Protocol of the Session on May 25, 2011

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nun ist sie also da, die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Zumindest eines kann einen Monat nach Öffnung des Arbeitsmarktes festgehalten werden: Eine bedrohliche Welle von Zuwanderern und Pendlern ist bisher nicht entstanden. Vielmehr ist – in diesem Punkt gebe ich meinem Vorredner recht – europäi

sche Normalität eingekehrt. In einem Wirtschaftsraum, in dem sich Unternehmen frei bewegen können, muss es diese Möglichkeit auch für Arbeitnehmer geben. Alles andere wäre asozial und würde zu sozialen Schieflagen führen, die schließlich zulasten der abhängig beschäftigten Bevölkerung gehen.

(Zuruf des Abg. Andreas Storr, NPD)

Dies haben wir, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, stets so gesehen. Wir waren es, die in der letzten Debatte kritisiert haben, dass es in der EU bisher Arbeitnehmer 1. und 2. Klasse gegeben hat – und das bitte ich endlich zur Kenntnis zu nehmen. Ich hoffe, Sie waren bei der damaligen Debatte auch anwesend.

Meine Damen und Herren! Eines ist sicherlich wahr – in diesem Punkt ist die Aussage der Überschrift der Aktuellen Debatte richtig: Es gibt keinen Grund, Angst vor unseren Nachbarn zu haben, aber Befürchtungen aufgrund der Taten oder besser gesagt der Tatenlosigkeit der Staatsregierung in diesem Bereich durchaus, denn hier sieht es anders aus. Die Sächsische Staatsregierung blieb bei der Vorbereitung der Arbeitnehmerfreizügigkeit bisher weit hinter anderen Akteuren, zum Beispiel dem Berliner Senat oder dem sächsischen DGB, zurück. Hier ist dringender Nachholbedarf zu konstatieren.

Meine Damen und Herren! Was sind jetzt die dringenden Aufgaben und worin liegen die Chancen? Im Antrag der Fraktionen von CDU und FDP heißt es: durch Arbeitnehmerfreizügigkeit Fachkräfte für Sachsen gewinnen. Das ist sicherlich ein Punkt. Aber wünschenswerter wäre es, zunächst etwas grundsätzlicher an dieses Thema heranzugehen. Es ist insbesondere der Eindruck zu vermeiden, dass es allein darum ginge, nur eigenen Nutzen aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu ziehen, zum Beispiel durch beschleunigtes Anwerben hoch qualifizierten Personals aus Tschechien und aus Polen. Das könnte in Polen und in Tschechien dazu führen, dass Ängste vor dem deutschen Nachbarn geschürt werden.

(Andreas Storr, NPD: Das wollen wir nicht! – Zuruf der Abg. Gitta Schüßler, NPD)

Wir müssen begreifen und danach handeln, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit eine Chance für eine produktive Integration der Regionen und der Mitgliedsländer in der Europäischen Union ist. Das ist aber nur dann der Fall, wenn nationale und regionale Egoismen überwunden werden und ein solides Maß an Miteinander und Solidarität Gestalt annimmt, das die von mir geschilderten Angstszenarien ausschließt.

Gerade in den Grenzregionen ist es notwendig, in allen Fragen der Arbeitnehmerfreizügigkeit europäisch zu denken, das heißt, mit unseren tschechischen und polnischen Nachbarn gemeinsam zu gestalten. Ein Szenario des Gegeneinanders oder des auf einseitigen Vorteil Bedachten kann langfristig zu keinem produktiven Ergebnis führen.

Meine Damen und Herren, eines sei festgestellt: Ich würde es für ein Versagen politischer Gestaltung halten, wenn es zum Beispiel bei gering qualifizierten Arbeitskräften zu einer unkontrollierten Konkurrenz zwischen den Arbeitskräften und zu Lohndumping käme. Es gibt in Westeuropa bereits erprobte Mittel, dies zu verhindern. Ein Mittel lautet: gesetzlicher Mindestlohn!

Meine Damen und Herren! Bisher ist kein einheitlicher sächsischer Masterplan zu erkennen, wie grenzüberschreitende Strukturen, zum Beispiel Verbindungsbüros und Agenturen, die sich mit speziellen Fragen der Arbeitnehmer und der Wirtschaft befassen, aussehen sollen. Einige Akteure in Sachsen versuchen Verschiedenes und durchaus Lobenswertes, zum Beispiel der DGB, aber leider isoliert. Dies muss sich ändern.

Meine Damen und Herren! Ich spreche hier nicht nur von unverbindlichen grenzüberschreitenden Arbeitskontakten, sondern von einer institutionalisierten Form behördlicher Zusammenarbeit, die flexibel auf die Erfordernisse der Gestaltung der Arbeitnehmerfreizügigkeit reagieren kann.

In diesem Zusammenhang ist sicherlich auch die Aktuelle Debatte der Kohäsionspolitik und die Ausrichtung der neuen EU-Förderperiode eine Möglichkeit, grenzüberschreitende Projekte zu entwerfen, die auch unter dem Aspekt der Schaffung von Arbeitsplätzen als Gemeinschaftsprojekte mit unseren Nachbarregionen interessant sind.

Auch Verbindungen mit europäischen Gesetzesvorhaben für das Jahr 2011 gilt es zu erkennen und in diesem Zusammenhang für die Arbeitnehmerfreizügigkeit nutzbar zu machen. Ein Blick in den Jahresarbeitsplan der Kommission für das Jahr 2011 lässt erkennen, welche Gesetzesinitiativen einen derartigen Bezug aufweisen.

Nicht schaden wird es uns, sich zum Teil mit jahrzehntelangen Erfahrungen in anderen Grenzregionen Europas, zum Beispiel dem Dreiländereck Niederlande – Deutschland – Belgien, zu beschäftigen. Der Ministerpräsident der deutschsprachigen Region in Belgien, Herr KarlHeinz Lambertz, war unlängst zu Besuch in Sachsen. Vielleicht hat es Gespräche dazu gegeben.

Bitte zum Ende kommen, Herr Kosel.

Diese gehören aber unbedingt auf den Tisch dieses Hohen Hauses. – Meine Damen und Herren, ich komme zum Schlusssatz.

Herr Kosel, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Sie können später noch einmal wiederkommen.

Nur wenn wir den von mir geschilderten ganzheitlichen Ansatz wählen, wird auch die im Antrag genannte Gewinnung von Fachkräften für Sachsen zum Nutzen für alle Beteiligten erfolgen können und somit nachhaltig sein.

(Beifall bei den LINKEN)

Die SPD-Fraktion; Herr Brangs, bitte.

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem ich jetzt die Auftritte von FDP und CDU erlebt habe und mir heute Morgen auch schon die Regierungserklärung anhören durfte, ist mir einiges klar geworden:

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Sie hinken immer der Zeit hinterher.

(Beifall bei den LINKEN)

Die Regierungserklärung heute Morgen war gefühlte zwei Jahre hinterher, tatsächlich wahrscheinlich neun Wochen. Die heutige Debatte ist vollkommen überflüssig; denn 24 Tage nach Einführung einer Regelung von einer Bilanz zu sprechen, lieber Kollege Herbst, ist ziemlich mutig, das muss ich schon sagen. Bei Ihrer Art, Politik zu betreiben, wird mir klar: Es geht eigentlich nicht darum, dass man sich darauf verlassen möchte, dass es Hand und Fuß hat, was man hier sagt, sondern man möchte eine große Blase in die Welt setzen und Behauptungen aufstellen, die den Gegner in eine Ecke drängen sollen, dass all das, was bisher behauptet wird und als Kritik zur Arbeitnehmerfreizügigkeit kommt, nicht stimmen würde. Als Beleg dafür gibt es nicht eine einzige Zahl im Vortrag. Nicht eine Zahl ist genannt worden, und das Ganze nach 24 Tagen! Mutige Nummer, aber leider würde ich sagen: inhaltlich total am Thema vorbei.

Natürlich sind wir auch der Auffassung, dass wir beim 1. Mai von Chancen und nicht von Risiken sprechen müssen. Das ist unbestritten. Natürlich sind wir überzeugte Europäerinnen und Europäer. Natürlich ist das ein Teil unserer Tradition und Geschichte in der Sozialdemokratie,

(Andreas Storr, NPD: Das ist Schönfärberei! Hoch die Internationale!)

das ist unbestritten. Aber man muss sich auch Gedanken darüber machen, welche Probleme damit einhergehen, und ich weiß nicht, wie man – ich muss sagen – teilweise die Frechheit besitzen kann, so zu tun, als gäbe es keine sozialen Zerwürfnisse, zum Beispiel beim Thema Lohnhöhe. Man tut so, als sei alles wunderbar und man brauche bestimmte Bereiche nicht zu stärken.

Meine Erfahrungen, die ich in meiner Region über viele Jahre gemacht habe, sind die, dass wir jetzt auch schon Probleme damit haben, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von jenseits der Grenze zu uns nach Sachsen kommen und Löhne von Beschäftigten kaputtmachen, die hier zu vernünftigen Löhnen arbeiten wollen. Es gibt den Busfahrer auf Görlitzer Linien, der den Bus für 4 Euro fährt, obwohl der Tarifvertrag dafür 8,50 Euro oder 6,80 Euro als Einstieg vorsieht.

Natürlich gibt es Dienstleistungen im grenznahen Bereich, die jenseits der Grenze für wesentlich weniger

erbracht werden als für das, was deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dafür eigentlich bekommen müssten. Dass die Gewerkschaftsvertreter, die hier zitiert worden sind, sagen: Passt auf; was da passiert, ist vollkommen richtig, dass sich die CDU mit dem DGB zusammensetzt und eine Presseerklärung herausgibt, in der substanziell nicht viel drinsteht, überrascht mich nicht, da es in der Frage darum geht, welche Instrumente man will. Der letzte Satz der Presseerklärung heißt: „Uneinig ist man sich jedoch über die Instrumente.“

Das ist mir schon klar. Ich kann Ihnen aber dabei weiterhelfen. Ich kann einmal sagen, welche Instrumente wir brauchen: Wir brauchen gleichen Lohn für gleiche Arbeit, und zwar unabhängig davon, wo jemand arbeitet.

(Beifall bei der SPD und den LINKEN)

Wir brauchen einen flächendeckenden Mindestlohn von 8,50 Euro. Wir brauchen eine Regulierung für Leiharbeit. Wir brauchen Betriebs- und Personalräte, die unabhängig davon, woher der Arbeitnehmer kommt, uneingeschränktes Mitbestimmungsrecht haben, und wir brauchen eine Aufnahme aller Branchen ins Entsendegesetz. Damit kann ich Ihnen gern auf die Sprünge helfen. Das wären einige Aspekte, die Sie vielleicht überdenken sollten.

(Karl Nolle, SPD: Das ist ja der Untergang des Abendlandes! – Zuruf des Abg. Andreas Storr, NPD)

Das ist der Untergang des Abendlandes – vielleicht für die sogenannten Liberalen.

Ein Punkt noch, der mir ebenfalls immer in dieser Debatte aufstößt. Fachkräfte hätten wir werben sollen, als die Zeit dafür reif war. Damals hat diese Staatsregierung nichts gemacht.

(Demonstrativer Beifall bei der SPD – Marko Schiemann, CDU: Nein, nein, nein! – Zuruf des Abg. Andreas Storr, NPD)

Als diejenigen, die hoch qualifiziert waren, Bedingungen gesucht haben, um ihre Qualität auch anzubieten, haben sie gesagt: Da gehen wir nicht nach Sachsen, sondern lieber gleich nach Frankreich, Irland, Österreich oder in die Schweiz, weil die Bedingungen, die wir dort vorfinden, allemal besser sind als die in Sachsen. Jetzt so zu tun, als gebe es einen Zusammenhang zwischen der Frage Fachkräftemangel und dem Thema Arbeitnehmer – –

(Zurufe:... -freizügigkeit!)

Arbeitnehmerfreizügigkeit, vielen Dank! –, das ist nur der Teil der Wahrheit, den Sie gern hören möchten; denn Sie werden ein Phänomen beobachten: Es wird bei der Berufsgruppe der Hilfsarbeiter und bei denen, die bisher eine ungelernte Tätigkeit verrichtet haben, einen Verdrängungswettbewerb geben mit denen, die auf unserer Seite der Grenze solchen Berufen und Tätigkeiten nachgehen. Diejenigen, die wir aber brauchen, sind Fachkräfte und Ingenieure, und diese werden Sie mit solchen Löhnen, die Sie in Sachsen zahlen, nicht gewinnen können. Deshalb

ist es wichtig, dass wir uns für vernünftige Rahmenbedingungen einsetzen. Wenn die Debatte dafür ein Beitrag sein sollte – was ich mir kaum vorstellen kann, wenn ich die Zusammensetzung der Koalition sehe –, dann hat sie vielleicht etwas geholfen. Aber sonst würde ich eher sagen: Thema verfehlt!

(Beifall bei der SPD und den LINKEN)

Die Fraktion GRÜNE; Herr Jennerjahn, bitte

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Laut GrundrechteCharta der Europäischen Union besitzt jede(r) Unionsbürger(in) das Recht, in jedem Mitgliedsstaat Arbeit zu suchen, zu arbeiten, sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbringen, und natürlich begrüßen wir vor diesem Hintergrund, dass die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit seit dem 1. Mai 2011 auch für die acht mittel- und osteuropäischen Staaten gültig ist, die 2004 der Europäischen Union beigetreten sind.

(Beifall der Abg. Dr. Karl-Heinz Gerstenberg, GRÜNE, und Thomas Kind, DIE LINKE – Andreas Storr, NPD: Ein absurdes Recht!)

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal in Richtung der beiden Koalitionsfraktionen aussprechen: Natürlich ist es wichtig, auch die Chancen zu betonen und zu diskutieren, die aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit resultieren. Aber diese Debatte kommt auch nicht ohne einen Blick zurück aus. Die siebenjährige Übergangsfrist, die eingeführt wurde, um vorgeblich den Arbeitsmarkt zu schützen, ist schon angeklungen. Ein wesentliches Argument für dieses Instrument war, man wolle Billigkonkurrenz vorbeugen. Wenn man zurückblickt, muss man zu dem Schluss kommen, dass Deutschland diese Übergangsfrist nicht ausreichend genutzt hat.

Es gibt natürlich erheblichen Handlungsbedarf, Herr Kollege Herbst. 6,6 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten im Niedriglohnsektor, 3,4 Millionen Menschen arbeiten für weniger als 7 Euro in der Stunde und es gibt eine starke Zunahme des Niedriglohnsektors in Deutschland in den letzten Jahren, und zwar überdurchschnittlich im europäischen Vergleich. Dabei sind andere Länder in der Europäischen Union deutlich weiter. Sie wissen, dass 20 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union bereits einen branchenübergreifenden gesetzlichen Mindestlohn haben. In sechs weiteren Staaten gibt es ähnliche Regelungen.

Vor diesem Hintergrund ist es unverständlich, dass auf Bundesebene nach wie vor erhebliche Hindernisse aufgebaut werden, dies auch in Deutschland einzuführen. Kürzlich ist ein Gesetzentwurf unserer GRÜNENBundestagsfraktion von CDU und FDP abgelehnt worden. Es gab die alten Begründungen: Man würde die Tradition der Tarifautonomie respektieren und Arbeitsplatzverluste vermeiden. Aber beide Argumente ziehen eigentlich nicht. Natürlich ist die Bindung zunächst eine Frage der Tarifpartner.