Protocol of the Session on October 6, 2005

Herr Colditz, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ja, bitte.

Kollege Colditz, vielen Dank. Sie haben mich im Prinzip direkt aufgefordert, eine Anfrage zu stellen.

Sie haben eingangs auf Sachsens Platz in der deutschen Rangliste verwiesen. Ist es zutreffend, dass in der PisaStudie festgestellt worden ist, dass es in kaum einem anderen Land der OECD eine so große Abhängigkeit zwischen sozialer Herkunft und Bildungsabschluss wie in Deutschland gibt und dass, wenn das zutrifft, Sachsen sich dann international auch nur im unteren Feld bewegt und dass es uns nichts nützt, uns damit zufrieden zu geben?

Herr Kollege Hahn, ich kann Ihnen nur empfehlen, die Pisa-Studie selbst noch einmal zur Kenntnis zu nehmen bzw. nachzulesen, was dort steht. Ich denke, mein vorgetragenes Zitat ist eindeutig und auch nicht interpretierbar.

(Beifall bei der CDU – Dr. André Hahn, Linksfraktion.PDS: Nur Sachsen, wir müssen international betrachten!)

Meine Damen und Herren, für früh differenzierende, gegliederte Bildungssysteme wird als praktische Handlungsempfehlung gleichwohl eine frühe und früheste Förderung in jenen Kompetenzbereichen empfohlen, die für die Laufbahnentwicklung besonders notwendig sind. Dies voranzustellen erscheint mir notwendig, um den Blick für die konkrete Situation unseres Schulsystems weiter zu schärfen. Wenn es darum geht, Benachteiligungen, die aus der sozialen Herkunft erwachsen können, entgegenzuwirken, müssen wir von vornherein die Grenzen des Leistbaren verdeutlichen.

Es kann aber meines Erachtens bei allem individuellen Förderbedarf, dem wir uns stellen müssen und der auch realisiert wird, nicht darum gehen, via Abitur oder via Studium Sozialpolitik betreiben zu wollen. Der Staat kann nicht individuell oder familiär bedingte Begabungs- und Leistungsunterschiede umfassend begradigen. Fakt ist, dass Schüler, die in einem positiven Lernumfeld lernen, in einem Schulklima, das von Lernfreude und auch von Anstrengungsbereitschaft geprägt ist, dort, wo die Beziehungen zwischen Lehrerinnen und Lehrern und Schülern stimmen, insgesamt leistungsfähiger sind.

Das zu befördern erfordert Rahmenbedingungen, die die Schulen sich letztlich als pädagogische Handlungseinheiten entwickeln lassen. Das Ministerium hat in seiner Stellungnahme zu dem vorliegenden Antrag bereits einige solcher Rahmenbedingungen benannt. Ich will auch aus meiner Sicht bzw. aus Sicht des Parlaments Rahmenbedingungen, Gestaltungserfordernisse benennen, die wir insbesondere mit Blick auf die Schulgesetznovelle realisiert haben.

Erstens die Entfaltung des eigenschulischen Engagements vor Ort einschließlich der Schulprogrammarbeit und der damit verbundenen Öffnung der Schulen für das regionale Umfeld. Damit ergeben sich auch Möglichkeiten zur Einbeziehung von Eltern in die schulischen Angebote. Schließlich wird der Bildungserfolg maßgeblich durch die Kommunikationsmuster zwischen Eltern und Kindern geprägt. Hier auch Eltern Unterstützung zuteil werden zu lassen setzt eine engere Verbindung von Elternhaus und Schule voraus. Das weiter auszubauen ist eine Herausforderung, der wir uns mit dieser Schulgesetznovelle gestellt haben.

Zweitens. Wir haben die Ganzheitlichkeit von Bildung und Erziehung im Blick. Ganztagsangebote, wie sie im Land entwickelt worden sind oder entwickelt werden, sollen Bildung und Erziehung sowie Unterricht und Freizeit inhaltlich besser aufeinander abstimmen. Durch offene Schulen, die mit Vereinen, Bildungsträgern, Unternehmen und dem regionalen Umfeld zusammenarbeiten, ergeben sich wertvolle und vielfältige Möglichkeiten der Vernetzung in die Gesellschaft hinein. Für sozial schlechter gestellte Kinder ist das besonders von Bedeutung.

Drittens. Gerade im frühen Kindesalter werden bekanntermaßen wesentliche Grundlagen für Bildungsbiografien gelegt. Mit der Umsetzung vorschulischer Angebote und der Umsetzung der optimierten Schuleingangsphase sind

Voraussetzungen geschaffen worden, allen Kindern einen optimalen Start in weitere Bildungsgänge zu ermöglichen.

Viertens. „Pisa“ hat deutlich gemacht, dass eine kontinuierliche Rückmeldung über das Ergebnis von Lehr- und Lernprozessen eine wesentliche Grundlage für den erfolgreichen Verlauf dieser Prozesse ist. Wir haben internationale Erfahrungen im Umgang mit Evaluationsprozessen schulischer Entwicklung aufgegriffen und strukturell in unser Schulsystem implementiert.

Sicherlich stehen wir mit diesen genannten vier Punkten, mit dem, was wir damit erreichen wollen, am Anfang eines Weges. Aber die Weichen sind gestellt, um bei allen Schülern ein vergleichsweise hohes Bildungsniveau durch unsere Schulen zu sichern.

Meine Damen und Herren! Die vier genannten Punkte verdeutlichen, welche Möglichkeiten genutzt werden können, um unterschiedlichen Lernvoraussetzungen gerecht zu werden. Vorsicht ist allerdings meines Erachtens dort geboten, wo sich Begriffe wie „Bildungsarmut“ verselbstständigen und verallgemeinert werden, und dort, wo sie letztlich an schulischen Abschlussquoten festgemacht werden. Dann erliegen wir nämlich der parteiideologischen Vorstellung, dass sich aus diesen Schulabschlüssen, aus diesen Abschlussquoten die Qualität von Bildung herleitet. Ich will in diesem Zusammenhang Herrn Josef Kraus, den Präsidenten des Deutschen Bildungsverbandes, zitieren. Er sagt wörtlich:

„Die Quoten an Studierenden und an Akademikern sind völlig unzureichende Kriterien für die Charakterisierung eines Bildungssystems. Denn Studium ist international nicht gleich Studium und Akademiker ist international nicht gleich Akademiker. Ein solches Quotendenken verwechselt Quantität mit Qualität. In Finnland und in den USA etwa gilt die Ausbildung zur Krankenschwester als Hochschulausbildung. Diese Beispiele zeigen, dass viele deutsche Schulen Berufsabschlüsse unterhalb der so genannten akademischen Schwelle im gleichen Rang haben, wie anderenorts Hochschulabschlüsse. Die soziale Durchlässigkeit des Bildungswesens vieler anderer Länder ist zudem ein statistisches Artefakt. Wenn in Finnland die Tochter eines Industriearbeiters Krankenschwester wird, dann gilt sie als Aufsteigerin in akademische Ränge, in Deutschland trotz gleichwertiger Ausbildung nicht.“

Meine Damen und Herren! Diese Sicht auf die Dinge relativiert auch manche Position der so genannten Bildungsarmut. Die Stellungnahme der Staatsregierung und die Ausführungen, die ich eben gemacht habe, machen aber meines Erachtens deutlich, dass unser Bildungssystem, unsere Bildungslandschaft sehr gut geeignet sind, unterschiedlichen Lern- und Leistungsvoraussetzungen optimal gerecht zu werden.

Deshalb betrachten wir mit der vorliegenden Stellungnahme der Staatsregierung und dieser Aussprache den Antrag als erledigt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU – Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: Das ist ja das Neueste, dass eine andere Fraktion sagt, unser Antrag sei erledigt!)

Danke schön. – Die SPD-Fraktion schickt Herrn Dulig ins Rennen.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema des vorliegenden Antrages wird von meiner Fraktion voll unterstützt. Der Koalitionsvertrag weist dies in vielen Punkten auch für die Koalition aus: bessere individuelle Förderung, Überprüfung des Systems der Benachteiligtenförderung einschließlich der Förderschulzentren, wirkungsvolle Unterstützung von Ganztagsangeboten, Neugestaltung der Schuleingangsphase, Ermöglichung von Gemeinschaftsschule mit der ausdrücklichen Forderung nach individueller Förderung, Orientierung an den Besten in Europa.

„Alle Bemühungen und Maßnahmen in der Schulpolitik dienen dem Ziel, jedem jungen Menschen in Sachsen optimale Entwicklungsbedingungen zu geben, damit er ein selbstbestimmtes Leben in sozialer, ökologischer und kultureller Verantwortung führen kann.“

Dieses Zitat ist für uns keine Worthülse, sondern Programm. Wir wissen aufgrund der Begleituntersuchungen zu den OECD-Studien wie „Pisa“ und „Pirls“, dass die soziale Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern nicht allein auf ein niedriges Einkommen der Eltern zurückzuführen ist.

(Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS, steht am Mikrofon.)

Herr Dulig, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Das kam aber zögerlich. – Herr Kollege Dulig, geben Sie mir Recht, dass die Interpretation der Pisa-Studie und der Stellung Sachsens, die Herr Colditz gerade geboten hat, sich nicht an den Besten in Europa orientiert, wie Sie es eben als Forderung vorgelesen haben, sondern an den Schlechten in Deutschland?

Wissen Sie, man kann das Ergebnis in Sachsen bei „Pisa“ durchaus mit Anerkennung zur Kenntnis nehmen und es trotzdem als Herausforderung nehmen. Oder?

(Beifall bei der CDU – Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: So ist es gut!)

Die Begleituntersuchungen haben also gezeigt, dass die Benachteiligung nicht allein auf das niedrige Einkommen der Eltern zurückzuführen ist. Vielmehr spielt der Schulabschluss bzw. das Bildungsniveau der Eltern eine herausragende Rolle. Es ist leider so, dass sich hier ein Teufels

kreis auftut, dem junge Menschen im Zuge der sozialen Vererbung ausgesetzt sind.

(Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: Richtig!)

Dass wir in Deutschland mit der Schule Bildungsbenachteiligung im Laufe der Schullaufbahn eher verstärken als abbauen, muss uns doch genügend Ansporn sein, aktiv zu werden,

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS und der Abg. Elke Herrmann, GRÜNE)

und – ich hatte es schon ausgeführt – dass wir in Sachsen im innerdeutschen Vergleich hierbei nicht schlecht dastehen, darf uns auch nicht blind machen. Gerade infolge der besonderen Bedingungen im Zuge des Einigungsprozesses gibt es bei uns nicht wenige Familien mit niedrigem Einkommen, aber hohem Bildungsniveau.

(Zuruf des Abg. Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS)

Ein erster Schritt, um herkunftsbedingte Nachteile abzubauen, ist der Ausbau von Ganztagsangeboten bzw. der Aufbau von Ganztagsschulen. Allein dadurch, dass an diesen Schulen am Nachmittag Angebote vorgehalten werden, die für einen Teil der Schüler zu Hause überhaupt nicht denkbar wären, ist schon viel gewonnen.

Wir haben hier in Sachsen mit der Koalition einen Durchbruch und ein Umdenken errungen, welches vielfach gar nicht wahrgenommen wird. Mit der massiven Förderung von Ganztagsangeboten – immerhin 30 Millionen Euro pro Schuljahr – und der Zweckbindung dieser Mittel nicht einfach für Betreuung und Aufbewahrung, sondern für Förderung und Anregung akzeptiert auch unser Koalitionspartner eine neue Funktion der Schule.

(Dr. Fritz Hähle, CDU: Wir haben das mit voran- getrieben! – Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfrak- tion.PDS: Sie konnten ja nicht mehr anders!)

Ja, es ging nur gemeinsam, ist doch klar. – Es bringt eben nichts, die Rolle und Verantwortung der Familie dort zu beschwören, wo Familien diese Verantwortung aus den verschiedensten Gründen nicht wahrnehmen können.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Es nützen den betroffenen jungen Menschen auch keine Schuldzuweisungen, die am Ende doch nur der Abwehr der eigenen Verantwortung dienen.

Diese Wende haben wir vollzogen, indem wir die Ganztagsangebote finanziell kräftig unterstützen und damit die Schulen auf solche Angebote orientieren. Aber natürlich nicht nur für die Förderung benachteiligter Kinder und Jugendlicher, denn wir wissen aus der Kinder- und Jugendforschung zur Genüge, dass sich die Rolle der Familie gewandelt hat, dass sich die Familien zumeist erst am Abend zusammenfinden, dass Kinder und Jugendliche in der Familie oft nicht mehr die Spielpartner finden und deshalb Peer Groups außerhalb der Familie eine große

Rolle spielen. Die Schule kann und muss hier mit ihren Angeboten Lebensräume schaffen, die familiär überhaupt nicht entstehen können.

Aber natürlich wird die Wirkung der Ganztagsangebote begrenzt bleiben, wenn sich nicht die Schule insgesamt stärker an den Bedürfnissen der ihr anvertrauten jungen Menschen orientiert und wenn sie nicht Lernprozesse so organisiert, dass auch Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Elternhäusern gleiche Chancen und genügend Unterstützung haben.

(Beifall des Abg. Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS)

Was hier Not tut, ist eine kleine Revolution an unseren Schulen. Nein, nicht der Schulen, eine Revolution

(Dr. André Hahn, Linksfraktion.PDS: Wir machen mit!)