Protocol of the Session on March 23, 2011

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich bin schon etwas entsetzt, Herr Wöller, mit welch stoischer Ruhe Sie das vortragen, was Sie schon einmal schriftlich vorgelegt haben. Aber das scheint offenbar üblich zu sein. Sie scheinen auch noch nie mit Eltern konfrontiert worden zu sein, die jenseits Ihrer Definition von sozialer Schwäche, nämlich SGB-II- und SGB-III-Empfängern, ob der enormen finanziellen Belastungen, die in der Schule auf sie zukommen, sich darüber beschwert haben, dass sie eben nicht die gleichen Chancen haben, dass sie eben nicht zum Beispiel Nachhilfeunterricht so ohne Weiteres bezahlen können, dass sie nicht so ohne Weiteres die Schülerbeförderung zum Gymnasium finanzieren können usw. usf.

Ich finde das schon sehr interessant, und ich hoffe, dass der Antrag vielleicht einmal anregt, sich das etwas genauer anzusehen.

Herr Colditz und die Kollegen von der FDP: Vielleicht definieren Sie einmal oder Sie machen sich einmal Gedanken darüber, was sozial schwächere Familien sind. Sozial schwächere Familien sind eben nicht nur die Familien, die Hartz IV empfangen, oder die sogenannten Aufstocker, also SGB-II- oder SGB-III-Empfänger, die jetzt durch das Bildungs- und Teilhabepaket ein bisschen was dazubekommen, um die Bildungschancen einigermaßen vergleichbar aufbauen zu können, sondern es gilt vor allem – ich habe es vorhin mehrfach gesagt – für Kinder von Alleinerziehenden, die Niedrigverdiener sind, Teilzeitjobs haben oder in Zeitarbeitszeitfirmen arbeiten und zum Beispiel nicht zu den Aufstockern gehören.

Es geht um Familien mit mehreren Kindern, die gleich mehrfach diese Belastung zu tragen haben, und es geht um diejenigen, die im Niedrigverdienstbereich sind, die aber nicht extra auf das Amt gehen, um sich die Aufstockung zu holen oder auch gar nicht die Grenze erreichen. Um diese Familien geht es, und Sie können keine klare Grenze ziehen, wo die Belastung noch zu tragen ist.

(Vereinzelt Beifall bei der SPD)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Uns ging es auch nicht darum, jetzt die große Finanzdebatte aufzumachen – es hat mich gefreut, dass Herr Scheel hier gleich gesprochen hat –, sondern es ging darum, dass wir ein Bewusstsein dafür schaffen, dass wir heute durch diese Kostenpflichtigkeit von bestimmten Angeboten und dadurch, dass Schulen es auch teilweise übertreiben – Herr Wöller, ich stimme Ihnen darin gerne zu, Sie haben ja dazu ermahnt, dass man in den Schulen damit auch kostenbewusst umgehen muss, was zum Beispiel die Klassenfahrten betrifft, was bestimmte Kopien und Lernmittel anbelangt –, sodass damit die soziale Unge

rechtigkeit noch verschärft wird. Das führt nicht zu den gleichen Bildungschancen, die Sie hier angemahnt haben, Herr Wöller. Dem ist nicht so.

Schauen Sie bitte einmal in die Schulen hinein, sprechen Sie mit den Eltern und lassen Sie sich das genauer erklären. Wir werden nach wie vor in dieser Wunde bohren, auch wenn uns das immer wieder vorgehalten wird. Uns geht es nicht darum, dass der Staat für alles einspringt. Uns geht es auch darum, dass die Schulträger ihrer Verpflichtung nachkommen und die Schulen kostenbewusst das, was sie auf die Eltern umlegen müssen, auch tatsächlich unter diesem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit berücksichtigen. Uns geht es darum, dass kein Kind in der Schule wegen seiner sozialen Herkunft diskrimi

niert werden darf und deswegen zum Bittsteller in diesem System wird.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren! Ich stelle nun die Drucksache 5/4927 zur Abstimmung. Ich bitte bei Zustimmung um Ihr Handzeichen. – Danke! Die Gegenstimmen? – Danke. Die Stimmenthaltungen? – Danke. Bei einigen Stimmenthaltungen und zahlreichen Dafürstimmen ist mehrheitlich die Drucksache 5/4927 nicht beschlossen. Der Tagesordnungspunkt ist beendet.

Meine Damen und Herren! Ich rufe auf

Tagesordnungspunkt 11

Vereinheitlichung des Verwaltungsvollzugs bei Erteilung einer Ausnahmegenehmigung bei Unterschreitung der Mindestschülerzahl und/oder der Mindestzügigkeit gemäß § 4a Abs. 4 SchulG

Drucksache 5/4010, Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, mit Stellungnahme der Staatsregierung

Hierzu können die Fraktionen Stellung nehmen. Die Reihenfolge in der ersten Runde: GRÜNE, CDU, DIE LINKE, SPD, FDP, NPD und die Staatsregierung, wenn gewünscht. Ich erteile der Fraktion GRÜNE als Einreicherin das Wort. Frau Giegengack, bitte.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich verspreche Ihnen, dass ich heute das letzte Mal hier stehe.

Zum Thema. Ich bin der Überzeugung, auch wenn das Schulgesetz von 2004, was Schülerzahlen und Zügigkeit angeht, einer Nachbesserung bedarf, die der Entwicklung im ländlichen Raum Rechnung trägt, sind seine Regelungen prinzipiell gut und richtig. So ermöglicht das Schulgesetz, Grundschulen einzügig zu führen mit einer Klassengröße von 15 Schülern. Bevor gleich wieder ein Einwand kommt: Dass man für eine Schulhausbauförderung den Klassenrichtwert erfüllen muss, der viel höher liegt, ist mir durchaus bewusst. Meine Stadt hat über Jahre Grundschulen komplett aus Eigenmitteln sanieren müssen, deswegen.

Auch 20 Kinder je zwei Klassen bei Mittelschulen bzw. 20 Kinder je drei Klassen bei Gymnasien halte ich vom Grund her für einen guten Richtwert, weil damit eine gewisse Auswahl an Neigungs- und Leistungskursen gewährleistet werden kann. Dass wir hier für Schulen im ländlichen Raum eine dauerhafte Anpassung vornehmen müssen, sagte ich heute früh bereits in der Aktuellen Debatte.

Allerdings ist es auch nicht so, dass unser Schulgesetz nur starre Grenzwerte vorgibt. In Artikel 4a werden von vornherein Ausnahmefälle für Abweichungen von den Mindestschülerzahlen und der Mindestzügigkeit formu

liert. Dies gilt insbesondere für landes- und regionalplanerische Gründe, bei der überregionalen Bedeutung der Schule, aus besonderen pädagogischen Gründen, zum Schutz und zur Wahrung der Rechte des sorbischen Volkes, aus baulichen Besonderheiten des Schulgebäudes oder bei unzumutbaren Schulwegbedingungen und Schulwegentfernungen. – So weit das Gesetz.

Hinsichtlich der Auslegung dieser gesetzlich geregelten Ausnahmetatbestände existieren bislang keine Verwaltungsvorschrift, mündliche oder schriftliche Dienstanweisungen oder Anordnungen, die den Ermessensspielraum definieren: „Kultus prüft“ – ich zitiere – „die konkrete Situation im Einzelfall auf der Grundlage der geltenden rechtlichen Vorgaben und unter Beachtung der gefestigten Rechtsprechung.“

Nun könnte man meinen, dass das prima ist, wenn nicht einfach so pauschal entschieden, sondern jeder Einzelfall eingehend geprüft wird. Die Praxis der Ausnahmegenehmigung zeigt aber, dass genau hier die Schwachstelle des Verfahrens liegt. Es war und ist für viele Beteiligte eben nicht nachvollziehbar, warum bei bestimmten Schulen, die die Schülerzahlen nicht schaffen, „a priori“, wie das Ministerium sagt, von einem öffentlichen Interesse am Bestand ausgegangen wurde und wird und gar keine Anhörung stattfindet, in anderen Fällen nach der Anhörung des Schulträgers der Mitwirkungsentzug widerrufen und in wieder anderen Fällen trotz vergleichbarer Umstände und trotz Anhörung des Trägers am Widerruf der Mitwirkung festgehalten wird.

Das Beispiel der Georg-Weerth-Mittelschule in Chemnitz zeigt, dass bei Unterschreitung der Schülerzahl in verschiedenen Schuljahren ganz unterschiedliche Entschei

dungen zu Anhörung, Ausnahmegenehmigungen und Mitwirkungsentzug gefällt wurden. Trotz Unterschreitung der Mindestschülerzahl konnte in den Schuljahren 2008/2009 und 2009/2010 ohne Anhörung des Schulträgers eine 5. Klasse gebildet werden, während es im Schuljahr 2010/2011 unter den gleichen Voraussetzungen zu einem Mitwirkungsentzug kam.

Obwohl die Stadt Chemnitz in der Anhörung erhebliche Gründe für die Bildung einer Klasse 5 anführte, wie die Teilnahme am Schulversuch „Produktives Lernen“ – nur sieben teilnehmende Schulen in ganz Sachsen –, die Teilnahme am EU-Programm ComeniusRegio sowie die Einrichtungen von Vorbereitungsklassen für Aussiedler und Ausländer – übrigens alles Aktivitäten, die schon die Jahre zuvor bestanden –, wurde mit der Begründung „fehlendes öffentliches Bedürfnis“ die Bildung einer 5. Klasse im letzten Jahr verwehrt.

Nach Durchsicht der von uns abgefragten Zahlen ist uns aufgefallen, dass die Georg-Weerth-Schule kein Einzelfall ist. Lag im Schuljahr 2005/2006 die Quote der Mitwirkungsentzüge bei den Mittelschulen noch bei 65 %, so war es doch auffallend, dass im Schuljahr 2009/2010 alle 61 Mittelschulen in Sachsen, die die Mindestschülerzahlen nicht brachten, völlig unbehelligt blieben – nichts, keine Anhörung, keine Mitwirkungsentzüge, gar nichts.

Man muss schon mit dem Klammersack gepudert sein, wenn man da keinen Zusammenhang mit den Landtagswahlen sieht – noch dazu, weil im Schuljahr 2010/2011, also dem Jahr nach der Wahl, auf einmal wieder 19 der 77 Schulen, die die Schülerzahlen nicht brachten, ins Anhörungsverfahren mussten.

Meine Damen und Herren, wenn das möglich ist, kann es mit der Einzelfallprüfung auf der Grundlage der geltenden rechtlichen Vorgaben und unter Beachtung der gefestigten Rechtsprechung nicht so weit her sein. Da zieht auch das Argument nicht, wir müssten die Auswirkungen der Kreisgebietsreform von 2008 abwarten. Eine solche Praxis verstößt nicht nur gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, sie entzieht auch den Schulträgern jede Form von Planungssicherheit. Das Festhalten an den Einzelfallprüfungen dient eben nicht zuallererst den Schulen vor Ort, sondern wohl eher dem Ministerium.

Meine Damen und Herren, wir wollen heute mit unserem Antrag erreichen, dass mittels einer Verwaltungsvereinbarung verbindlich geklärt und festgeschrieben wird, nach welchen Regeln und Kriterien eine Einzelfallprüfung erfolgt und welche konkreten Ausnahmegründe bei einer Unterschreitung der Mindestschülerzahl und -zügigkeit geltend gemacht werden können. Die Verwaltung sagt, sie prüft auf der Grundlage der rechtlichen Vorgaben und unter Beachtung der gefestigten Rechtsprechung. Nun, dann dürfte es nicht schwer sein, eine solche Verwaltungsvorschrift zu erarbeiten. Wenn es zum Beispiel Gerichtsurteile zur Länge und Zumutbarkeit von Schulwegen gibt, dann kann man diese auch in eine Verwaltungsvorschrift aufnehmen.

Die Anwendung und der Vollzug des Schulgesetzes müssen nachvollziehbar, transparent und rechtlich verbindlich geregelt sein und dürfen nicht, wie die Erfahrung zeigt, allein im Ermessen des Ministeriums liegen.

Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Für die CDU-Fraktion als nächster Redner Herr Seidel.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der § 4a Abs. 4 unseres Schulgesetzes – besser: unserer Schulgesetznovelle vom Jahre 2004 – regelt die Ausnahmetatbestände, welche für die Beurteilung von Ausnahmen von festgesetzten Mindestschülerzahlen und Mindestzügigkeiten heranzuziehen sind. Diese sind der Handlungsrahmen für die individuelle Beurteilung durch die Schulverwaltung, in diesem Fall durch die jeweils zuständige Stelle der Bildungsagentur. Die Mitarbeiter dieser Behörde sind nicht an Wahlperioden oder politische Mehrheiten gebunden. Sie handeln nach von uns gesetztem geltendem Recht und Gesetz.

(Johannes Lichdi, GRÜNE: Schön wär’s!)

Hier gibt das Sächsische Schulgesetz klare Vorgaben, welche Bedingungen im jeweils individuell zu beurteilenden Fall heranzuziehen und zu bewerten sind. Die zu betrachtenden Indikatoren lassen aus meiner Sicht eine ausgewogene und den jeweiligen Anforderungen angemessene Entscheidung über Ausnahme oder Nichtausnahme von den Regelungen des § 4a Absätze 1 bis 3 zu; das sind die Absätze, die Sie, Frau Giegengack, eben schon genannt haben, nämlich die Mindestschülerzahlen für die Grundschulen, für die Mittelschulen und für die Gymnasien – die übrigens, wenn ich das noch einmal in Erinnerung rufen darf, in Deutschland einmalig sind.

Es werden sowohl landesplanerische Zielstellungen als auch regionalspezifische Entwicklungen für Ausnahmen berücksichtigt – die Bedeutung des Schulstandortes für das Umfeld, der Zustand des Schulgebäudes, etwaige Investitionen als auch der Schulweg – und nicht zuletzt die Wahrung der Rechte des sorbischen Volkes beachtet. Wir haben diese Ausnahmetatbestände damals ganz bewusst ins Gesetz geschrieben, um eben keine Verwaltungsvorschrift zu haben, für die das Parlament letztlich nicht zuständig ist. Wir haben damit sechs Kriterien, die an jedem zu betrachtenden Standort, der die Mindestschülerzahl oder die Mindestzügigkeit unterschreitet, heranzuziehen sind, sofern sie natürlich für jeden Einzelfall zutreffen, meine Damen und Herren.

Die individuelle Beurteilung des Schulstandortes unter den Ausnahmegesichtspunkten ist ausdrücklich von uns gewollt. Diese Beurteilung erfolgt nicht politisch motiviert oder in Abhängigkeit von bevorstehenden Wahlen oder Mehrheitsverhältnissen, sondern nach den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler vor Ort und den Gegebenheiten des Schulstandortes und der regionalen Entwicklung.

Ihr Antrag, meine Damen und Herren von BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, unterstellt, dass die Mitarbeiter der Sächsischen Bildungsagentur nicht aus fachlichen Erwägungen heraus Entscheidungen fällen. Das halte ich mit Blick auf deren Verantwortung und die gute fachliche Kompetenz unserer in den Bildungsagenturen arbeitenden Mitarbeiter für eine Zumutung, gelinde gesagt.

(Dr. Eva-Maria Stange, SPD, steht am Mikrofon.)

Herr Seidel, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Nein, zurzeit nicht; lassen Sie mich bitte ausführen, Frau Dr. Stange.

Um es noch weiter zuzuspitzen, möchten Sie die Ausnahmetatbestände nach objektivierbaren Kriterien definieren. Ich halte dieses Vorhaben für nicht sachgemäß. Es ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass wir über individuelle Standorte mit unterschiedlichen territorialen Einordnungen, unterschiedliche Schulträger mit individuellen Investitionsplanungen und Sanierungsständen, zu betrachtende Schulwege und pädagogische Gewichtungen reden, die bei jedem Schulstandort anders sind.

Ich denke, dass Ihr Ansinnen an der Realität vorbeigeht und daher auch abzulehnen ist. Die Mitarbeiter der Sächsischen Bildungsagentur sind gut qualifiziert und arbeiten entsprechend unseren Gesetzen und Verordnungen. Entscheidungen über Ausnahmen von den Regelungen des § 4a des Sächsischen Schulgesetzes erfolgen bereits unter objektiver Betrachtung der jeweiligen Situation. Dafür bedarf es keines weiteren Aktionismus.

Wir lehnen diesen Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ab.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Als nächste Rednerin Frau Falken für die Fraktion DIE LINKE.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Sachsen wird willkürlich entschieden, wenn es um die Ausnahmegenehmigung bei Unterschreitung von Mindestschülerzahlen geht. Herr Seidel, erinnern Sie sich bitte, denn Sie wissen es eigentlich ganz genau, und das, was Sie hier gerade erzählt haben, ist schlichtweg nicht wahr.

2007 hat Herr Flath – als damaliger Kultusminister – erklärt, dass es keine Mitwirkungsentzüge mehr gibt. Eine Grundlage eines Gesetzes oder eine Grundlage einer Verwaltungsvorschrift hat es dort nicht gegeben. Wir haben es damals begrüßt, dass es so erklärt und auch so umgesetzt worden ist; aber die Zahlen, die Frau Giegengack gerade dargestellt hat, sind Realität, ohne Gesetz. Wenn ich Sie heute richtig verstanden habe, Herr Seidel, dann heißt das, dass Sie das Moratorium gleich wieder „in die Tonne kloppen können“ – ich sage es einmal so hart –;