Vereinzelt Beifall bei den LINKEN)

Für die SPD-Fraktion spricht als nächste Rednerin Frau Kliese.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst ganz kurz an meinen Vorredner, Herrn Prof. Besier: Ich halte es für ein Totschlagargument, Ihnen vorzuwerfen, dass Sie aus dem Westen kommen. Ich bin Jahrgang 1980. Ich selbst habe das auch nicht erlebt. Allerdings habe ich nach all dem, was ich gelesen und von Zeitzeugen erfahren habe, den Eindruck, dass sich das Thema nicht dazu eignet, es in einem derartigen Laissez-faire-Stil und mit einer derartigen Flapsigkeit vorzutragen, wie Sie das hier getan haben.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der CDU, der FDP und den GRÜNEN)