Ich komme zum dritten Argument. Berufsorientierung kann wohl nicht heißen, dass man die zukünftigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schon in der Schule bäckt – so mutet es manchmal an: Die Wirtschaft braucht Ingenieure – also macht die CDU eine Oberstufenreform. Die Unternehmen wollen die jungen Menschen schon länger kennen und auswählen können – also gibt es mehr Praktika. Die jungen Menschen sollen sich an die Castingsituation von Wettbewerb und Auslese gewöhnen – also gibt es mehr Trainingsprogramme.
Meine Damen und Herren, Bildungsreserven unserer Schüler ausschöpfen – dieses Zitat weist einfach in die falsche Richtung. Wir brauchen auch deswegen eine Allgemeinbildung für Berufsorientierung, damit die Bildung, Entwicklung und selbstständige Orientierung der Menschen befördert und nicht die Bedürfnisse von Schule einfach nur der Wirtschaft angepasst werden. Allgemeinbildung – also die Ausbildung vielfältiger Fähigkeiten und Fertigkeiten – ist die beste Berufs- und Arbeitsweltorientierung, die man den Menschen mit auf den Weg, mit an die Hand geben kann, weil diese es ihnen ermöglicht, sich selbstständig zu orientieren und ihren Weg zu bestimmen.
Wir haben noch einen Änderungsantrag vorgelegt, damit auch diese Debatte ein Resultat haben kann; ich werde ihn zu späterer Zeit einbringen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die NPD unterstützt selbstverständlich jede Initiative, die unseren Kindern und Jugendlichen Gemeinschaftswerte vermittelt und sie auf ein Leben in der Berufswelt vorbereitet.
Die vorliegende Initiative ist allerdings lediglich ein Berichtsantrag, der von der Staatsregierung mit der Stellungnahme schon abgearbeitet wurde. Ich möchte deshalb nur noch einiges ergänzen.
In dem Punkt Zusammenarbeit zwischen Schule und Unternehmen werden einige Beispiele dieser Zusammenarbeit angeführt – unter anderem, Zitat: „Einbeziehung der Unternehmen als Lernort“.
Meine Damen und Herren, das hatten wir schon einmal. In der DDR hieß dies Unterrichtstag in der Produktion bzw. später PA, also Produktive Arbeit, und galt als gemeinverbindlich für alle Schüler ab Klasse 7. Deshalb werden wir natürlich auch dem Änderungsantrag der PDS zustimmen und ärgern uns ein wenig darüber, dass wir ihn nicht selbst eingebracht haben.
Die aus unserer Sicht beste Lösung für eine praxisnahe Berufs- und Studienorientierung wäre eine Wiedereinführung dieses Faches. Was wir jetzt haben – diverse Praktika, Berufswahlpass oder so tolle Errungenschaften wie den Girls’Day –, ist lediglich Stückwerk und Ersatzlösung. Das kann ich Ihnen auch aus den Erfahrungen bei der Berufswahl meiner eigenen drei Kinder versichern. Wie sollen denn zum Beispiel in den strukturschwachen Regionen Sachsens die Schüler einen passenden Praktikumsbetrieb finden, wenn das einzige örtliche Unternehmen vielleicht der Klempnermeister oder das „Kaufland“ auf der grünen Wiese ist? Ein DIN-A4-Ringordner hilft da herzlich wenig weiter, Herr Seidel.
Damit in Sachsen für alle Kinder gleiche Ausgangspositionen geschaffen werden, wäre ein einheitliches Fach – nennen wir es zum Beispiel „Produktionsarbeit“ – unerlässlich.
Da in der Stellungnahme ausdrücklich auf erste Ergebnisse und Erfahrungen der Modellprojekte unter stärkerer Einbeziehung von Praxislernorten im August 2007 verwiesen wird, gehen wir davon aus, dass die Staatsregierung zu gegebener Zeit darüber berichten wird.
Natürlich wäre es wünschenswert, wenn diese Projekte nach der Modellphase flächendeckend für die abschlussgefährdeten Hauptschüler eingeführt werden könnten. Ob es aber möglich sein wird, genug Unternehmen zu finden, die – Zitat – „für mehrere Monate mindestens zwei bis drei Berufsfelder anbieten können“, ist mehr als fraglich.
Zum Schluss möchte ich auf den oben erwähnten Girls’ Day eingehen. In der Girls’-Day-Evaluation für das Jahr 2006, herausgegeben von der bundesweiten Koordinierungsstelle, steht folgender bemerkenswerter Satz: „Es ist wichtig, gerade junge Mädchen mit dem Aktionstag zu
erreichen, weil Schülerinnen in der Adoleszenz häufig stark von gesellschaftlichen Bildern von Weiblichkeit beeinflusst sind, sodass sie nur ungern als unweiblich geltende Tätigkeiten ausführen.“
Obwohl uns also die Stellungnahme der Staatsregierung versichert, dass in den Lehrplänen geschlechterspezifische Interessen berücksichtigt werden können, kann es doch mit Blick auf solche Selbsteingeständnisse überhaupt keinen Zweifel daran geben, dass es sich beim Girls’Day und ähnlichen Veranstaltungen um nichts anderes als ein Umerziehungsprojekt handelt.
Junge Menschen sollen sich in ihrer Geschlechterrolle einfach nicht mehr wohlfühlen. Nur: Mit der Berufs- und Arbeitswelt in unserem Land hat das zum Glück nicht allzu viel zu tun. Die jungen Leute im Freistaat und auch überall sonst gehen nun einmal als junge Frauen oder als junge Männer in ihre Berufswahl. Dieser Realität sollte die Arbeitsweltorientierung an unseren Schulen Rechnung tragen. Alles andere wäre weltfremd.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Man muss die Koalitionsfraktionen schon fast loben: Es gibt einen Berichtsantrag, der länger als eine Zeile oder ein Satz ist. Für Ihre Verhältnisse ist das eine grandiose Leistung. Herzlichen Dank!
Ich hätte gern noch etwas darüber gehört, wo Ihre politischen Vorstellungen hingehen, was sich beim Thema „Berufsorientierung an Schulen“ ändern muss. Außer Allgemeinplätzen kam leider nicht allzu viel.
Wir sind uns in der Zielrichtung einig, dass Berufsorientierung sowohl für die persönliche Entwicklung der Schüler als auch für die Sicherung des Wirtschaftsstandortes Sachsen und die Gesellschaft wichtig ist. Wir als FDP-Fraktion unterstützen selbstverständlich jede Maßnahme, die eine Verbesserung der Berufsorientierung zum Ziel hat.
Bedauerlich finden wir allerdings, dass Sachsen in diesem Bereich wieder einmal hinterherhinkt. Wenn wir uns Bundesländer wie Thüringen oder Nordrhein-Westfalen ansehen, stellen wir fest: Dort gibt es schon seit vielen Jahren Berufswahlsiegel an Schulen. In Sachsen sind die meisten Maßnahmen erst in der Erprobungsphase. Das kann man auch der Stellungnahme der Staatsregierung entnehmen. Jetzt erst soll der Berufswahlpass flächendeckend eingeführt werden. Jetzt erst soll das Qualitätssiegel zur Berufswahl in der Pilotphase erprobt werden. Jetzt
erst soll die Berufsorientierung an den Schulen systematisch verbessert werden. Immerhin – als Oppositionsfraktion hat man mit der Zeit die Ansprüche etwas zurückgeschraubt – sind wir froh, dass sich wenigstens etwas bei der Regierung bewegt. Es ist besser, die Erkenntnis kommt spät als nie.
Sicherlich ist es nicht allein Aufgabe des Staates, sich um Berufsorientierung zu kümmern. Die Eltern haben ganz wesentlichen Einfluss und sind immer noch der wichtigste Ratgeber bei der Berufswahl der Kinder. Die Lehrer spielen ebenso eine Rolle wie das Interesse der Schüler selbst. Aber auch die Unternehmen sind beteiligt; denn sie merken, dass es schwieriger wird, qualifizierte Fachkräfte zu bekommen.
Aber es nützt auch nichts, wenn man sich vonseiten der Regierung und der Regierungsfraktionen über Defizite bei der Ausbildungsfähigkeit unserer Schulabsolventen und nach wie vor hohe Abbruchquoten bei der Berufsausbildung beklagt. Zudem verzeichnen wir den Trend, dass gern gewisse Modeberufe ergriffen werden, mit denen man nur wenige Chancen auf dem Arbeitsmarkt hat. Am Ende muss es uns allen darum gehen, Anreize zu setzen, damit Schüler motiviert werden, ihre eigenen Talente zu entdecken und zu schauen, welche Berufe, die zukunftsfähig sind, für sie interessant sein könnten.
Ich bin ganz froh, dass manchmal die Initiativen vor Ort weiter sind als die Politik. Viele Schulen und Unternehmen haben die Probleme erkannt, arbeiten immer enger zusammen und bieten so den Schülern eine sehr praktische Hilfe zur beruflichen Orientierung. Nicht zuletzt hat die Landesarbeitsgemeinschaft Schule – Wirtschaft eine wichtige koordinierende Funktion. Sie hat es geschafft, dieses Thema in der Priorität nach oben zu bringen.
Die Staatsregierung hat sich lange Zeit schwergetan. Nicht nur, dass das Thema stiefmütterlich behandelt wurde; man hatte manchmal den Eindruck, dass Kultus- und Wirtschaftsministerium ihr eigenes kleines Süppchen kochen. Von ressortübergreifender Zusammenarbeit war nicht wirklich viel zu spüren. Doch diese Art von Wagenburgmentalität hilft niemandem weiter, Herr Jurk, erst recht nicht den Schülern bei der Berufsorientierung.
Ich darf daran erinnern: Bei der geplanten Einführung des Qualitätssiegels zur Berufsorientierung an Schulen war es unsere Fraktion, die Ihnen auf die Sprünge geholfen hat. Wenn es der Sache dient, tun wir das gern wieder.
Herr Seidel hat vorhin die Berufswahlpässe gelobt. Ja, Herr Seidel, auch ich halte diese Maßnahme für sinnvoll. Im Jahr 2006 wurden 9 000 Berufswahlpässe ausgegeben. Das ist bei 122 Mittelschulen, Förderschulen und Gymnasien eine relativ kleine Zahl. Von einer flächendeckenden Verbreitung sind wir damit weit entfernt. Wenn Sie
ehrlich sind, wissen Sie auch: Ohne private Sponsoren hätten wir heute nicht einmal diese Zahl erreicht.
Vier Euro kostet ein Berufswahlpass. Ich meine, das ist eine überschaubare Summe. Sind Sie nicht auch der Meinung, dass der Freistaat in der Lage sein sollte, jedem Schüler in Sachsen ab der 7. Klasse einen entsprechenden Berufswahlpass zur Verfügung zu stellen? Das sollten wir in diesem Land leisten können.
Meine Damen und Herren! Die Maßnahmen zur Verbesserung der Berufsorientierung und für eine engere Zusammenarbeit mit den Unternehmen verlangen auch den Schulen einiges ab. Koordinierung, aber auch Betreuung und Beratung der Schüler kosten Zeit. Dafür brauchen die Schulen entsprechende Ressourcen. Wie viel Zeit haben die Lehrer tatsächlich, mit jedem einzelnen Schüler über seine Berufswünsche zu reden? Wie viel Zeit haben sie, um herauszubekommen, wo die Talente, wo die Neigungen liegen? Nach unserer Auffassung sollte es in jeder Schule einen Ansprechpartner für die Berufsorientierung geben, der auch die entsprechende Zeit hat, sich zu kümmern. Professionelle Berufsorientierung ist nicht als Ehrenamt an einer Schule, quasi nebenbei, zu erledigen.
Meine Damen und Herren! Wir haben in der Debatte bisher viele Worte, Wünsche und Absichtserklärungen gehört. Das ist alles ganz toll für das Landtagsprotokoll und die Historiker, die vielleicht einmal die Protokolle lesen. Unsere Fraktion redet nicht nur; wir handeln auch. Nächste Woche beispielsweise veranstalten wir ein Fachforum mit Schülern, Lehrern und Unternehmensvertretern zum Thema „Berufsorientierung“. Wenn sich CDU und SPD einmal den Unterschied zwischen Theorie und Praxis anschauen wollen, sind sie herzlich eingeladen vorbeizukommen. Manchmal ist es von Vorteil, wenn man Politiker mit Beruf und nicht Berufspolitiker ist.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man lässt sich immer wieder gern darüber berichten, was die Staatsregierung in der Vergangenheit so gemacht hat und welche Maßnahmen sie zu ergreifen gedenkt. Wir nehmen dann zur Kenntnis, dass ein solcher Bericht zum Beispiel die Unübersichtlichkeit des bisherigen Angebotes eingesteht. Da wir uns hier im Saal wahrscheinlich alle über das Anliegen, den Geist des Berichtsantrages einig sind, möchte ich die Gelegenheit doch nutzen, etwas weiter auszuholen und einige Aspekte anzusprechen, die mir in diesem Zusammenhang von außerordentlicher Wichtigkeit sind.
Uns allen ist bewusst, dass wir bereits jetzt in bestimmten Branchen einen Fachkräftemangel zu verzeichnen haben. Wir wissen, dass in weiten Teilen die Berufswünsche und
die Berufschancen auseinanderdriften. Gleichzeitig sind wir mit einem tief greifenden Wandel im Ausbildungssystem konfrontiert und müssen anerkennen, dass strukturelle Veränderungen in der Wirtschaft auch die Strukturen des Ausbildungssystems berühren werden.
Viele Ausbildungen erfordern heute ein größeres theoretisches Wissen. Gleichzeitig gewinnen mit Pflege und Erziehungswesen Bereiche an Bedeutung, die grundsätzlich nicht betrieblich ausgebildet werden können. Zugleich geht in bisher ausbildungsintensiven Branchen der Fachkräftebedarf zurück. Andere Bereiche ohne etablierte Ausbildungstradition arbeiten teilweise mit ungelernten Kräften oder haben noch gar keine Ausbildungskonzepte entwickelt.
Die klassische duale Ausbildung verliert meiner Einschätzung nach zunehmend an Bedeutung. Das mag man bedauern; diese Ausbildungsform ist jedoch nicht dadurch zu retten, dass man zum Beispiel freie berufsbildende Schulen in den wirtschaftlichen Ruin zwingt.
Gleichzeitig expandiert das sogenannte Übergangssystem. Darunter sind all diejenigen Maßnahmen und Programme zur beruflichen Grundbildung zu verstehen, die außerhalb des regulären Ausbildungssystems stattfinden und zu keinem qualifizierenden beruflichen Abschluss führen.