Protocol of the Session on July 6, 2007

Die Auswirkungen der „Hartz-Gesetze“ auf Sachsen

Drucksache 4/8249, Große Anfrage der Linksfraktion, und die Antwort der Staatsregierung

Als Einbringerin spricht zuerst die Linksfraktion; danach die bekannte Reihenfolge. Herr Abg. Pellmann, bitte.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will zunächst persönlich sagen, dass es natürlich nicht ganz leicht ist – ich bemerke auch die Bewegung im Saal –, nach der eben gehabten Debatte zu einem Thema zu kommen, das uns alle in diesem Freistaat Sachsen nicht nur angeht, sondern sehr bewegen sollte.

Große Anfragen, meine sehr verehrten Damen und Herren, stellt man in aller Regel dann, wenn es sich um einen Gegenstand von allgemeinem Interesse handelt. Ich denke, dieses Kriterium, das man an Große Anfragen stellen muss, ist hier in hohem Maße gegeben. Denn immerhin sind inzwischen im Freistaat Sachsen rund 600 000 Menschen unmittelbar von Hartz IV betroffen, weil sie Leistungsanspruch nach dem SGB II bzw. SGB XII haben. Das ist wahrlich keine kleine Gruppe. Sie ist seit Inkrafttreten des Hartz-IV-Gesetzes leider sogar noch beträchtlich gewachsen.

Was nun die Antworten der Staatsregierung auf unsere insgesamt 126 Anfragen betrifft, so muss ich sagen, es ist eigentlich üblich, sich für diese Antworten und für den Aufwand dafür zu bedanken. Das fällt mir aber in diesem Zusammenhang schwer. Bedanken möchte ich mich in erster Linie allerdings bei zwei an der Beantwortung beteiligten Seiten, nämlich der Regionaldirektion Chemnitz der Bundesagentur für Arbeit und den sechs optierenden sächsischen Kreisen. Wenn von dort keine Daten geliefert worden wären, hätten wir uns heute hier gar nicht hinstellen können.

Ich kritisiere damit insgesamt die Antworten der Staatsregierung und unterstelle, dass sie eigentlich über keine ausreichende eigene Datenbasis verfügt.

(Zuruf der Staatsministerin Helma Orosz)

Verehrte Frau Staatsministerin, ich will hier eine Zwischenbemerkung machen. Da mir schon mehrfach aufgefallen ist, dass Sie meine und andere Reden kommentieren, aber ich nicht so viel Redezeit habe, werde ich darauf künftig nicht mehr eingehen, weil ich erst den Stenografen übersetzen müsste, was Sie gesagt haben. Die können das nämlich meist nicht verstehen. Ich bitte Sie um Nachsicht, dass ich Ihre Zwischenrufe künftig ignorieren werde.

(Zuruf der Staatsministerin Helma Orosz)

Okay, dann sind wir uns ja einig.

Wo ist die eigene Verantwortung der Staatsregierung?, möchte man fragen. Wenn ich nicht über eine ausreichen

de Datenbasis verfüge, mich über eine Reihe von wesentlichen durch Hartz IV entstandene Problemlagen gar nicht ausreichend informieren kann, dann stellt sich natürlich die Frage, wie ich entsprechend politisch handeln will.

Ich hoffe – das will ich einräumen –, dass uns der vor einigen Tagen vorgelegte Sozialreport oder Lebenslagenreport, wie auch immer man das wissenschaftlich benennen mag, weiteren Aufschluss gibt. Aber ich werde dieses Material heute nicht einbeziehen können, denn das wäre unseriös.

Ich füge hinzu: Wenn die Staatsregierung zu dessen Über- oder Bearbeitung ein halbes Jahr gebraucht hat, dann ist es mir nicht möglich, in zwei Tagen ein wirklich seriöses Urteil dazu abzugeben. Aber man kann sicher sein: Wir werden uns zu diesem Dokument von über 300 Seiten angemessen und zu gegebener Zeit äußern.

Da wir mit den Antworten der Staatsregierung insgesamt – ich will das so deutlich sagen – nicht zufrieden waren – nicht deshalb, weil wir das politisch anders sehen, sondern weil einfach der Inhalt nicht ausreichte, der Informationsgehalt nicht ausreichte –, haben wir selbst in der vergangenen Woche in Leipzig eine Anhörung durchgeführt, zu der wir Vertreter von Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und Arbeitsloseninitiativen eingeladen hatten, um die Antworten der Staatsregierung von Betroffenen und denen, die in der Tat täglich damit zu tun haben, kritisch prüfen zu lassen. Das Urteil, das wir dort übereinstimmend zu hören bekommen haben, ist vernichtend. Ich gebrauche die Begriffe, die wir dort hören mussten, nicht, weil ich sie sonst etwas zurückhaltender formulieren würde.

Lassen Sie mich auf einige sozialpolitische Aspekte eingehen, insbesondere was die Abschnitte 2 und 3 der Großen Anfrage betrifft. Es ist immer wieder zu hören: Es müsse erst evaluiert werden und man könne noch gar nicht genau feststellen, wie es nach zwei Jahren bzw. inzwischen nach zweieinhalb Jahren, seit dieses Gesetz in Kraft ist, wirkt. Dazu muss ich sagen – ich habe das auch an anderer Stelle schon betont –: Das halte ich für sehr unseriös. Ich muss doch wissen, wenn ich ein Gesetz verabschiede, was ich damit bezwecke und welche Wirkung es haben kann. Ich will nicht unterstellen, dass Gesetze nach der Devise verabschiedet werden: Wir warten erst einmal ab, was daraus wird. Das ist doch kein seriöser Umgang mit Politik.

(Beifall bei der Linksfraktion)

Der nächste Punkt. Es wird uns in den Antworten bis ins Detail suggeriert, es gäbe zu Hartz IV keinen Änderungsbedarf. Wenn ich nicht genau weiß, wie sich die Lebenslagen gestalten, dann ist es außerordentlich schwer, zu

einer solchen Einschätzung zu kommen. Ich bleibe bei meiner Position – und diese wird von immer mehr Menschen, die in diesem Land damit konfrontiert sind, geteilt –: Hartz IV ist gescheitert und bedarf einer grundlegenden Revidierung.

(Karl Nolle, SPD: Das stimmt! – Zuruf der Abg. Dr. Gisela Schwarz, SPD)

Wir haben die Staatsregierung gefragt, wie sie sich die Höhe des Regelsatzes vorstellt.

Herr Dr. Pellmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Herr Prof. Porsch, bitte.

Kollege Dr. Pellmann, sind Sie mit mir einer Meinung, dass man aus dem Grad der Anwesenheit von CDU-Abgeordneten – es sind sieben Personen – ableiten könnte, welches Interesse diese für die soziale Lage der Bevölkerung haben?

(Zurufe von der CDU)

Sehr verehrter Herr Prof. Porsch, bevor ich Ihre Frage beantworte, möchte ich sagen, dass meine Stimme bei so wenig Abgeordneten der CDU im Saal ausreichen würde, damit Sie mich hören, und zwar ohne Technik.

Zu Ihrer Frage, Herr Prof. Porsch. Diesbezüglich möchte ich mich des Eindrucks enthalten; denn wenn ich dies tun würde, käme ich zu der Auffassung, dass bei einer Partei in diesem Haus offensichtlich am Schicksal eines einzelnen Menschen mehr Interesse besteht als an den 600 000 Menschen, von denen ich vorhin gesprochen habe. Dazu möge sich jeder sein Urteil bilden.

(Beifall bei der Linksfraktion und der Abg. Gitta Schüßler, NPD)

Ich fahre in meinen Ausführungen fort.

Es wird von der Staatsregierung keine Notwendigkeit gesehen, den gegenwärtig bestehenden Regelsatz zu erhöhen. Nun ist das nicht meine Berechnung, sondern der Paritätische Bundesverband der Wohlfahrt hat eine Berechnung vorgelegt, nach der eine Mindestexistenzgrundlage für die Betroffenen bei einem Regelsatz von 420 Euro liegen müsste. Das ist der Betrag, den wir als Mindestbetrag einfordern. Die Staatsregierung sieht keinen Änderungsbedarf, weil sie sich auf eine Einkommensstichprobe des Jahres 2003, die dann auch im Gesetz verankert worden ist, bezieht; aber seitdem sind die Preise erheblich gestiegen. Seitdem ist auch die Kaufkraft bezüglich des Regelsatzes erheblich entwertet worden.

(Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion: Sehr richtig!)

Wenigstens das sollte man zur Kenntnis nehmen und künftig zu einer Dynamisierung des Regelsatzes kommen.

(Beifall bei der Linksfraktion)

Ich habe mir den neuen Bericht über Armut und Reichtum in Sachsen, wie dieser auch immer heißen mag, angeschaut. Die Staatsregierung kommt dort zu keiner anderen Auffassung, als sie diese bisher vertreten hat, nämlich, dass die gewährten Sozialleistungen Armut verhindern würden. Das möge die Staatsregierung so sehen und sie möge sich dabei auch durch wissenschaftliche Einsicht nicht beirren lassen; aber ich sage und bleibe bei meiner Position: Alle Menschen, die in diesem Land von Hartz IV leben müssen, sind nach meinem Dafürhalten und nach EU-Definition als arm zu bezeichnen. Ob das nun bestritten wird oder nicht – es ist einfach eine Tatsache. Darüber werden wir uns bei der Behandlung des entsprechenden Reports noch trefflich zu streiten haben.

Keine Erkenntnisse kann uns die Staatsregierung de facto darüber vermitteln, welche Auswirkungen Hartz IV auf die kulturelle Lebensgestaltung von Menschen oder auf den gesundheitlichen Betreuungszustand von Menschen hat. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das sind aber gravierende Dinge, bei denen ich durchaus erwartet hätte, dass man sich dieser Dinge annimmt und eine Analyse anfertigt. Es gibt inzwischen wissenschaftliche Studien, die man zur Kenntnis nehmen müsste.

Sehr enttäuscht war ich über die nach wie vor vertretene Auffassung des Missbrauchs von Hartz IV. Wir wissen doch, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass es Missbrauch im Einzelfall durchaus gibt. Das bestreite ich überhaupt nicht und das habe ich nie bestritten. Aber wenn überhaupt Daten vorliegen, dann liegt dieser Missbrauch bei 1 bis 2 %. Wenn daraus von manchen ein Generalverdacht auf die gesamte Personengruppe für die von Hartz IV Betroffenen abgeleitet wird, dann muss ich das zurückweisen. Das ist eine Ehrabschneidung für diesen Personenkreis.

(Beifall bei der Linksfraktion)

Lassen Sie mich zu Abschnitt 3 etwas sagen, in dem wir zu den Wohnverhältnissen gefragt haben. Der Bundesgesetzgeber hat es sich relativ einfach gemacht. Er hat es in die Verantwortung der Kommunen gegeben, welche Größe an Wohnraum den von Hartz IV Betroffenen zusteht und als angemessen gilt. Deswegen haben wir ein solches Durcheinander. Über Kriterien lässt sich trefflich streiten, aber wir erwarten, dass der Bundesgesetzgeber wenigstens Mindestkriterien dafür festlegt, was als angemessen zu gelten hat. Er sollte sich dann allerdings nicht an der untersten Grenze orientieren.

Ferner haben wir immer wieder das Problem der Zwangsumzüge thematisiert, auch in diesem Haus.

(Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion: Richtig!)

Ich weiß – das unterstelle ich der Staatsregierung nicht –, dass es dazu keine Statistik geben kann. Aber zu behaupten, dass das keine Massenerscheinung sei, ist schon sehr

aus der Luft gegriffen. Wir wissen doch: Viele Menschen haben bereits vor Inkrafttreten von Hartz IV – sozusagen in vorauseilendem Gehorsam – ihre Wohnung wechseln müssen. Das war noch in einer Zeit, als es insbesondere in Großstädten noch relativ preiswert Wohnungen gab. Diese gibt es inzwischen nicht mehr.

(Dr. Gisela Schwarz, SPD: Das stimmt nicht!)

Sie sind doch nicht aus einer Großstadt, oder? Dann können Sie das doch gar nicht beurteilen.

(Dr. Gisela Schwarz, SPD: Nein, ich bin ein Landei!)

Ja, das mag im Erzgebirge vielleicht anders sein, aber ich weiß, wie es in Leipzig, in Dresden und in Chemnitz aussieht.

(Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion: Das Erzgebirge ist Hochgebirge!)

Wie wirken sich die wesentlich gestiegenen Preise für Energie, Heizung und andere Nebenkosten aus?