Protocol of the Session on March 15, 2007

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Herr Bartl, bitte.

Geben Sie mir recht, dass ich dann einen solchen Fall nicht im Kontext mit dem tragischen Fall Mitja diskutieren kann? Das gehört nicht dorthin. Das kann man nicht vermischen.

Herr Kollege, das hat außer denen, die nach Ihnen gesprochen haben, niemand gemacht; und auf die muss man nicht unbedingt eingehen.

(Beifall bei der FDP)

Am 15. September – der Fall ist seit Längerem in der Presse – war in der „Morgenpost“ zu lesen: „Axel K. durfte mit dem Pfleger Spaziergänge auf dem Hof machen, doch der Aufpasser passte nicht auf. Als Axel K. bat, sich ein Eis kaufen zu dürfen, ließ ihn der Pfleger allein in die Cafeteria gehen und wartete vor dem Haupteingang. Allerdings dumm nur, die Cafeteria hatte einen Hinterausgang, durch den rannte Axel K. davon.“

Am 1. März dieses Jahres berichtete die „Bild“-Zeitung in großen Buchstaben: „Der Maßregelvollzug in Großschweidnitz ist bei Sachsens Knackis beliebt, denn wer hierher verlegt wird, der bleibt nicht lange drin. Der Knast gilt als gemauerte Einladung zum Ausbrechen.“

Der jüngste Fall: Timo M. Dieser fuhr damals seelenruhig aus dem Knast mit dem weißen Audi der Anstaltsleitung heraus, vorbei an der Schranke, die sich nur öffnet, wenn man von innen an sie heranfährt.

(Zuruf des Abg. Jürgen Gansel, NPD)

Meine Damen und Herren! Diese Anstalt ist gesichert gegen das unbefugte Eindringen, aber anscheinend nicht ausreichend gegen Entweichungen.

(Heiterkeit bei der FDP)

Seit dem Jahre 2002 hat es insgesamt 97 Entweichungen aus dem Maßregelvollzug gegeben. Das sind keine bedauerlichen Einzelfälle, vor allem dann nicht, wenn man sie sich statistisch in der räumlichen Verteilung anschaut. 61 Fälle sind in Großschweidnitz passiert, das sind 63 % aller Entweichungen.

(Zuruf der Staatsministerin Helma Orosz)

Im Jahr 2005, Frau Ministerin, waren es 83 % aller Entweichungen, die in Sachsen in Großschweidnitz stattgefunden haben. Nein, damit finden wir uns im Gegensatz zu Ihnen, Frau Ministerin, nicht ab!

(Beifall bei der FDP)

Großschweidnitz – das ist bereits gesagt worden – hat 48 Plätze, Leipzig „St. Georg“ hat 96 Plätze. Aber zwei Drittel aller Entweichungen über diese fünf Jahre hinweg passierten in Großschweidnitz. Was macht die Staatsregierung? Sie macht erst einmal gar nichts.

Im Dezember 2006 wurde unsere Kritik an den Sicherheitszuständen in Großschweidnitz damit abgetan, dass mit einem geplanten Neubau die Sicherheitsstandards erheblich verbessert würden. Das ist auch nicht ausreichend. Es ist nicht ausreichend, etwas zu planen, sondern die Bürgerinnen und Bürger wollen jetzt wissen, ob sie sicher sind und ob diejenigen, die im Maßregelvollzug sitzen, auch drinbleiben – jedenfalls so lange, wie die Gerichte es ihnen angeordnet haben.

(Beifall bei der FDP – Staatsminister Geert Mackenroth: So soll es sein!)

Meine Damen und Herren! Sie haben angekündigt, ein aktuelles Gutachten in Auftrag zu geben, damit Entwei

chungen minimiert werden. Das ist schön. Aber auch das ist nicht ausreichend.

Im Jahre 1999 gab es bereits einen Bericht über die Entwicklung, den Stand und die Perspektiven des Maßregelvollzugs in Sachsen. In sechs Jahren zuvor hatte es damals 296 Entweichungen gegeben. Danach ist anscheinend nicht allzu viel passiert. In der Pressekonferenz haben Sie geäußert, dass Sie seit Monaten an der Verbesserung der Qualität des Maßregelvollzugs arbeiten. Wenn man sich das anschaut, da es schon im Jahre 1999 angekündigt worden ist, drängt sich die Vermutung auf, dass es bereits seit Jahren geplant wird, meine Damen und Herren.

(Zuruf des Abg. Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS)

Dieser Maßregelvollzug in Sachsen erfährt offensichtlich nicht die notwendige Aufmerksamkeit seitens der Staatsregierung. Wir wollen das ändern und begrüßen deshalb, dass wir dazu heute die Gelegenheit in dieser Debatte haben.

Lassen Sie mich eines anführen: Es ist einfach, draußen im Land herumzulaufen und großspurige Vorschläge zu machen über Sexualstraftäter, über Dateien, Pranger im Internet und anderes. Das kostet nichts und ist sehr billig zu haben. Tatsächlich aber eine solide Arbeit zu machen und den Maßregelvollzug mit Plätzen, mit Therapeuten, mit Sicherheitseinrichtungen und mit Geld auszustatten, das ist viel schwieriger.

(Beifall bei der FDP)

Ich erteile der Fraktion der GRÜNEN das Wort; Frau Herrmann, bitte.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Tatsachen, die zur Aktuellen Debatte geführt haben, sind hinlänglich bekannt und von meinen Vorrednern ausreichend erwähnt worden. Ob eine Aktuelle Debatte im Landtag der richtige Ort ist, um über das Thema Maßregelvollzug zu diskutieren, haben die Vorredner auch angeschnitten, es bietet aber zumindest die Möglichkeit, einen Einstieg in das Thema zu wagen. Falsch ist auf alle Fälle, die Probleme und die Entwicklung des Maßregelvollzuges nur im Zusammenhang mit Entweichungen zu diskutieren.

(Beifall bei den GRÜNEN und des Abg. Marko Schiemann, CDU)

Spektakuläre Fälle und die Rufe nach Law and Order dienen nicht der sachlichen Auseinandersetzung mit dem Thema

(Beifall des Abg. Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS)

und es wird dabei völlig übersehen – auch wenn Sie, Herr Dr. Martens, 97 Fälle seit 2002 anführen –, dass die Zahl der Entweichungen rückläufig ist:

(Beifall der Abg. Horst Wehner und Klaus Bartl, Linksfraktion.PDS)

23 Fälle im Jahr 2002 und 15 Fälle im Jahr 2006 – und dies aber, bitte schön, bei steigender Patientenbelegung, nämlich von 351 auf 405.

(Staatsministerin Helma Orosz: Genau, Verdoppelung!)

Im Zusammenhang mit Entweichungen ist immer zuerst der bauliche Zustand im Blick. In einem internen Gutachten, das auf der Kabinettspressekonferenz am 06.03.2007 vorgestellt wurde, bewertete der Gutachter Prof. Konrad diesen Zustand als gut.

(Dr. Dietmar Pellmann, Linksfraktion.PDS: Genau!)

In dieser Hinsicht gibt es kein Sicherheitsproblem. Es ist ein Irrtum anzunehmen, man könne hundertprozentige Sicherheit erreichen. Deshalb ist es auch fahrlässig, dies zu suggerieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen, was den Maßregelvollzug angeht, die Sachdebatte, und es sind grundsätzliche Fragen zum Maßregelvollzug zu stellen: Gibt es ausreichend Plätze im Maßregelvollzug? SachsenAnhalt hält die doppelte Anzahl von Plätzen vor, bezogen auf die Bevölkerungszahl. Ist der Maßregelvollzug ausreichend ausgestattet? Und vor allem: Gibt es ausreichend Plätze für junge Täter, vor allen Dingen für junge suchtkranke Täter?

Unsere Große Anfrage zum Jugendstrafvollzug in Sachsen zeigt, dass es aktuell 317 Jugendstrafgefangene in Sachsen gibt, und die Zahlen, die zur Kabinettspressekonferenz herausgegeben wurden, belegen, dass es lediglich für 10 % dieser jugendlichen Straftäter Plätze in psychiatrischen Einrichtungen des Maßregelvollzuges, und zwar nach § 63 Strafgesetzbuch, gibt. Eine Aufstockung ist – dies kann man der Antwort auf eine Kleine Anfrage unserer Fraktion entnehmen – nicht geplant.

Laut Aussagen der Staatsregierung haben nahezu alle dieser rund 300 Jugendstrafgefangenen Missbrauchserfahrungen mit Alkohol und Drogen. Dabei ist die Frage zu stellen: Wo sind die ausgewiesenen Plätze für suchtkranke Jugendliche im Maßregelvollzug?

(Dr. Dietmar Pellmann, Linksfraktion.PDS: Genau!)

Auf der Kabinettspressekonferenz wurde dazu gesagt, es gebe keine. Es gibt also keine Plätze für Jugendliche nach § 64 Strafgesetzbuch. Wie ist dies aber zu begründen, wenn die Zahl der Jugendlichen mit Suchterfahrungen und vor allem mit schwerer Abhängigkeit unter den Verurteilten zunimmt? Es gibt im Übrigen auch keine geschlechtsspezifischen Plätze. Die Anzahl der Täterinnen unter den Heranwachsenden nimmt jedoch ebenfalls zu.

All das beschreibt Rahmenbedingungen für den Maßregelvollzug in Sachsen, und diese sind wiederum die Voraussetzungen für Qualität und die Möglichkeit der

fachlichen Entwicklung des Maßregelvollzuges. Hierbei schließen sich noch folgende Fragen an: Gibt es einheitliche Lockerungskriterien? Wie ausreichend sind Plätze und Personal im offenen Vollzug? Wird dieser ausgebaut? Wann und wie oft wird Therapieresistenz festgestellt? Wie groß ist die Zahl der Rückführungen? Wie schnell werden diese Rückführungen vollzogen?

Auch darauf gab die schon zitierte Kabinettspressekonferenz einige Antworten. Im internen Gutachten des Sozialministeriums zum Maßregelvollzug fordert Prof. Konrad ein einheitliches Lockerungsmanagement in den psychiatrischen Einrichtungen und es ist erstaunlich, dass es dieses noch nicht gibt; denn die Einheitlichkeit erhöht nicht nur die Objektivität der Entscheidungen, sondern ist auch Voraussetzung für eine Gleichbehandlung aller Insassen.

Jetzt wurde dazu eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die einheitliche Kriterien für Lockerungen erarbeiten wird. Eine Rechtsverordnung soll im Mai vorliegen. Weiter kritisiert Konrad die konzeptlosen und uneinheitlichen Weiterbildungen in den Einrichtungen. Auch hier ist ein gemeinsames Vorgehen in der Zukunft geplant. Das ist gut; besser spät als nie. Darüber hinaus brauchen wir eine Bewertung der Qualität des Maßregelvollzuges und eine Antwort auf die Frage nach Therapieerfolg und Wiederholungsquoten.

Noch ein Wort zu den sogenannten Rückführungen. Wenn Menschen, die austherapiert sind oder die Therapie verweigern, aus dem Maßregelvollzug in die Justizvollzugsanstalten zurückgeführt werden sollen, bedarf dies einer richterlichen Anordnung. Wenn diese richterliche Anordnung aufgrund dessen, dass es vielleicht nicht genug Richter gibt, sechs Monate und länger auf sich warten lässt, werden Plätze im Maßregelvollzug blockiert. Das kann man nicht so stehen lassen.

Bitte zum Schluss kommen!

Das ist ein Auftrag auch an den Justizminister zu handeln. Insgesamt gibt es mehr Fragen als Antworten; aber wenn wir den Maßregelvollzug nur unter Kostengesichtspunkten oder im Hinblick auf zu stopfende Sicherheitslücken betrachten, – –

Bitte zum Schluss kommen!