Protocol of the Session on November 9, 2005

Aber es gab nach diesem verheerenden Inferno für den größeren Teil Deutschlands immerhin auch die Möglichkeit zum demokratischen Neuanfang, und diesmal wurde die große – und eigentlich unverdiente – Chance auch beherzt genutzt. Unsere Landsleute haben ein neues, ein demokratisches, friedliebendes, ein offenes und sympathisches Deutschland aufgebaut, welches heute auf der ganzen Welt geachtet wird – trotz des unglaublichen Zivilisationsbruches, den unser Volk zu verantworten hat, weil nämlich konsequent die richtigen Schlüsse aus jener unseligen Vergangenheit gezogen wurden.

Ja, meine Damen und Herren, ich bin stolz auf dieses unser Land, weil es sich als lernbereit erwiesen hat. Ich bin stolz, verehrte Abgeordnete, weil es die Größe und die Kraft gehabt hat, seine furchtbare Vergangenheit unter Schmerzen aufzubereiten. Ich bin stolz, weil die Haltung, die wir Deutschen uns erarbeitet haben, heute durchaus als gutes Beispiel für viele Konfliktherde auf dieser Welt dienen kann.

(Beifall bei der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Dies, meine Damen und Herren, ist ein Patriotismus, der uns wahrlich gut zu Gesicht steht. In die verkehrte Richtung geht es jedoch meiner bescheidenen Meinung nach, wenn man versucht, rechtspopulistische Stammtischparolen zu adaptieren, quasi zu zivilisieren. Begriffe wie „Schicksalsgemeinschaft der Nation“, „positive nationale Wallungen“ oder „Momente kollektiver Erhebungen“ sind ahistorisch, sie sind irrational und damit so ziemlich das Letzte, was eine aufgeklärte Bürgergesellschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts benötigt,

(Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: So ist es! – Beifall bei der SPD, der Linksfraktion.PDS, der FDP und den GRÜNEN)

und es heißt nicht umsonst im Volksmund: Man kann den Teufel nicht mit dem Beelzebub austreiben.

Meine Damen und Herren, wie viel zukunftsträchtiger ist hingegen jene Geisteshaltung, wie sie beim Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche zum Ausdruck kam!

Brücken bauen, Versöhnung leben – da wurde nicht versucht, Schuld zu relativieren und gegeneinander aufzurechnen. Aus den Ruinen der Vergangenheit wurde eine Brücke in die Zukunft geschlagen. Wir haben alle tief beeindruckt erfahren, wie die gesamte Welt Anteil an diesen Bemühungen und damit auch am leidvollen Schicksal unseres Volkes genommen hat – allen voran unsere einstigen Kriegsgegner.

Meine Damen und Herren Demokraten! Der schönste Lohn, den unser Volk für seine kritische Besinnung entgegennehmen durfte, war jedoch zweifellos dieser 9. November 1989. Der Zufall in Form des Genossen Schabowski wollte es, dass es wieder jener Tag war, an dem eine neue Epoche eingeleitet wurde. Der Eiserne Vorhang und mit ihm die europäische Nachkriegsordnung waren gefallen. Es war der Tag der Freiheit, an welchem sich die ganze Welt darüber wunderte, wie ausgelassen wir Deutschen doch auch sein können: beim Tanz auf der Mauer, die nun zerborsten war, uns aber drei Jahrzehnte lang getrennt hat.

In den letzten 16 Jahren, meine Damen und Herren, ist Europa unglaublich schnell zusammengewachsen. Wir Deutschen haben einen signifikanten und wichtigen Beitrag auf diesem Weg geleistet. Damit, meine sehr verehrten Damen und Herren demokratischen Abgeordneten, ist der 9. November 1989 ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass deutsche Geschichte auch gut ausgehen kann. Genau das ist es, was mich für die Zukunft unseres Landes optimistisch stimmt.

(Beifall bei der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Ich erteile der Linksfraktion.PDS das Wort. Herr Dr. Külow, bitte.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin Herrn Weiss sehr dankbar dafür, dass er in seinem ersten Diskussionsbeitrag auf den kartografischen Revanchismus der NPD-Fraktion und ihre Internetpräsentation eingegangen ist. Leider ist vorhin offenkundig überhört worden, dass Herr Gansel diesen kartografischen Revanchismus mit verbalem Revanchismus unterlegt hat. Er sprach permanent – kaltblütig inszeniert – von Mitteldeutschland, von Mitteldeutschen. Es war offenkundig, dass der Blick wieder nach Osten fiel und dass in diesem Hohen Hause Großmachtpolitik betrieben worden ist. Ich möchte dies in aller Entschiedenheit zurückweisen.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS – Zurufe von der NPD)

Eine Anmerkung zum Diskussionsbeitrag von Herrn Martens. Sie haben völlig Recht: Die Weimarer Republik war von Anfang an in der Defensive. Die beiden Republiken, die von Scheidemann und Liebknecht am Nachmittag mit zweistündigem Abstand ausgerufen wurden, haben sich erheblich voneinander unterschieden. Man

muss einfach genauer schauen, was an diesem Tag noch passierte. Friedrich Ebert hat am Abend General Groener von der Obersten Heeresleitung angerufen. Sie kennen dieses Telefonat. Er hat die Truppen, die zwar am nächsten Tag verbal ihr Bekenntnis zur Weimarer Republik bekundet haben, nach Berlin zurückgeholt mit den bekannten Folgen im Januar 1919.

Insofern ist es immer wieder gut, wenn man sich nicht nur die Dokumente anschaut, sondern das reale geschichtliche Geschehen betrachtet – wie es in der Bibel heißt: An den Früchten soll man sie erkennen. Hier kann ich Ihnen, Herr Rößler, eine entschiedene Auseinandersetzung mit Ihren zwölf Thesen nicht ersparen. Sie kommen natürlich passend mit der Debatte zur Leitkultur, von Herrn Lammert losgetreten. Irgendwie scheinen die Konservativen immer dann die deutsche Leitkultur zu bemühen, wenn die Wahlergebnisse nicht den gewünschten Erfolg gebracht haben bzw. die sozialen Spannungen in der Gesellschaft zunehmen. Dann wird der Kitt des Patriotismus genommen, um diese zu übertünchen. Die sächsische CDU will sich erklärtermaßen künftig stärker – ich zitiere – „als konservative, wertorientierte patriotische Volkspartei“ profilieren und strebt nunmehr unter dem Banner von Frau Merkel – auch das ein Zitat aus den zwölf Thesen – nichts Geringeres als „die geistige Wende“ an, die bekanntlich unter Bundeskanzler Kohl 1982 nicht erreicht wurde.

(Zuruf des Abg. Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS)

Insbesondere ist es der Versuch der Abrechnung mit den Folgen – ich zitiere wieder wörtlich – der „Kulturrevolution von 1968“. Insofern verkörpern Ihre Thesen, Herr Rößler – dies will ich hier in aller Klarheit sagen – ein programmatisches Dokument der Gegenrevolution.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Sie sind ein Versuch der schwarzen Reconquista in Sachsen. Ich sage es Ihnen in aller Klarheit: Hier gibt es deutliche Schnittmengen zu dem „Dresdner Manifest“ von Herrn Gansel. Dort ist manches nur noch geschliffener formuliert.

(Zuruf des Abg. Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS)

Es ist zu befürchten, dass weitaus mehr Steilvorlagen an die NPD geliefert worden sind als nur die Debatte um das Absingen der Nationalhymne. Der offenkundige Versuch der CDU, der NPD das Wasser abzugraben, wird wie der Wettlauf zwischen Hase und Igel ausgehen. Die Braunen werden immer wieder triumphierend rufen, dass sie schon da sind – mit einer Ausnahme vielleicht: wenn der sächsische Provinzpatriotismus der CDU die folgende Forderung von Ernst Moritz Arndt aufgreifen würde. Ich zitiere: „Sehr gut wäre es auch, wenn man in Zukunft anordnete, dass alle Teutschen auch äußerlich als teutsche Menschen von allen Völkern unterschieden werden, wenn alle in einer teutschen Volkstracht erschienen. Diese teutsche Tracht führt zu den notwendigsten und unerlässlichsten

Dingen, die wir uns zulegen müssen.“ Vielleicht fängt die CDU in einer Testphase mit solch einer Volkstracht an.

(Zuruf des Abg. Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS)

Patriotismusthesen sind im Übrigen der Beweis, dass sich die sächsische CDU selbst „hohmannisiert“ und damit am rechten Rand weiter erodiert.

Mit Dutzenden von Zitaten – darauf hat ein kluger SPDKritiker des Papiers hingewiesen – kann die Anlehnung an Programme der extrem Rechten aus den sechziger und siebziger Jahren belegt werden.

Erinnerungspolitisch – um den Kreis zur heutigen Debatte wieder zu schließen – verdeutlichen die Thesen, dass nicht nur Geißler und Blüm in der sächsischen CDU auf dem Abstellgleis stehen, sondern auch der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Es war kein Zufall, dass gerade Herr Bundespräsident Köhler zitiert wurde. Weizsäckers berühmte Rede anlässlich des 40. Jahrestages der Befreiung im Jahre 1985 scheint in Sachsen weitgehend vergessen zu sein bzw. man muss befürchten, dass sie nie gelesen oder, wenn schon gelesen, nicht verstanden wurde. Sachsen braucht keine – ich zitiere die Thesen – „positiven nationalen Wallungen“, wie es verschwiemelt in den Thesen heißt. Diesen merkt man es übrigens auch stilistisch an, dass der Autor den Absturz von den ministeriellen Höhen in die Niederungen des Ausschusses für Umwelt und Landwirtschaft noch nicht verarbeitet hat. Wenn schon der schillernde Begriff des Patriotismus gebraucht wird, dann sollte von Verfassungspatriotismus gesprochen werden, der modernen Demokratien allein schon wegen ihrer kulturellen Vielfalt angemessen ist und der sich nicht auf nationale Zugehörigkeit, sondern auf die universellen Rechte und Freiheiten der Menschen gründet.

(Beifall des Abg. Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS)

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Ich erteile der Fraktion der NPD das Wort. Herr Gansel, bitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Külow, zu Ihnen nur so viel: Ja, ich gebrauche den Begriff „mitteldeutsch“ genauso „kaltblütig“, wie sich in unseren Breitengraden ein großes Rundfunkhaus „kaltblütig“ den Namen Mitteldeutscher Rundfunk gegeben hat. – So viel zu Ihren Neurosen.

(Beifall bei der NPD)

Jetzt möchte ich auf das eigentliche Thema zurückkommen: den 9. November 1989. Die nationalen Chancen, die die Mitteldeutschen im November 1989 erstritten hatten, wurden von der politischen Klasse Westdeutschlands nicht nur nicht genutzt, man könnte auch zugespitzt sagen: Das Erbe von 1989 ist verraten worden. Dieser

westdeutschen Klasse ging es um nichts anderes als darum, den überlebten Status quo einer geistigen Rheinbundrepublik über die Epochenschwelle von 1989 hinaus zu retten. Dabei missachtete die politische Klasse sogar das in ihren Sonntagsreden immer wieder beschworene Grundgesetz. In Artikel 146 des Grundgesetzes heißt es unmissverständlich – ich zitiere –: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Da sich die etablierten Parteien die alte BRD aber zu ihrer Beute gemacht haben – ein Begriff von Prof. von Arnim übrigens – und da diese politische Klasse keine demokratische Erneuerung des größeren Deutschlands wollte, ließ sie auch keine Verfassungsdebatte zu, wie sie von vielen Mitteldeutschen unter dem Eindruck der Erlebnisse des Jahres 1989 gefordert wurde.

Anstatt der Grundgesetzvorgabe nach Artikel 146 zu folgen und durch eine Nationalversammlung eine neue Verfassung für das vereinte Deutschland zu verabschieden, wurde die Gültigkeit des Grundgesetzes entgegen seiner eigenen Absicht bis in die Gegenwart verlängert. Der Grund dafür ist schlicht und ergreifend die Angst der Mächtigen vor dem eigenen Volk. Denn klar ist, dass eine neue Verfassung starke plebiszitäre Elemente enthalten hätte, um den mittlerweile fast untergegangenen Gedanken der Volkssouveränität mit neuem Leben zu erfüllen. Aber Volksabstimmungen, wie sie in anderen Ländern Europas eine Selbstverständlichkeit sind, gelten hierzulande ja als Teufelszeug.

Aber die politische Entmündigung der Deutschen seit 1949 ist ja von in- und ausländischer Seite so gewollt. Weder durften die Deutschen über den NATO-Beitritt der BRD noch über den massenhaften Ausländerzustrom befinden. Weder durften sie über die Ostverträge mit dem Verzicht auf die historischen Ostgebiete abstimmen noch über die Aufgabe der Deutschen Mark zugunsten des Euro. Und genauso wenig sind die Deutschen gefragt worden zur Osterweiterung der Europäischen Union, und genauso wenig werden sie gefragt werden zur schon längst von der politischen Klasse beschlossenen Aufnahme der nichteuropäischen Türkei in die Europäische Union. Nehmen wir also die Freiheits- und Einheitsimpulse des 9. November 1989 auf und schaffen wir eine wirkliche deutsche Volksherrschaft! Wir brauchen eine friedliche deutsche Volkserhebung, wie wir sie vor 16 Jahren erleben durften. Bereiten wir auch der Bundesrepublik ihren verdienten 9. November 89.

(Beifall bei der NPD)

Ich erteile der Fraktion der FDP das Wort; Herr Dr. Martens.

Herr Präsident! Zu dem, was gerade eben gesagt worden ist, vorab nur so viel: Herr Gansel, Sie haben vorhin gesprochen von dieser Volkserhebung im November, am 9. November 1938. Und wenn Sie hier eine solche neue Volkserhebung beschwören, dann kann ich mir sehr gut vorstellen, was Sie meinen mit einer solchen Volkserhebung.

1989.

Ich kann Ihnen sagen, mit einer solchen Volkserhebung werden Sie hier auf einen erbitterten Widerstand aller anderen stoßen.

(Beifall bei der FDP, der CDU, der Linksfraktion.PDS, der SPD, den GRÜNEN und der Staatsregierung)

1989, am 9. November, fiel die Mauer. Aber es fiel mehr. Es fiel damit auch die Diktatur. Es war der Sieg der Freiheit, den die Menschen in Ostdeutschland sich selber friedlich erkämpft haben gegen die Diktatur. Die Mauer war nicht nur das schändliche Symbol der SEDHerrschaft, sondern sie war auch der tatsächliche Garant dieser Herrschaft. Das wird oft vergessen. Es war eine Revolution, die historisch einzig war in Deutschland, die diese Mauer zu Fall gebracht hat. Sie war erfolgreich, sie war vom Volk und sie war friedlich.

Das ist wahrscheinlich im Nachhinein einer der erstaunlichsten Faktoren, die wir festzustellen haben, wenn wir auf den 9. November 1989 zurückblicken. Wahrscheinlich war dieses friedliche Umwerfen der Mauer auch nur möglich, weil selbst die, die an der Mauer standen und sie bewachten, nicht mehr an ihre Wirkung und ihre Legitimation geglaubt hatten. Dieser Mauer fehlte jede innere und äußere Legitimation. Und am 9. November 1989 wurde dies nur endlich offen sichtbar und die Mauer war damit weg. Es war der Wille zur Freiheit, der den Menschen den Mut verlieh, gegen die Diktatur und gegen die Mauer anzugehen. Und was sie anstrebten, das war die Demokratie, das war die Republik, das waren nicht – wie Herr Külow meinte – restaurierte Machtverhältnisse. Es war nicht die Restauration, wie man meinen könnte, oder – wie wahrscheinlich viele von Ihnen damals dachten – die Konterrevolution, die sich dort aufmachte. Nein, es war der Wille zur Freiheit. Es war auch der Wille zur Freiheit

(Beifall bei der FDP, der CDU und des Abg. Martin Dulig, SPD)

und die Freiheit selbst, der die Menschen zujubelten.