Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 52. Sitzung des 4. Sächsischen Landtages. Folgende Abgeordnete, von denen Entschuldigungen zu unserer heutigen Sitzung vorliegen, sind beurlaubt: Herr Colditz, Herr Zastrow, Herr Eggert, Frau Pfeiffer und Frau Dr. Schwarz. – Ich sehe, Frau Dr. Schwarz ist anwesend.
Die Tagesordnung zu unserer heutigen Sitzung liegt Ihnen vor. Folgende Redezeiten hat das Präsidium festgelegt: für die Tagesordnungspunkte 1 und 2 sowie 5 bis 10 CDU 128 Minuten, Linksfraktion.PDS 96 Minuten,
SPD 56 Minuten, NPD, FDP und GRÜNE jeweils 40 Minuten, fraktionslose MdL je 7 Minuten und die Staatsregierung 96 Minuten. Die Redezeiten können wie immer auf die Tagesordnungspunkte entsprechend dem Bedarf der Fraktionen verteilt werden.
Meine Damen und Herren! Es gibt eine Änderung der Tagesordnung. Der Tagesordnungspunkt 16, Kleine Anfragen, ist zu streichen.
Meine Damen und Herren, ich frage Sie, ob es zu der Ihnen vorliegenden Tagesordnung noch Änderungs- oder Ergänzungswünsche gibt. – Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann gilt die vorliegende Tagesordnung für unsere heutige Beratung als bestätigt. Wir kommen damit gleich zur Tagesordnung selbst. Ich rufe auf den
2. und 3. Lesung des Entwurfs Gesetz zum Vertrag zur Änderung des Vertrages des Freistaates Sachsen mit dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden
Den Fraktionen wird das Wort zu einer allgemeinen Aussprache erteilt. Die Reihenfolge in Runde eins lautet: CDU, Linksfraktion.PDS, SPD, NPD, FDP, GRÜNE und die Staatsregierung, wenn gewünscht. Die Debatte ist eröffnet. Ich erteile der Fraktion der CDU das Wort. Herr Schiemann, bitte.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die CDUFraktion begrüßt den Gesetzentwurf zum Vertrag zur Änderung des Vertrages des Freistaates Sachsen mit dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden. Mein Dank gilt der Staatsregierung des Freistaates Sachsen und ganz besonders dem Landesverband Sachsen der Jüdischen Gemeinden, derzeit bestehend aus den Gemeinden Chemnitz, Dresden und Leipzig, für die Erarbeitung dieses Vertrages. Der Dank gilt aber auch den Fraktionen, die sich im Rechtsausschuss an einer fairen Beratung beteiligt haben.
Für die CDU-Fraktion möchte ich klar und deutlich sagen: Wir freuen uns mit den Vertretern der Jüdischen Gemeinden, dass ihre Gemeinden wieder wachsen.
Dabei dürfen wir aber nicht das Unfassbare der Verbrechen zwischen 1933 und 1945, den Völkermord an den
Juden Europas, vergessen. Der Nationalsozialismus hat jüdisches Leben auch in Sachsen fast vollständig ausgelöscht. Im reichsweiten Pogrom des 9. November 1938 wurden fast 100 Juden ermordet. Die Synagogen brannten, die Friedhöfe wurden geschändet. Dies geschah auch in Sachsen. Synagogen und Gebetsräume wurden geschändet und in Brand gesteckt. Was damals vernichtet worden ist, wurde bis heute nicht ersetzt. Berufsverbot, Schikanen und Ausgrenzung folgten. Wer Jude war, durfte keine Kinos, Theater oder Konzerte besuchen; Juden durften weder Haustiere noch Musikinstrumente besitzen. Radios, Telefonapparate, Führerscheine für Kraftfahrzeuge mussten abgeliefert werden. Bald darauf begannen die Deportationen in die Todeslager, die nur ein kleiner Teil verschleppter Juden überlebte.
Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und der Rechtsstaat müssen gestärkt werden, damit sich Vergleichbares niemals wiederholt.
Dies ist aber nicht allein die Aufgabe des Staates. Die Bürger Sachsens tragen im Wissen um das Geschehene Verantwortung für die Gegenwart und für die Zukunft. Vor 1933 haben Juden auch die Entwicklung Sachsens entscheidend mitgeprägt. Mit der rechtlichen Gleichstellung haben sie unvergessliche Leistungen erbracht. Viele dieser Namen gehören in das sächsische Buch der Ge
schichte. An einige möchte ich erinnern. So waren es im 19. Jahrhundert in Leipzig Max Abraham, Verleger und Begründer der Edition Peters, und Felix Mendelssohn Bartholdy, der in Leipzig das erste Konservatorium Deutschlands gründete. 1872 eröffnete Henriette Goldschmidt im Alter von 86 Jahren in Leipzig das erste Seminar für Kindergärtnerinnen in Deutschland. Meine sehr geehrten Damen und Herren, welch eine Leistung in diesem hohen Alter! Mit 86 Jahren gründete sie die erste Hochschule für Frauen, ebenfalls in Leipzig.
In Chemnitz wäre eine Industrialisierung ohne Unterstützung jüdischer Unternehmer nicht so erfolgreich verlaufen, wie die Stärke der Stadt Chemnitz dies belegt hat. In Dresden erlangte der Oberrabbiner Dr. Wolf Landau hohes öffentliches Ansehen, nicht nur in seiner Gemeinde, sondern auch im Königreich Sachsen. Er wurde von vielen Bürgern hoch geehrt, aber auch vom sächsischen König. Max und Georg Arnhold haben neben dem sozialen Engagement eine bleibende Erinnerung hier in Dresden hinterlassen. Die Dresdner verdanken ihnen das Georg-Arnhold-Bad direkt neben dem Dynamo-Stadion. Dieses Bad wurde bis 1997 mit umfangreicher Unterstützung der Erben modernisiert und den Dresdnern zugänglich gemacht.
Die Namen und ihre Leistungen müssen für die Nachgeborenen erhalten bleiben, damit sie begreifen, dass jüdisches Leben entscheidend dieses Land, unsere Heimat, geprägt hat.
Zu den Namen gehört aber auch Victor Klemperer, der uns mit dem Buch „LTI – Die Sprache des Dritten Reiches“ mahnend darauf hinweist, dass Diktaturen mit der Verrohung der Sprache und mit Gleichgültigkeit beginnen.
Juden haben in der Geschichte Sachsens Kunst und Kultur, Wissenschaft, Industrie, Medizin und Gesellschaft mit ihren Leistungen entwickelnd und entscheidend geprägt. An diese Leistungen, meine sehr geehrten Damen und Herren, anzuknüpfen, ermuntere ich die Vertreter der Jüdischen Gemeinden in Sachsen. Waren es 1989 nur noch annähernd 100 Gemeindeglieder, so ist die Zahl inzwischen auf über 2 000 angewachsen. Dabei geht es nicht nur um Religionsausübung, nein, Integration, soziale Arbeit bis hin zur Kulturarbeit werden durch die Gemeinden geleistet. Dafür ein herzliches Dankeschön.
Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist es sachgerecht, den Vertrag aus dem Jahr 1994, im Übrigen im Sächsischen Landtag am 23. Juni 1994 öffentlich verhandelt, heute in geänderter Form abschließend zu beraten.
Danken möchte ich den Vertretern der jüdischen Gemeinden in Sachsen, die sich für diesen Vertrag eingesetzt
haben, stellvertretend Frau Dr. Goldenbogen, Herrn Aris, Herrn Kaufmann und Herrn Rotstein. Danken möchte ich aber auch einem leider zu früh verstorbenen Juden aus meiner Heimatstadt Bautzen. Roman König war einer der wenigen Überlebenden des KZ-Außenlagers von Großrosen in Bautzen. Er hat seit 1990 in überzeugender und feinfühliger Art auf die Bedeutung jüdischen Lebens in Sachsen hingewiesen und dabei viele Herzen geöffnet. Ich bin dankbar, dass Sachsen solche Persönlichkeiten hatte und hat.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Jüdisches Leben hat in Sachsen wieder ein Zuhause gefunden. Setzen wir alles daran, dass dies auch in Zukunft so bleibt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man mit Gästen durch Dresden geht und ihnen die Schönheiten Dresdens zeigt, so gibt es spätestens nach den vielen bewundernden Ah und Oh eine erste Debatte über die Architektur, über Zweckmäßigkeit von Architektur, über Schönheit von Architektur und über Sinnfälligkeit von Architektur, wenn man an der neuen Synagoge steht. Dort scheiden sich die Geister durchaus. Von Distanz bis zur Begeisterung über den Mut des Architekten bekommt man ziemlich alle Meinungen zu hören. Das ist die eine Seite.
Aber eines findet immer Übereinstimmung: die Freude darüber, dass diese Synagoge dort steht, dass es diese Synagoge gibt und dass es in Sachsen wieder ein lebendiges, wachsendes und sich ausdifferenzierendes jüdisches religiöses und kulturelles Leben gibt. Das ist, glaube ich, das Entscheidende, nicht der Streit über Architektur. Hier stehen wir alle aus der Geschichte heraus in der Verantwortung und Herr Schiemann hat es ja sinnfällig dargestellt. Da muss man nichts wiederholen. Es ließe sich immer wieder etwas hinzufügen. Das ist der Beweis dafür, dass jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger sehr wesentlich zur Entwicklung deutscher und sächsischer Kultur beigetragen haben. Das ist nicht nur zu würdigen, denn das ist nach den Verbrechen des Faschismus aufzuarbeiten, und wir stehen in der Verantwortung.
Ich bin sehr froh, dass es diesen Vertrag gibt. Sachsen war – das muss man sagen; Ehre, wem Ehre gebührt – eines der ersten neuen Bundesländer, das in vertragliche Beziehungen mit den jüdischen Gemeinden eingetreten ist. Andere haben dazu sechs, sieben Jahre gebraucht. Der Vertrag sollte nach zehn Jahren überprüft werden. Dazu haben wir etwas länger gebraucht. Jetzt ist er da. Er würdigt und berücksichtigt diese erfreuliche Entwicklung der jüdischen Gemeinden. Aber das ist sicherlich nicht
das Ende der Entwicklung, sondern diese Entwicklung geht weiter und soll weitergehen. Wir sollen tatkräftig daran mithelfen. Aus diesem Grunde wird meine Fraktion ganz selbstverständlich diesem Vertrag und dem entsprechenden Ratifizierungsgesetz zustimmen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die jüdischen Gemeinden sind heute wieder ein fester Bestandteil des öffentlichen Lebens. Sie bereichern in zunehmendem Maße die kulturelle, gesellschaftliche und auch religiöse Vielfalt unseres Landes. Ich denke, dass es nach der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, dem Holocaust, für uns alle ein großer Gewinn ist, dass jüdisches Leben an vielen Stellen wieder mehr sichtbar wird und an eine lange Tradition mit tiefen Wurzeln anknüpft.
Ein wichtiger Grund für die Zunahme jüdischen Lebens ist, dass sich die Zahl der Mitglieder in den Gemeinden in den letzten zehn Jahren, insbesondere durch Zuwanderung, mehr als verzehnfacht hat. Ich freue mich, dass wir nunmehr auch die Zuwendungen an die jüdischen Gemeinden erhöhen und somit einen wichtigen Beitrag leisten, dass sich jüdisches Gemeindeleben in Sachsen weiterentwickeln kann.
Im Staatsvertrag wurde 1994 eine turnusmäßige Überprüfung und eventuell daran anschließende Anpassung der Zuwendungen vereinbart. Dieser Auflage kommen wir heute nach, indem wir dieser Gesetzesänderung zustimmen. Insgesamt sollen die Zuwendungen mit der Anpassung um etwa ein Drittel steigen. Dabei ist aus unserer Sicht die Orientierung auf die Pro-Kopf-Leistungen der anderen Bundesländer eine vernünftige Richtgröße, die einen ausgewogenen Ausgleich zwischen der Haushaltslage, die wir ja auch immer beachten müssen, und den gewachsenen Erfordernissen der jüdischen Gemeinden darstellt.
Ich bin zuversichtlich, dass der Freistaat Sachsen hiermit nicht nur eine Fortsetzung der Gemeindearbeit ermöglicht, sondern gleichzeitig auch neue Aktivitäten möglich macht.
Meine Damen und Herren! Über die Regelungen des Staatsvertrages hinaus sind wir alle aufgerufen, jüdischem Leben in Sachsen zu einer tatsächlichen Normalität zu verhelfen. Solange es traurige Realität ist, dass jüdische Einrichtungen durch Polizisten und Absperrgitter geschützt werden müssen, haben wir noch einen weiten Weg vor uns.
Deshalb möchte die SPD-Fraktion die heutige Aussprache auch dazu nutzen, ein klares Bekenntnis gegen Antisemitismus abzugeben. Dieses Zeichen ist uns deshalb wichtig, weil leider in diesem Landtag auch jene Kräfte sitzen,
Das blühende jüdische Leben in Sachsen zeigt aber auch, dass die Einschüchterungsversuche keine Chance haben. Bei uns in Sachsen gibt es einen Grundkonsens, der klar zu beschreiben ist: Wir tragen Verantwortung dafür, dass unsere jüdischen Bürgerinnen und Bürger sicher leben können. Wir tragen Verantwortung dafür, dass sie bei uns vor Diffamierungen und Stimmungsmache in Schutz genommen werden. Bei uns in Sachsen ist kein Platz für Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus.
Auf der sicheren Basis eines solchen Konsenses ist Sachsen zu einer dauerhaften Heimat für immer mehr Menschen jüdischer Herkunft und jüdischen Glaubens geworden. Wir wollen, dass die jüdischen Gemeinden weiter wachsen und mit ihrer Kultur und Religiosität unsere Gesellschaft bereichern. Offen gelebte jüdische Kultur und jüdische Religion sind wichtige Vorbeugungsarbeit gegen Antisemitismus, der vom Nichtwissen und vom Halbwissen lebt. Gerade aus diesem Grunde ist meiner Fraktion eine lebendige Gemeindearbeit unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger sehr wichtig.