Protocol of the Session on October 5, 2005

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 30. Sitzung des 4. Sächsischen Landtages.

Folgende Abgeordnete, von denen Entschuldigungen zu unserer heutigen Sitzung vorliegen, sind beurlaubt: Frau Nicolaus, Herr Hilker und Herr Dr. Jähnichen.

Meine Damen und Herren! Die Tagesordnung liegt Ihnen vor. Das Präsidium hat für die Tagesordnungspunkte 4 bis 9 folgende Redezeiten festgelegt: CDU-Fraktion 96 Minuten, Linksfraktion.PDS 72 Minuten, SPDFraktion 42 Minuten, NPD-Fraktion 42 Minuten, FDP-

Fraktion 30 Minuten, GRÜNE-Fraktion 30 Minuten, Staatsregierung 72 Minuten. Die Redezeiten können wie immer von den Fraktionen entsprechend dem Redebedarf auf die Tagesordnungspunkte verteilt werden.

Meine Damen und Herren! Die Tagesordnung unserer heutigen Sitzung liegt Ihnen vor. Gibt es aus den Fraktionen heraus Anträge auf Änderung oder Ergänzung der Tagesordnung? – Das ist nicht der Fall. Dann gilt die vorliegende Tagesordnung für die heutige Sitzung als beschlossen.

Wir kommen deshalb zur Tagesordnung selbst. Ich rufe auf

Tagesordnungspunkt 1

Aktuelle Stunde

Aktuelle Debatte

Auswirkungen der geplanten EU-Dienstleistungsrichtlinie auf Sachsen

Antrag der Linksfraktion.PDS

Die Verteilung der Gesamtredezeit hat das Präsidium wie folgt vorgenommen: CDU-Fraktion 18 Minuten, Linksfraktion.PDS 18 Minuten, SPD-Fraktion 6 Minuten, NPD-Fraktion, FDP-Fraktion und GRÜNE-Fraktion ebenfalls jeweils 6 Minuten, Staatsregierung, wenn gewünscht, 10 Minuten.

Zunächst hat die Linksfraktion das Wort. Die weitere Reihenfolge lautet: CDU-Fraktion, SPD-Fraktion, NPDFraktion, FDP-Fraktion, GRÜNE-Fraktion, Staatsregierung.

Die Debatte ist eröffnet. Ich bitte die Linksfraktion.PDS das Wort zu nehmen. Herr Dr. Friedrich, bitte.

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Das Thema „Dienstleistungsrichtlinie“ steht in diesem Hohen Hause nicht das erste Mal zur Diskussion. Wir hatten am 22. April dieses Jahres bekanntlich eine interessante Debatte zu dem Thema. Damals wurde der Koalitionsantrag mit dem Titel „EU-Dienstleistungsrichtlinie vernünftig regeln – Sozialdumping und unfairen Wettbewerb verhindern“, Drucksache 4/1222, angenommen, auch mit den Stimmen der PDS-Fraktion; jedenfalls haben wir vier der fünf Punkte zustimmen können.

Inzwischen ist wohl klar, dass diese Richtlinie aufgrund des massiven gesellschaftlichen Widerstandes aus fast allen Bereichen – ich komme darauf noch zu sprechen – so ganz bestimmt nicht beschlossen wird. Nicht ohne Grund gibt es die Beschlüsse des Deutschen Bundestages vom März und vom Juni dieses Jahres mit dem klaren

Auftrag an die Bundesregierung, sich dafür einzusetzen, dass diese Richtlinie grundlegend überarbeitet, das unselige Herkunftslandprinzip aufgegeben und das Europäische Sozialmodell eingearbeitet wird.

Die Kuh ist aber noch lange nicht vom Eis. Deshalb ist diese Debatte wirklich brandaktuell. Eigentlich sollte gestern und heute der federführende Binnenmarktausschuss des Europäischen Parlaments über den Kommissionsvorschlag und die weit über 1 000 Änderungsanträge dazu beschließen. Den Medien war zu entnehmen, dass diese Sitzung des Binnenmarktausschusses gestern Abend geplatzt ist, weil die Konservativen von ihrem Herkunftslandprinzip schlicht und einfach nicht wegwollten. Der Konsensvorschlag der SPD-Berichterstatterin, Frau Gebhardt, hätte eine Brücke bauen können, hat aber partout keine Mehrheit gefunden.

In dieser ziemlich verfahrenen Situation ist es außerordentlich nützlich, dass sich der Sächsische Landtag abermals zu diesem – auch für Sachsen äußerst wichtigen – Thema verständigt. Es wird sicherlich noch einige Zeit dauern, ehe es im Europäischen Parlament zu einem abgestimmten Vorschlag kommt. Danach wird bekanntlich der zweite Gesetzgeber, also der Rat, tätig werden. Erst dann geht es richtig los. Aber es wäre völlig verfehlt, darauf zu warten, dass die Bundesregierung diesen Verhandlungsauftrag hat und am Ende etwas Günstiges herauskommen wird.

(Unruhe)

Ich darf um Aufmerksamkeit bitten.

Ich kann in der Kürze der Zeit nicht in die Tiefe gehen, möchte aber stellvertretend für Hunderte und Aberhunderte von kritischen Stellungnahmen vier herauspicken.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund befürchtet durch Intransparenz und eine zu starke Minimierung der staatlichen Kontrolle eine erschwerte Kontrolle der Wirtschaftskriminalität. Ferner sieht er die Gefahr einer Rechtsverwirrung durch unterschiedlichste, im Extremfall bis zu 25 verschiedene Rechtsordnungen, zum Beispiel in den Bereichen Bauordnung, Umweltschutz, Lärmschutz und Lebensmittelrecht.

Die GEW stellt bedenkliche Auswirkungen hinsichtlich des Vielfältigkeitsanspruchs und der Dienstleistungsqualität im Bildungsbereich fest, befürchtet eine akute Gefährdung gemeinnütziger Projekte und sorgt sich wegen der Gefahr des Outsourcings, zum Beispiel im Hochschulbereich, und der damit verbundenen Qualitäts- und Quantitätsverluste.

Der AOK-Bundesverband sieht eine schwere Beeinträchtigung der Steuerungs- und Funktionsfähigkeit der nationalen und kommunalen Gesundheitsversorgung. Er warnt vor massiven Eingriffen in die Regelungen zur Zulassung und zur Bedarfsplanung im Gesundheits- und Sozialsektor sowie im Pflegesektor. Er sieht die Gefahr des Unterlaufens der bestehenden Qualitätsstandards und der Benachteiligung von Anbietern mit hohen Standards.

Interessant ist auch die Stellungnahme des Westdeutschen Rundfunks, Köln. Er sieht durch die Liberalisierung die Gefährdung des Medienpluralismus und eine Medienkonzentration bei nur wenigen Großanbietern mit einer erheblichen Beeinträchtigung der Inhalte.

Schließlich befürchtet die Europäische Union ChristlichSozialer Arbeitnehmer – stellvertretend für viele andere Stellungnahmen – eine Ermutigung zu Dumping sozialer, steuerlicher und ökonomischer Standards. Sie sieht den Druck auf Löhne, Arbeitszeiten und sozialen Ausgleich, außerdem die totale Marktunterwerfung sozial sensibler Bereiche wie Gesundheit, Bildung, Kultur und Audiovisuelle Dienste.

Was können wir hier erreichen? Wir können von Sachsen aus nicht die Welt aus den Angeln heben. Aber ich darf daran erinnern, dass wir als Freistaat Sachsen eine herrliche Vertretung, eine richtig schöne Residenz mit motivierten und gut bestallten Beamten haben. Heute und hier ist die Frage zu stellen, ob man nicht erwarten kann, dass unser Verbindungsbüro in Brüssel in dieser entscheidenden politischen Auseinandersetzung im Sinne des genannten Landtagsbeschlusses tätig wird. Auf die Ausführungen der Staatsregierung sind wir gespannt.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Ich erteile der Fraktion der CDU das Wort. Herr Petzold, bitte.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Thema ist in der Tat wichtig. Aber was immer Ihre Motivation für die heutige Debatte gewesen sein mag – den Nutzen für Sachsen kann ich zum heutigen Zeitpunkt nicht erkennen.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Bereits vor einem halben Jahr haben wir im Landtag Eckpunkte beschlossen, in welcher Form wir den Entwurf der Dienstleistungsrichtlinie geändert wissen wollen. Daran darf ich noch einmal erinnern.

Wir wollen, dass deutsche Unternehmen deutlicher als bisher Aufträge in anderen europäischen Ländern erhalten. Wir wollen, dass die Europäische Entsenderichtlinie in ihrem Anwendungsbereich Vorrang vor den Regelungen der EU-Dienstleistungsrichtlinie hat. Wir wollen, dass die rechtlichen Standards für die Dienstleistungen der Kontrolle des Staates unterliegen, in dem die Dienstleistungen angeboten werden. Wir wollen, dass Daseinsvorsorge, staatliche Gesundheitsvorsorge und anderes nicht eingeschränkt oder ausgehöhlt werden. Wir wollen, dass die Dienstleistungsrichtlinie nicht zu Verwerfungen im Bereich der sozialen Sicherungssysteme führt. Schließlich soll die EU-Kommission branchenbezogene Folgeabschätzungen auf die Beschäftigungsentwicklung in den einzelnen Mitgliedsstaaten vorlegen. Letzteres halten wir für ganz entscheidend; denn schließlich ist es unser aller gemeinsames Ziel, zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen.

Im Prinzip gilt, dass die von uns geäußerten Änderungswünsche auch von vielen anderen Bundesländern und anderen EU-Staaten geteilt werden und teilweise bereits in die Diskussion im Europäischen Parlament Eingang gefunden haben. Ein Knackpunkt ist sicher das so genannte Herkunftslandprinzip, nach dem ein Unternehmen ausschließlich dem Recht seines Herkunftslandes unterliegt. Wir können heute sagen, der Richtlinienentwurf wird, soweit er vorgelegt wurde, nicht geltendes Europarecht werden. Es wird zu erheblichen Änderungen kommen. Nur, welche dies sind, darüber kann heute niemand Auskunft geben, und deswegen ist es müßig, über Auswirkungen einer Richtlinie zu spekulieren, die keiner kennt, und noch müßiger ist es, über theoretische Auswirkungen eines Richtlinienentwurfes zu diskutieren, der definitiv so nicht umgesetzt wird.

In erster Linie ist es die Bundesregierung, aber natürlich auch die Sächsische Staatsregierung, die gefordert ist, sich aktiv in die Gestaltungsprozesse der Richtlinie einzubringen und auch den Sächsischen Landtag über aktuelle Entwicklungen zu informieren. Dazu gehört auch, denke ich, wie sich der Freistaat zur Ende April 2006 endenden Übergangsregelung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit positioniert und welche Maßnahmen gegen Verstöße zur Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit getroffen werden. Ich erinnere an die Situation im Schlachthof Chemnitz.

Was wir als Landtag tun können und was auch unsere Pflicht war, haben wir bereits mit Beschluss vom 22. April 2005 umgesetzt. Auch der Deutsche Bundestag hat der Bundesregierung bereits ein umfangreiches Forderungspaket mitgegeben. Es kommt nun darauf an, auf europäischer Ebene möglichst viele unserer Änderungswünsche durchzusetzen.

Vergessen wir bei allem Änderungsbedarf zur EUDienstleistungsrichtlinie nicht, dass unsere sächsischen Dienstleister – Handwerker wie Freiberufler, Händler wie Finanzdienstleister – durch die Gestaltung der nationalen Rahmenbedingungen für den Wettbewerb fit gemacht werden müssen.

Die CDU-Fraktion hält nichts von einer Ausweitung des Arbeitnehmerentsendungsgesetzes und der Einführung von Mindestlöhnen. Beides würde die Marktchancen der betroffenen Unternehmen verschlechtern und die Chancen Arbeitssuchender mit geringer Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt deutlich verschlechtern.

Sehr geehrte Damen und Herren! Die Harmonisierung der Dienstleistungen in Europa bietet enorme Chancen für unsere sächsischen Unternehmen im internationalen Maßstab. Sie darf allerdings nicht zu Sozialdumping und unlauterem Wettbewerb führen.

Der Sächsische Landtag hat mit seinem Beschluss vom April seine Forderungen artikuliert und wird den Gestaltungsprozess mit wachen Augen verfolgen.

(Beifall bei der CDU und der SPD)

Ich erteile das Wort der SPD. Herr Brangs, bitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Dr. Friedrich hat schon auf den aktuellen Bezug hingewiesen. Während wir hier miteinander diskutieren, tagt nach meiner Kenntnis noch immer der EU-Binnenmarktausschuss, und eine Reihe von Änderungsanträgen liegt vor. Ich denke aber, dass es sinnvoll ist, wenn wir schon einen Antrag haben und wenn wir in einer Aktuellen Debatte dazu diskutieren, dass wir noch einmal die Positionen deutlich machen sollten.

1970 waren es in der Bundesrepublik rund 45 % der Erwerbslosen, die im Dienstleistungsbereich gearbeitet haben. Heute sind es rund 71 %; 69 % sind es in Sachsen. Das heißt, dass 70 % der Bruttowertschöpfung im Dienstleistungssektor erwirtschaftet werden. In Sachsen liegt die Zahl bei rund 68 %. Ich glaube, dass diese Zahlen auch eindeutig unterstreichen, welche große Bedeutung wir zukünftig dem Bereich der Dienstleistungen zukommen lassen müssen.

Damit noch mehr Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich geschaffen werden können, brauchen wir nach meiner Auffassung gute Rahmenbedingungen. Dabei kann es nicht nur darum gehen, dass wir Billigjobs anbieten, sondern es muss um Arbeitsplätze gehen, bei denen es

gilt, dass für gutes Geld auch gute Arbeit abgeliefert wird. Insofern brauchen und wollen wir für einen europäischen Markt eine Richtlinie, bei der keine Diskriminierung, aber auch kein Markt ohne Regeln stattfindet. Der demokratische und soziale Rechtsstaat muss nach meiner Auffassung dafür sorgen, dass wirtschaftliche Freiheit an soziale Regeln und vor allem an Standards gebunden ist. Diese sollten für alle gelten, und daran sollten sich auch alle halten.

Das Problem, das wir haben, ist, dass sich ohne diese verbindlichen Regelungen und ohne einen solchen Rahmen die Wirkung des gemeinsamen Binnenmarktes vor allem gegen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer richten wird und vor allem auch gegen unseriöse Unternehmer, die den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft dadurch gefährden.

Ich glaube, dass jedem hier im Hause klar sein muss, dass wir mit Löhnen, wie sie in Kiew gezahlt werden, die Mieten in Dresden nicht bezahlen können. Um dieses Ungleichgewicht zwischen Lohn und Leistung einzudämmen, könnte unter anderem auch – im Gegensatz zu meinem Kollegen in der Koalition – die Möglichkeit eines europäisch differenzierten Mindestlohns eine Rolle spielen, lieber Jürgen.