Erstens: Kinder wurden mit der Hand wiederholt und hart oder mit Gegenständen in das Gesicht geschlagen.
Kindern die Speisen gewaltsam eingeführt; bei einem sechs Monate alten Säugling trat hierdurch der Erstickungstod ein.
Das ließe sich noch fortsetzen. Das möchte ich uns jetzt jedoch ersparen. Ich denke, dass man durch die genannten Punkte einen ganz guten Überblick darüber erhält, was dort alles stattgefunden hat.
Ich möchte aber nicht nur die Staatsanwaltschaft der DDR zu Wort kommen lassen, sondern vor allen Dingen die Opfer, weil sie lange Zeit nicht gehört worden sind.
Meine Damen und Herren, ich bin mir darüber im Klaren, dass wir hier nicht alles aus der Opferperspektive regeln können, weil das unseren Rechtsstaat am Ende schädigen würde. Jedoch glaube ich zumindest, dass wir sie hören müssen, dass wir ihnen Respekt und Aufmerksamkeit zukommen lassen müssen.
Ich habe hier ein Zitat einer Betroffenen bzw. eines Betroffenen – das wissen wir nicht –: „Die Erzieher meinten, ich sollte eine sozialistische Persönlichkeit werden. Ich sollte begreifen und akzeptieren, dass die Gruppe, also das Kollektiv und die Arbeit, die höchsten Güter der DDR seien.“
Das Kollektiv und die Arbeit, die höchsten Güter der DDR – man möchte doch meinen, das höchste Gut sei die Menschenwürde. Auch die DDR hat mit ihrem Beitritt zur UNO im Jahr 1973 die UN-Menschenrechtskonvention anerkannt. Doch in solchen Heimen galt diese eben wenig und wurde mit Füßen getreten.
Es ist an der Zeit, dass wir heute diese Debatte führen – für manche ist es sogar schon zu spät, egal ob beim Frauentreffen in Hoheneck oder beim Bautzen-Forum, das heute eröffnet wird. Die Betroffenen werden immer älter und verschwinden irgendwann für immer.
Was wünschen sich diese Betroffenen? Auch dazu möchte ich Ihnen etwas vortragen, das zeigt, wie vielfältig die Wünsche derer sind, die dort gelitten haben. Eine Person wünscht sich Folgendes: „Eine wichtige Rolle wird unabhängig von der ganzen Frage ums Geld spielen, wie die Gesellschaft mit der Tatsache, dass solche Einrichtungen existiert haben und was dort genau passiert ist, als mahnendes Gedenken umgehen.“
Ein zweiter Wunsch geht in eine ganz andere Richtung: „Ich habe schlechte Zähne, und die Zähne wurden im Heim nie behandelt. Ich hatte mit 18 Jahren schon keine eigenen Zähne mehr. Sich eine Zahnbehandlung leisten zu können, das wäre schön.“
Wir sehen, dass es mehrere Dimensionen der Aufarbeitung gibt. Es geht einmal um eine gesundheitliche Rehabilitation. Es geht aber auch um eine gesellschaftliche Debatte.
Meine Damen und Herren! Ich muss ebenso sagen, dass wir in den letzten Jahren kaum versäumt haben, die friedliche Revolution und die Wiedervereinigung mit all ihren Helden und allem, was dazugehört, zu feiern. Wir haben aber vielleicht diejenigen, die nicht im Licht stehen und sich heute nicht mehr lautstark artikulieren können, zu wenig beachtet.
Ich wünsche mir von dieser Debatte, dass sie nicht zur Beweihräucherung Einzelner und zur Aufzählung bestimmter Verdienste von Parteien dient. Ich persönlich denke Folgendes: Wenn es um die Entschädigung und Rehabilitation von Opfern der SED-Diktatur geht, sollten wir alle vor dem Hintergrund der Versäumnisse der letzten 20 Jahre in Demut schweigen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe nicht den Eindruck, dass die heutige Debatte dazu dient, die Verdienste Einzelner herauszustellen. Ich habe eher den Eindruck, dass wir beginnen, über die Situationen in DDR-Kinderheimen nachzudenken und öffentlich darüber zu sprechen. Das halte ich für ungeheuer wichtig.
Man darf an dieser Stelle sagen, dass es natürlich auch ein Verdienst der Staatsministerin und der anderen ostdeutschen Ministerinnen und Minister ist, dass dieses Thema nun öffentlich behandelt und ein Fonds zur Verfügung gestellt wird, der zumindest einen Teil der Spätfolgen zu lindern versucht.
Wir haben alle viel über die Stadt Torgau gehört. Es sind viele Zitate genannt worden. Die Diskussion jedoch auf die Gewaltanwendung in Kinderheimen zu reduzieren halte ich nicht für richtig. Es ist vorgetragen worden, dass es in der DDR durchaus Hinweise darauf gab, was passiert ist. Die Diskussion darauf zu reduzieren ist mir zu wenig.
Natürlich stand hinter dem System der Erziehung ein ganz bestimmtes Menschenbild. Es stand vor allen Dingen dahinter, dass das Kind oder der Jugendliche als Individuum keine Rechte hatte.
Er hatte zumindest dann keine Rechte, wenn er in dieses System hineingeraten war. Dahinter stand, Kinder und Jugendliche zu sozialistischen Personen zu erziehen.
Im Sinne dieses Kollektivgeistes wurde das Leben in den Einrichtungen gestaltet. Ich möchte dazu einen Betroffenen zitieren, der Folgendes sagt: „Alles wurde gemeinsam
in der Gruppe erledigt: das Aufstehen, das Frühstück, der Weg zur Schule, Aktivitäten auf dem Heimgelände, das Mittagessen, gemeinsam zwei Stunden Hausaufgaben, zwei Stunden Freizeit, im Gruppenbereich gemeinsam Aktuelle-Kamera-Nachrichten schauen, anschließend
politische Diskussionen über Themen der Zeit führen, danach Schlafengehen im Acht-Mann-Schlafraum und zwischendurch noch eine Schrankkontrolle, dass alles auf den Zentimeter genau lag.“ Es ist keine Rede von Missbrauch und Gewaltanwendung. Es ist von einer alltäglich empfundenen Situation die Rede, in der der Einzelne als Individuum keine Rolle mehr gespielt hat.
Wenn wir darüber nachdenken, wird uns klar, dass diese Situation sicher nur zu einem geringen Teil mit einem Entschädigungsfonds aufgefangen werden kann. Was wir brauchen, ist Folgendes: Wir müssen öffentlich darüber sprechen, dass Menschen über ihre Vergangenheit reden können. Das konnten sie bisher nicht, weil sie nach wie vor stigmatisiert werden, wenn sie in einem Kinderheim aufgewachsen sind. Wir brauchen in erster Linie keine Schuldzuweisungen an die Erzieherinnen und Erzieher. Selbstverständlich gab es – wie überall – auch welche, die versucht haben, sich in diesem System als Menschen zu verhalten und den Kindern Liebe zu schenken, die sie so dringend gebraucht haben.
Ich habe, als ich mit der Debatte konfrontiert wurde, über Folgendes nachgedacht: In der Stadt, aus der ich komme, gab es vier Kinderheime. Wenn ich die Zahlen insgesamt betrachte, denke ich, dass wir überproportional repräsentiert waren. Als Kind war ich in zwei dieser Kinderheime zu den Ferienspielen. Ich hatte nicht den Eindruck, der hier so allgemein geschildert wird. Das sage ich ehrlichkeitshalber dazu. In einem Kinderheim war ich allerdings nie. Dies war ein Kinderheim für behinderte Kinder. Diese Kinder haben heute hier in der ganzen Diskussion höchstens am Rande eine Rolle gespielt. Das sind die Menschen, die ihre Rechte und ihre Verletzungen nachträglich kaum noch einklagen werden oder es können.
Es gab in unserer Stadt zudem ein Säuglings- und Dauerkinderheim. Es wird schwierig sein, die Schäden, die durch die Trennung von den Familien – aus welchen Gründen auch immer – entstanden sind, heute in Form einer Entschädigung zu behandeln.
Deshalb sollten wir darüber nachdenken, ob wir dem Land Thüringen folgen. Dieses hat zusätzlich zu diesem Fonds seit vielen Jahren einen Runden Tisch eingerichtet, an dem über solche Dinge gesprochen wird und somit der Öffentlichkeit gezeigt wird, dass es ein Thema ist. Wir wissen, dass die Menschen noch heute unter diesen Situationen leiden. Wir wissen ebenso, dass das mit Geld allein nicht zu reparieren sein wird.
Das war Frau Herrmann für die Fraktion DIE GRÜNEN. – Jetzt spricht für die NPD-Fraktion Herr Löffler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wenn das Thema der Aktuellen Debatte recht spät festgelegt wurde, begrüßen wir es außerordentlich, dass wir heute innerhalb der Aktuellen Stunde über dieses Thema sprechen können. Es ist bedauerlich genug, dass die Betroffenen lange Zeit warten mussten, um endlich Gehör für das erlittene Unrecht zu finden. Gelegentliche Berichte über den sexuellen Missbrauch oder die Ausbeutung der Arbeitskraft gingen durch die Medien. Wir alle wissen aber auch ganz genau: In den Schlagzeilen ist ein Thema sehr schnell, und genauso schnell ist das Thema aus den Schlagzeilen heraus.
Die Geschichte der Heime und der Jugendwerkhöfe in der DDR wurde in der Öffentlichkeit weitgehend unberücksichtigt gelassen. Gerade der geschlossene Werkhof in Torgau brauchte zwei Jahrzehnte, bis er überhaupt die Beachtung fand, die seiner Bedeutung entsprach. Dabei sollte nicht nur über Missbrauchsfälle in sexueller Hinsicht gesprochen werden, sondern natürlich auch über die Ausbeutung der Arbeitskraft selbst. Betroffene kommen nun nach Jahrzehnten oder nach vor Jahrzehnten erlittenem Unrecht endlich zu Wort und mussten per Gerichtsurteil erzwingen, dass sie ein Anrecht auf eine Entschädigung haben.
In der Presse, beispielweise in der "Mitteldeutschen Zeitung" kann man jetzt Veröffentlichungen finden wie diese – ich zitiere –: „Mit einem System aus 401 Kinderheimen, 42 Spezialkinderheimen und 31 Jugendwerkhöfen wurde in der DDR die Betreuung von Kindern und Jugendlichen sichergestellt, deren Herkunft oder Verhalten problematisch erschien.“ So richtig diese Feststellung ist, so pauschal ist sie eben auch. Es gab durchaus Kinder und Jugendliche, für die die Unterbringung und Erziehung in einem Heim der richtige Weg war. Dabei muss man natürlich zwischen den Kinder- und Spezialheimen unterscheiden. Es bringt überhaupt nichts, eine durchaus korrekte pädagogische Betreuung in den Kinderheimen etwa mit denen in den Spezialheimen oder in den Haftanstalten gleichzusetzen.
Dabei ist es leider eine Ausnahme, dass die Pädagogen, die seinerzeit Verantwortung trugen und auch Schuld auf sich geladen haben, sich heute einmal selbstkritisch zu Wort melden. Zu groß ist offenbar die Gefahr, Fehler der Vergangenheit einzugestehen und dadurch möglicherweise auch Nachteile in der Gegenwart in Kauf nehmen zu müssen.
Es gibt jedoch Ausnahmen. Es handelt sich um Holger Böwing, der seit 20 Jahren Leiter der Förderschule der Gemeinde Herrnhut ist. Erste Berufserfahrungen machte er im Spezialkinderheim in Stolpe im Oderbruch. Er beschreibt die Atmosphäre in diesem Heim wie folgt: Die Atmosphäre war geprägt von militärischen Umgangsformen und physischer Gewalt.
Ich zitiere aus einem Interview, das er dem Stadtkulturmagazin für Rostock und Umgebung im August 2009 gab: „Das Heim war ein Spezialkinderheim mit einer eigenen Schule. Es wohnten dort lauter halbwüchsige Jungen, die lernbehindert und schwererziehbar waren, so wie man das damals nannte. Ich hatte gerade die Uni abgeschlossen, kam aus Rostock mit vielen positiven Grundsätzen, dass man den Schülern mit sonniger Konsequenz gegenübertreten und ihnen ein schonendes Regime bieten sollte. Ich hatte ethisch hohe Ansprüche. Was dort passierte, war jedoch das Gegenteil.“ Weiter schreibt er: „Die meisten Mitarbeiter dort waren schon viele Jahre dabei. Ihr erzieherischer Ansatz war, dass sich die Jugendlichen nicht in einem Förderheim befanden, sondern dort zur Strafe saßen; und diese Strafe durfte sich nicht angenehm anfühlen, sondern sie sollte wehtun.“
Auf die Frage, warum die Methoden der Erzieher damals so hart waren, obwohl doch an der Uni ein ganz anderes pädagogisches Bild vermittelt wurde, gab Böwing zu Protokoll – ich zitiere –: „Die Erzieher und Pädagogen waren in diesem Heim einer permanenten Überforderung ausgesetzt. Das ist ganz natürlich, wenn in einer Klasse oder Wohngruppe ausschließlich Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten zu finden sind. Nicht nur die Kinder wurden durch die Erwachsenen überfordert, sondern eben auch umgekehrt. Das Heim galt dabei eigentlich als eine Art Verwahr- und Strafanstalt, in dem den Kindern eigentlich nur beigebracht werden sollte, wie sie sich innerhalb des Heimes angemessen zu verhalten und zu betragen hatten.“ Er schreibt dazu weiter: „Aber es wurde zum Beispiel" –
– "überhaupt nicht mit dem Elternhaus gearbeitet. Diese Kinder wurden dazu erzogen, innerhalb des Heimes zurechtzukommen, aber auf die Welt draußen wurden sie nicht vorbereitet.“
Für die NPD-Fraktion war das Herr Löffler. – In dieser ersten Runde hat die Staatsregierung nicht um das Wort gebeten. Wir treten in eine zweite Rednerrunde ein und beginnen wieder mit den einbringenden Fraktionen. Zunächst spricht für die CDUFraktion erneut Frau Kollegin Strempel.