Protocol of the Session on November 16, 2006

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 65. Sitzung des 4. Sächsischen Landtages.

Folgende Abgeordnete, von denen Entschuldigungen zu unserer heutigen Sitzung vorliegen, sind beurlaubt: Frau Orosz, Herr Heinz, Herr Dr. Friedrich, Herr Baier, Frau Dr. Runge, Frau Kagelmann und Frau Lay.

Meine Damen und Herren! Die Tagesordnung unserer heutigen Sitzung liegt Ihnen vor. Das Präsidium hat für die Tagesordnungspunkte 1 bis 9 folgende Redezeiten festgelegt: CDU-Fraktion 160 Minuten, Linksfraktion.PDS 120 Minuten, SPD-Fraktion 70 Minuten, NPDFraktion, FDP-Fraktion und GRÜNE-Fraktion je 50 Minuten, fraktionslose MdL je 8 Minuten; Staatsregierung 120 Minuten.

Meine Damen und Herren, ich bitte, auf der Ihnen vorliegenden Tagesordnung die Punkte 13, Beschlussempfeh

lungen und Berichte der Ausschüsse – Sammeldrucksache –, und 15, Kleine Anfragen, zu streichen.

Meine Damen und Herren! Mir liegt entsprechend Artikel 54 der Verfassung des Freistaates Sachsen in Verbindung mit § 2 Abs. 1 des Gesetzes über Einsetzung und Verfahren von Untersuchungsausschüssen des Sächsischen Landtages ein Antrag der Abgeordneten der NPDFraktion, Drucksache 4/6981, vor. Gemäß § 54 Abs. 2 Buchstabe c der Geschäftsordnung ist der Antrag dringlich und wird nach § 54 Abs. 1 der Geschäftsordnung auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung gesetzt. Ich schlage Ihnen vor, diesen Antrag als Tagesordnungspunkt 1 zu behandeln. – Ich sehe keinen Widerspruch.

Ich frage, ob es zu der vorliegenden Tagesordnung Ihrerseits noch Ergänzungs- oder Änderungswünsche gibt. – Das ist nicht der Fall. Dann gilt die vorliegende Tagesordnung mit der Erweiterung um den neuen Tagesordnungspunkt 1 als von Ihnen bestätigt.

Meine Damen und Herren! Wir kommen damit zur Tagesordnung selbst. Ich rufe auf

Tagesordnungspunkt 1

Einsetzung eines Untersuchungsausschusses „Klärung der Verantwortung des sächsischen Innenministeriums und des sächsischen Justizministeriums für die Ermittlungsversäumnisse bei der Suche nach der entführten Stephanie R. sowie für die Versäumnisse der sächsischen Justizbehörden bei der Flucht des mutmaßlichen Entführers Mario M. auf ein Dach der JVA Dresden am 8./9. November 2006“

Drucksache 4/6981, Dringlicher Antrag der Fraktion der NPD

Mir liegt entsprechend Artikel 54 der Verfassung des Freistaates Sachsen in Verbindung mit § 2 Abs. 1 des Gesetzes über Einsetzung und Verfahren von Untersuchungsausschüssen des Sächsischen Landtages ein Antrag der Abgeordneten der Fraktion der NPD, Drucksache 4/6981, zum Thema „Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ‚Klärung der Verantwortung des sächsischen Innenministeriums und des sächsischen Justizministeriums für die Ermittlungsversäumnisse bei der Suche nach der entführten Stephanie R. sowie für die Versäumnisse der sächsischen Justizbehörden bei der Flucht des mutmaßlichen Entführers Mario M. auf ein Dach der JVA Dresden am 8./ 9. November 2006’“ vor.

Ich gehe davon aus, dass die Antragsteller ihr Begehren begründen wollen. Das Wort hat zuerst die NPD-Fraktion. Die weitere Reihenfolge lautet: CDU-Fraktion, Linksfraktion.PDS, SPD-Fraktion, FDP-Fraktion, GRÜNE-Fraktion; Staatsregierung, wenn gewünscht.

Die Debatte ist eröffnet. Ich bitte, dass die Fraktion der NPD das Wort nimmt. Herr Dr. Müller, bitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Das Bedauern reicht nicht“ – das

war das Fazit des Vaters der wochenlang von Mario M. missbrauchten Stephanie, nachdem er am gestrigen Tag eine Sitzung unseres Hauses besucht und die Erklärung des Staatsministers Mackenroth gehört hatte. Joachim R. hatte gehofft, dass endlich Konsequenzen gezogen werden, und er hat auch eine klare Vorstellung davon, wie dies geschehen kann. Die letzte Hoffnung sieht die Familie in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der – ich zitiere nochmals Joachim R. – „die Sache hinterfragt und klärt, was warum schiefgegangen ist“.

Diese Aussage des Vaters von Stephanie zeigt, dass die Bürger im Freistaat oftmals eine viel klarere und treffendere Vorstellung von einem geeigneten politischen Vorgehen haben als die politische Führung im Land selbst.

(Beifall bei der NPD)

In der gestrigen Erklärung von Staatsminister Mackenroth zum Fall Stephanie und der anschließenden Diskussion wurde von keinem der Redner auch nur ein einziger triftiger Grund genannt, der gegen die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses sprechen würde.

Sicherlich hatte Herr Lichdi recht, als er gestern davon sprach, dass der Landtag in der öffentlichen Wahrnehmung und der Medienberichterstattung nicht als entscheidungsfaule Quasselbude erscheinen darf. Was aber schlägt er zur Abhilfe vor? Ausgerechnet die Einberufung einer Sondersitzung des Verfassungs-, Rechts- und Europaausschusses. Untauglicher könnte ein Instrument zur Klärung der politischen Verantwortung für die Versäumnisse im Fall Stephanie gar nicht sein; denn bei diesem handelt es sich um einen der spektakulärsten Fälle der jüngeren deutschen Kriminalgeschichte, der nur durch eine ebenso spektakuläre wie für die Verantwortlichen peinliche Pannenserie passieren konnte. Die Aufklärung eines derartig komplexen und ausufernden Untersuchungsgegenstandes kann logischerweise gar nicht im Rahmen einer Ausschusssondersitzung erreicht werden. Nein, sie erfordert geradezu die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, des schärfsten Schwertes, das die Legislative zur Kontrolle der Exekutive zur Verfügung hat.

Die gestrigen Ausführungen des Staatsministers Mackenroth waren höchst unbefriedigend und hätten noch viel engagierteren Widerspruch erfordert. Es kann doch nicht sein, dass eine abenteuerliche These wie die von der angeblichen Unmöglichkeit eines Polizeizugriffs auf dem Dach der JVA auf Mario M. am 8. oder 9. November 2006 von uns als den Kontrolleuren der Staatsregierung einfach widerspruchslos geschluckt wird.

Einer der renommiertesten Kriminologen Deutschlands, Christian Pfeiffer, hat vor einigen Tagen sein Entsetzen über das Versagen der Justiz im Fall Mario M. ausgedrückt. Pfeiffer äußerte – Zitat –: „Es ist skandalös, dass die Justiz zugelassen hat, dass er stundenlang auf dem Dach sein Macho-Ego herausstellen konnte.“ Für Suizid, so Pfeiffer, sei Mario M. viel zu selbstverliebt. Er habe den Vorgang benutzt, um sich zu produzieren, und die Justiz habe zugelassen, dass er sich inszeniert.

So, meine sehr verehrten Damen und Herren, stellt sich die Sicht eines unabhängigen Wissenschaftlers auf die Dinge jenseits der von politischen Interessen begründeten Schwafelzone dar. Sie macht deutlich, wie begründet unser Dringlicher Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ist.

Wir haben unseren Dringlichen Antrag gestern überarbeitet und erweitert, um sinnvolle Anregungen von Rednern anderer Fraktionen einbeziehen zu können, beispielsweise die Frage, die Kollege Bartl aufgeworfen hat, ob es anstaltserfahrene Gefangene gibt, die über Sicherheitslücken in der baulichen Ausgestaltung der JVA informiert waren.

Aus sachlicher Perspektive sollte nun einer Einsetzung des Untersuchungsausschusses nichts mehr entgegenstehen. Ich bitte um Zustimmung zu unserem Dringlichen Antrag und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der NPD)

Ich erteile der Fraktion der CDU das Wort. Herr Prof. Dr. Schneider, bitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kein Mensch kann die entsetzlichen und abscheulichen Verbrechen, denen Stephanie zum Opfer gefallen ist, überhaupt nur im Ansatz erahnen. Kein normaler Mensch kann die Grausamkeiten eines Mario Mederake ermessen oder gar verstehen.

Jenseits aller strafrechtlichen Maßnahmen und jenseits der sicherlich auch notwendigen politischen Bewältigung möchte ich sagen, dass Stephanie und ihre Familie mein ganzes Mitgefühl haben.

Dies vorausschickend, meine Damen und Herren, nehme ich für die Koalitionsfraktionen zu dem soeben gehörten Antrag wie folgt Stellung: Wir, die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen, sehen uns außerstande, der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses unsere Zustimmung zu geben. Die folgenden Gründe leiten uns dafür. Es gibt Ereignisse im Leben, für die man im Leben keine Worte findet. Man mag sagen, sie seien eine Panne, sie seien peinlich, sie dürften nicht geschehen, dürften nie wieder geschehen. Ich glaube, damit wird umschrieben, dass man für ein Ereignis tatsächlich keine Worte findet. Es sind Dinge, die außerhalb der normalen menschlichen Vorstellungskraft liegen. Das, was Stephanie im Januar und Februar erlitten hat, und auch das, was den Weg des Mario Mederake auf das Gefängnisdach betrifft, gehört sicherlich dazu.

Ein Untersuchungsausschuss, den die NPD will, brächte hier überhaupt keinen Erkenntnisgewinn.

(Zuruf von der NPD: Falsch!)

Der richtige Weg einer parlamentarischen Kontrolle erfolgt genau auf dem Verfahrensweg, den wir in diesen Tagen sehen und noch sehen werden.

Der Staatsminister der Justiz hat hier im Plenum gestern eine ausführliche Erklärung zum Vorfall in der Justizvollzugsanstalt am 8. November 2006 abgegeben. Am kommenden Montag wird sich der Rechtsausschuss in einer Sondersitzung genau damit befassen. Was, frage ich Sie, Herr Dr. Müller, soll daran untauglich sein? Sie wollen nur das Schaufenster der Öffentlichkeit zum Preis eines Menschen.

(Jürgen Gansel, NPD: Politische Transparenz! – Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: Kindesmissbrauch ist das!)

Die parlamentarische Kontrolle und Aufarbeitung der Sache, meine Damen und Herren, gehören nicht in einen Untersuchungsausschuss, der eine ganz andere Funktion hat, die Sie offensichtlich immer noch nicht kennen.

Für mich ist der zweite Grund, weshalb wir einen Untersuchungsausschuss ablehnen, sehr viel wichtiger. Ich habe selbst Kinder. Meiner Tochter wollte ich die Tortur einer Sachverhaltsfeststellung in öffentlicher Sitzung nicht zumuten. Ich würde alles, aber auch alles dafür tun, dies zu verhindern. Das, was die Strafprozessordnung an Opferschutz bietet – Einschränkung der Öffentlichkeit

zum Schutz des Opfers; darum geht es –, könnte in einem öffentlichen Untersuchungsausschuss nicht zum Tragen kommen. Das nehmen Sie in Kauf. Und das nehme ich Ihnen höchst übel, Herr Müller.

(Beifall bei der CDU, der Linksfraktion.PDS, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Wenn die Eltern die Dinge so sehen, ist ihnen das unbenommen. Ich kann das verstehen. Ich kann es auch nachvollziehen. Aber ein politischer Auftrag für uns daraus führt nicht zum Schutz des Mädchens. Unter diesem Eindruck, Herr Müller, ärgert es mich nun wirklich, wie Sie es eben begründet haben. Ich komme nicht umhin, das, was Sie eben hier gesagt haben, als schäbig zu bezeichnen. Das ist schäbig in höchstem Maße.

(Jürgen Gansel, NPD: Das ist eine Frechheit!)

Meine Damen und Herren! Ich will nicht missverstanden werden. Natürlich müssen die Vorfälle vom 8. November restlos aufgeklärt werden. Das haben alle Fraktionen gestern gesagt. Der Justizminister hat sich hier im Haus erklärt und hat auch mir persönlich angeboten, sich in einer Ausschusssitzung genau um diese Aufklärung zu bemühen. Dafür danke ich ihm.

(Zuruf von der NPD: So reicht uns die Begründung des Ministers nicht!)

Sie zeigen mit Ihren Zwischenrufen, worum es Ihnen wirklich geht. Es ist beschämend, was Sie hier veranstalten.

(Beifall bei der CDU, der Linksfraktion.PDS, der SPD, der FDP und den GRÜNEN – Jürgen Gansel, NPD: Um Aufklärung!)

Meine Damen und Herren! Stephanie, vor allem Stephanie, das Opfer, hat Anspruch darauf, dass die Vorfälle vom 8. November restlos aufgeklärt werden. Daran haben natürlich auch die Eltern und auch die Öffentlichkeit dasselbe Interesse. Aber soweit es um die notwendige parlamentarische Kontrolle geht, ist diese bereits auf dem Weg. Einen Untersuchungsausschuss brauchen wir dafür nicht.

(Beifall bei der CDU, der Linksfraktion.PDS, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Ich erteile der Linksfraktion.PDS das Wort. Herr Bartl, bitte.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Müller, ich bin kein Freund von Ritualen. Aber hier gehören ein paar Vorbemerkungen her. Dass gerade Sie, meine Damen und Herren von der NPD-Fraktion, sich berufen fühlen, den Rechtsstaat und die Opfer von Straftaten zu schützen, ist in einem Maße absurd und unverschämt, dass einem die Spucke wegbleibt. Das gebe ich gern zu.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS, der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Sie hegen und pflegen über Jahre hinweg einen Mann wie Herrn Menzel in Ihren Reihen, der schon hier im Landtag auf Vorhalt coram publico erklärt hat, keine Veranlassung zu sehen, sich von den Verbrechen des Dritten Reiches zu distanzieren. Als er nun am vergangenen Wochenende die Stirn hatte, am Rande Ihres Symbolparteitages in Berlin in die Mikrofone zu erklären: „Ich stehe zum Führer nach wie vor, da gibt es kein Vertun“, führte mithin nicht das zum Ausschluss aus der Fraktion sondern nach allen Verlautbarungen der Umstand, dass sich dieser deutsche Saubermann umfänglichen Schuldverpflichtungen entzieht respektive nicht zahlt, wo er zu zahlen hat.