Protocol of the Session on October 5, 2005

Ich glaube, dass jedem hier im Hause klar sein muss, dass wir mit Löhnen, wie sie in Kiew gezahlt werden, die Mieten in Dresden nicht bezahlen können. Um dieses Ungleichgewicht zwischen Lohn und Leistung einzudämmen, könnte unter anderem auch – im Gegensatz zu meinem Kollegen in der Koalition – die Möglichkeit eines europäisch differenzierten Mindestlohns eine Rolle spielen, lieber Jürgen.

(Beifall bei der SPD und der Linksfraktion.PDS)

Wie bereits im April von dieser Stelle ausgeführt, will ich es noch einmal erwähnen: 19 von 25 Staaten der Europäischen Union haben einen differenzierten Mindestlohn, darunter auch sehr erfolgreiche Staaten wie die Niederlande, England und Frankreich. Die Argumente, die gegen einen solchen Mindestlohn angeführt werden, entsprechen eben nicht der wirtschaftlichen Entwicklung dieser Staaten; denn Mindestlöhne entscheiden auch im wesentlichen Umfang über den Lebensstandard und vor allen Dingen darüber, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Würde leben können.

(Beifall bei der SPD und der Linksfraktion.PDS)

Vor allem – das wird oft vernachlässigt – Mindestlöhne können natürlich den Harmonisierungsprozess eines gemeinsamen Marktes entscheidend sozialverträglich mitgestalten,

(Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: Sehr richtig!)

denn ich glaube, dass eine wettbewerbsfähige Wirtschaft genau darauf angewiesen ist, dass das Lohnniveau einen bestimmten Punkt nicht unterschreitet, weil es Auswirkungen auf die Binnenkaufkraft hat. Die Binnenkaufkraft ist unser Problem. Ich denke, dass diese nicht weiter geschwächt werden darf. Das müsste für jeden hier im Haus klar sein.

Darüber hinaus – das ist auch ein Argument für den Mindestlohn – kann er gerade im Niedriglohnsektor als Anreiz für Beschäftigung gelten. Das wurde in den letzten Monaten immer wieder in der Diskussion vernachlässigt.

Mindestlöhne – ich will es noch einmal mit Blick auf die Zeit sagen – dürfen eben nicht dazu führen, dass Arbeitsplätze abgebaut werden, sondern – das habe ich schon gesagt – genau die Staaten, die ich angeführt habe, nämlich die Niederlande, Frankreich, England und weitere Staaten, die eine Mindestlohnregelung haben, haben ganz im Gegenteil eine wesentlich bessere Arbeitsmarktsituation und eine wesentlich geringere Arbeitslosigkeit als in Deutschland zu verzeichnen.

Deshalb muss klar sein: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind eben keine x-beliebige Ware, um deren Preis frei zu feilschen ist. Arbeitnehmer sind eben keine Kostenstellen, sondern Leistungsträger, und sie sind Konsumenten in einer modernen Wirtschaft. Sie bringen ihre Arbeitskraft ein und erwarten dafür im Gegenzug Respekt und Teilnahme am geschaffenen Wert, also anständige Bezahlung und faire Arbeitsbedingungen.

Die sozialen Bedingungen, die wir in Europa erarbeitet haben und unter denen wir leben, sind wichtiger als das Funktionieren eines Marktes. Deshalb dürfen die Konditionen, unter denen grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen erfolgt, nicht dazu führen, dass eine soziale Unterbietungskonkurrenz quer durch Europa stattfindet.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und der Linksfraktion.PDS)

Ich erteile das Wort der NPD. Herr Leichsenring, bitte.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir wissen zwar noch nicht, wie die endgültige Fassung der EUDienstleistungsrichtlinie genau aussehen wird, aber wir kennen die grundlegenden Ziele der Richtlinie. Für mich ist diese Debatte über die Dienstleistungsrichtlinie ein Paradebeispiel für die Verlogenheit der ganzen EU- und Globalisierungsdiskussion. Denn während die Politiker nach den massiven Protesten, die der so genannte Bolkestein-Entwurf auslöste, sich zu versichern beeilten, dass man alles tun werde, um gegen Sozialdumping vorzugehen, verschleiern Sie nach wie vor die Tatsache, dass dies überhaupt nicht möglich ist, weil der eigentliche Sinn und Zweck dieser Richtlinie gerade Lohn- und Sozialdumping sind. Deswegen ist es auch kein Zufall, dass der EU-Binnenmarktkommissar Charly McCreevy auch nach der Ablehnung der EU-Verfassung durch Franzosen und Holländer immer noch ausdrücklich am Herkunftslandprinzip, also am Sozialdumping, festhält. Man braucht da wahrlich kein Prophet zu sein, um die Auswirkungen der Dienstleistungsrichtlinie auf Sachsen zu erkennen, denn der eigentliche Druck der ausländischen Billiglohnkonkurrenz wird erst noch beginnen.

An dieser Stelle noch einmal ganz klar die Aussage: Wir sind gegen diese Dienstleistungsrichtlinie, wir sind gegen die derzeitigen Entwicklungen in Europa samt dieser unseligen EU-Verfassung.

Hans-Werner Sinn und andere sprechen von einer BasarWirtschaft, deren Niedergang sich bereits abzeichnet.

Wir haben in Deutschland und auch in Sachsen eine wirtschaftliche Entwicklung, die immer weniger in unserer eigenen Gesellschaft stattfindet und sich stattdessen global orientiert. Die Wirtschaft verliert sozusagen die Bodenhaftung in der Gesellschaft, und sie verliert immer mehr den Charakter als Grundlage für die sozioökonomische Gemeinschaft unseres Volkes. Immer größere Bevölkerungsschichten sind vom Wirtschaftsleben ausgeschlossen. Zu den Millionen offiziellen Arbeitslosen kommen noch Millionen Teilalimentierte, gering Beschäftigte, so genannte Menschen in Arbeitsgelegenheiten, Scheinselbstständige und – nicht zu vergessen – Millionen Frührentner.

Man muss sich diesen Irrsinn einmal vor Augen führen! Nur 39 % aller Menschen über Vierzig sind noch sozialversicherungspflichtig erwerbstätig. 39 % aller über Vierzigjährigen sind sozialversicherungspflichtig erwerbstätig. Das ist das Ergebnis etablierter Wirtschaftspolitik.

Ist es dann nicht, meine Damen und Herren, glatter Wahnsinn, ausgerechnet in der beschriebenen Arbeitsmarktsituation die regionalen Dienstleistungsmärkte zu einem Tummelplatz für den Verdrängungswettbewerb aus sozioökonomisch völlig anders strukturierten, fremden Ländern zu machen? Wissen Sie eigentlich, dass allein das deutsche Handwerk in den letzten fünf Jahren mindestens eine Million Arbeitsplätze verloren hat? Es gibt auch die Zahl 1,5. Reichen die ausländischen Baukolonnen in Deutschland nicht? Haben Sie die vielen Warnungen nicht vernommen, zum Beispiel aus dem Elektrohandwerk, dem Gebäudereinigungshandwerk, der Bauwirtschaft usw. usf.?

Ich möchte noch einmal Folgendes klar unterstreichen: Uns geht es nicht um die Modalitäten der EUDienstleistungsrichtlinie, zum Beispiel die genaue Ausgestaltung des Herkunftslandprinzips oder um die Verhinderung von Scheinfirmen in Polen oder der Tschechei. Es geht um das System an sich und die Auswirkungen auf Sachsen und Deutschland. Da wiederhole ich mich gern: Das System hat keinen Fehler, das System ist der Fehler.

(Beifall bei der NPD)

Ich weiß mich übrigens in guter Gesellschaft. Es wurde einmal folgender Satz gesagt: „Als Sozialisten kämpfen wir für eine grundlegende Veränderung der kapitalistischen Wirtschafts- und Sozialordnung.“ Das wurde auf dem Juso-Kongress von einem Ihnen vielleicht auch bekannten Herrn, Gerhard Schröder, gesagt.

Müssen wir nicht eine Globalisierungspolitik, die unsere Gesellschaft immer mehr aufzulösen droht, etwas genauer unter die Lupe nehmen und grundsätzlich infrage stellen, statt immer nur der Entwicklung hinterher zu hecheln, vollendete Tatsachen zu akzeptieren und uns allenfalls mit Schadensbegrenzung zu beschäftigen? Wir Nationaldemokraten lehnen jedenfalls diese EU-Dienstleistungs

richtlinie ab, und zwar kategorisch, nicht wegen irgendwelcher Detailbestimmungen, sondern wegen der katastrophalen Gesamtkonzeption.

Vielen Dank.

(Beifall bei der NPD – Widerspruch des Abg. Heinz Eggert, CDU)

Ich erteile nun das Wort der Fraktion der FDP. Herr Morlok, bitte.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben das Thema nicht zum ersten Mal auf der Tagesordnung, und die Fakten und Argumente haben sich auch nicht geändert. Ich war versucht, meine Rede von damals noch einmal vorzutragen.

(Dr. André Hahn, Linksfraktion.PDS: Ja, bitte!)

Das geht aber nicht, weil die Redezeit damals länger war als heute. Also müsste ich das ein bisschen straffen.

(Heiterkeit bei der FDP)

Das Thema Herkunftslandprinzip haben wir schon diskutiert, und ich hatte damals ausgeführt, dass das Herkunftslandprinzip in der EU fast überall gang und gäbe ist. Worüber reden wir eigentlich? Einzig im Bereich der Dienstleistungen ist es noch nicht eingeführt. Im Bereich des Waren- und Güterverkehrs gilt es wie selbstverständlich. Waren und Güter, die Sie tagtäglich in den Geschäften in Deutschland einkaufen können, sind in Europa entsprechend dem Herkunftslandprinzip produziert und in den Verkehr gebracht worden. Kein Mensch würde auf die Idee kommen: Nur weil das so ist, kaufen wir die Waren nicht! Die sind von Übel, die sind nicht geeignet, die sind gefährlich. – Nein, nichts von dem ist der Fall. Keiner regt sich darüber auf.

Die EU und damit der Wegfall der Grenzen, der freie Warenverkehr, aber auch die Freizügigkeit der Bürgerinnen und Bürger sind eine Erfolgsgeschichte. Es ist ja nicht so, dass alle Europa ganz furchtbar schlimm finden.

(Gelächter bei der NPD)

Es ist eine Erfolgsgeschichte. Die Beitrittswünsche der anderen Staaten zeigen ja, wie erfolgreich die Politik in der Vergangenheit gewesen ist.

(Beifall bei der FDP)

Es war gerade die deutsche Wirtschaft, die von der Freizügigkeit im Waren- und Güterverkehr profitiert hat. Ohne die Exporte der deutschen Wirtschaft hätten wir ganz andere Arbeitslosenraten in Deutschland zu verzeichnen.

(Widerspruch des Abg. Jürgen Gansel, NPD)

Ich kann einfach nicht nachvollziehen, warum es den Arbeitnehmern in Deutschland nicht gelingen soll, im Bereich der Dienstleistungen genauso erfolgreich zu sein wie im Bereich des Waren- und Güterverkehrs. Woher nehmen Sie die Vermutung, dass das, was im Bereich der

Waren und Güter durch pfiffige und innovative Produkte geklappt hat, bei den Dienstleistungen nicht passieren soll? Sind die Deutschen dümmer oder unfähiger geworden? Warum soll es nicht auch eine Erfolgsgeschichte im Bereich der Dienstleistungen geben? Wir als Liberale glauben daran.

(Beifall bei der FDP)

Wir wollen den deutschen Dienstleistern diese Möglichkeit eröffnen.

(Jürgen Gansel, NPD: Das ist ein Wunderglaube!)

Das hat sich schon einmal bewährt. Das müssen Sie sich nur anschauen. Deutschland ist immer noch Exportweltmeister. Das hat irgendwo seine Gründe. Ohne die Freizügigkeit wäre das nicht möglich gewesen.

(Matthias Paul, NPD: Wir reden über Menschen und nicht über Produkte!)

Die Dienstleistungsbranche in den neuen Bundesländern ist unterentwickelt. Das wissen wir. Das liegt aber nicht daran, dass sie von Dienstleistungen aus den EUNachbarländern bedroht wird. Es liegt vielmehr daran, dass Unternehmen des produzierenden Gewerbes in den neuen Bundesländern unterentwickelt sind und die Dienstleistungen nicht in dem Maße nachwachsen können, wie es bei Unternehmen in den alten Bundesländern geschieht. Das ist die Ursache für die Dienstleistungsschwäche in den neuen Bundesländern, nicht die Bedrohung aus Osteuropa. Das muss man deutlich auseinander halten, wenn man sich die Dinge anschaut.

Wir diskutieren diese Woche auch noch über das Thema Investitionsförderung. Dabei müssen wir uns Gedanken machen, wie wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir in Sachsen ein Wachstum generieren, indem wir Unternehmen unterstützen. Dann geht es auch der Dienstleistungsbranche in Sachsen besser. Das ist der sachliche Zusammenhang. Es macht überhaupt keinen Sinn, Angstgemälde von der bösen EU an die Wand zu malen.

Wir Liberalen sagen ganz klar – das haben wir letztens in der Debatte gesagt, das sagen wir auch heute –, dass wir die Dienstleistungsrichtlinie unterstützen. Wir unterstützen auch das Herkunftslandprinzip, damit da kein Zweifel aufkommt. Wir unterstützen es mit Nachdruck, weil wir sicher sind, dass die deutschen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, dass die deutsche Wirtschaft in der Lage sind, die Chancen, die sich mit der Freizügigkeit der Dienstleistungen ergeben, zu ergreifen und langfristig in Deutschland Arbeitsplätze und Wohlstand zu sichern.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)