Protocol of the Session on June 23, 2005

(Beifall bei der SPD, der PDS und den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, die Regeln, die Jahrzehnte die Erfolgsbedingungen für die deutsche Wirtschaft waren, sollen nun zu Experimentierklauseln werden, soziale Sicherheit zu einer Soziallotterie. Nein, im Kern geht es doch um die Frage, ob die Menschen Subjekte im Mittelpunkt von Wirtschaft sind und sein können oder Objekte in der Lostrommel eines großen Wirtschaftsspiels.

(Beifall des Abg. Prof. Dr. Peter Porsch, PDS)

Mit menschenwürdigen Arbeitsbedingungen, guter Infrastruktur, qualifizierten und motivierten Arbeitnehmern, tüchtigen und erfolgreichen Unternehmern, mit guter Bildung, die noch besser werden muss – jawohl –, mit innovativen Forschungseinrichtungen und mit hoher Lebensqualität hat sich unser Land, hat sich die Bundesrepublik einen hervorragenden Platz im Vergleich zu den anderen Ländern erarbeitet. Das hat nicht zuletzt mit dem guten Zusammenhalt in Gesellschaft und Wirtschaft zu tun. Das hat auch mit sozialen Rechten, die sozialen Frieden sichern helfen, eben mit sozialer Marktwirtschaft zu tun. Die Idee der sozialen Marktwirtschaft ist ein Gemeinschaftsprodukt von Konservativen, katholischer Soziallehre und der Sozialdemokratie. Ihre Wurzeln liegen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damals ist die Einsicht gewachsen, dass wirtschaftliche Kraft nicht durch plumpe Ausbeutung, sondern nur im sozialen Zusammenhalt wachsen kann und wachsen muss.

Soziale Marktwirtschaft heißt Wohlstand für alle – nicht als Träumerei und nicht als Heilsversprechen, aber als Ziel, für das es sich zu streiten lohnt. Alle sollten ein gerechtes, möglichst großes Stück vom Kuchen der gemeinsam erwirtschafteten Werte abbekommen. Dafür muss der wirtschaftliche Erfolg möglichst groß sein.

Soziale Marktwirtschaft heißt Arbeit. Denn nur Arbeit sichert Lebensunterhalt, Arbeit ist Selbstbestätigung und manchmal auch Selbstverwirklichung. Sie muss zu fairen Bedingungen und zu fairen Löhnen getan werden können.

„Vorfahrt für Arbeit“ oder „Sozial ist, was Arbeit schafft“? – Dazu sage ich: Gut gemeint, aber es trifft nicht den Kern. Es kann in Wirklichkeit doch nur um

Vorfahrt für menschenwürdige Arbeit gehen und es geht in unserer Gesellschaft – davon bin ich zutiefst überzeugt – vor allem um Würde. Würde ist ein hoher Wert, vielleicht der höchste Wert.

Vorfahrt für Arbeit? – Ja, Arbeit, die gerecht bezahlt wird und bei der lange erstrittene und bewährte Arbeitnehmerrechte nicht ausgehebelt werden. Vorfahrt für Arbeit, das darf keine soziale Beruhigungsformel für die Rechtfertigung von Niedrigstlöhnen und die Zerschlagung von Arbeitnehmerrechten sein.

(Beifall bei der SPD, der PDS und den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren! Die neoliberalen Ideologen fordern den „schlanken“ Staat und wären doch nicht böse, wenn er verhungerte. Ja, sie legen es bewusst darauf an und leider haben sie in dieser Hinsicht in den letzten Jahren schon einiges erreicht.

Unsere Diskussion hat viel mit etwas offensichtlich völlig Antiquiertem zu tun: mit Moral und Unternehmensethik. Ich bin mir sicher, dass das auch viele meiner Unternehmenskollegen so sehen wie ich und dass sehr viele auch so handeln. Wenn die Verantwortlichen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zu den Prinzipien sozialer Marktwirtschaft nicht nur in Sonntagsreden, nicht nur in Wahlkampfzeiten stehen, sind die Chancen für unser Land gut, gut für unsere Menschen, gut für unsere Unternehmen und – da bin ich sehr konservativ – gut für unsere menschliche Würde, meine Damen und Herren.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD, der CDU, der PDS, den GRÜNEN und der Staatsregierung)

Ich erteile der Fraktion der NPD das Wort. Herr Delle, bitte.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser Aktuellen Stunde haben wir es mal wieder mit einem typischen Schaufensterantrag zu tun, über den wir jetzt reden können, was wir wollen, weil wir sowieso kaum noch Handlungskompetenz haben, weil Sie, meine Damen und Herren der anderen Fraktionen – einschließlich natürlich der FDP, diese hauptsächlich –, doch sämtliche Kompetenzen, die wir bis vor einigen Jahren oder Jahrzehnten noch hatten, mittlerweile schon an die EU abgetreten haben, nach Brüssel verkauft haben, so dass wir hier reden können, wie wir wollen. Und – wie gestern bereits erwähnt – wie oft kam es schon vor, dass wir in diesem Hause über verschiedene Anträge und Gesetze und was weiß ich gesprochen haben und letztendlich immer wieder zu dem Schluss kamen: Wir sind eigentlich nicht handlungsfähig, weil die EU, sprich: Brüssel, uns hier alles verhindert. Trotzdem möchte ich noch ein paar Sätze zu der Aktuellen Stunde sagen. Das Bekenntnis zu Innovation und Unternehmensgründung ist auf allen Lippen. Doch wie sieht die gegenwärtige Wahrheit denn eigentlich aus? – Wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass Technologien wie die Raumfahrt, der moderne Computer, das Faxgerät usw. einst in Deutschland erfunden und entwickelt wurden, unser Land heute aber auf all diesen Gebieten kaum noch eine

und wenn überhaupt, nur eine drittklassige – Rolle spielt, können wir vielleicht einen zweiten Faktor erahnen, der neben der Bevölkerungsdynamik eine außerordentlich wichtige Rolle insbesondere in der wissenschaftlich-technologischen und wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes spielt: das gemeinsame Traditions- und Leistungsbewusstsein.

Was wird aber in diesem Land getan, um trotz alledem natürlich noch vorhandene junge Menschen mit außergewöhnlichen unternehmerischen und/oder technisch-wissenschaftlichen Begabungen zu finden und zu fördern? Was wird getan, um besonders innovativen, Erfolg versprechenden jungen Unternehmen eine eigenständige Existenz zu sichern und vor allem – und hier ist es wichtig im Hinblick auf Arbeitsplätze –, um sie im Land und auch in deutschem Besitz zu halten?

Hier ist die Antwort negativ. Der typische Weg eines deutschen Technologieunternehmens, etwa in der Elektronik-, Computer- oder Softwarebranche, ist doch der, dass anfangs ein paar Jahre Eigenständigkeit bestehen und dann früher oder später an einen – meist amerikanischen – Konzern verkauft werden muss. Die Amerikaner schöpfen damit die Hochtechnologie aus Deutschland ab und nutzen sie für ihre Zwecke, was man ihnen natürlich nicht vorwerfen kann.

Das deutsche Problem ist hier, dass praktisch überhaupt keine Wirtschaftspolitik im Sinne der Erhaltung solcher Unternehmen als deutsche Unternehmen gemacht wird. Wer sich in konkreten Fällen in den Wirtschaftsministerien, angefangen beim Bundeswirtschaftsministerium, erkundigt, wird schnell feststellen, dass eine Wirtschaftspolitik im Sinne des Erhalts deutscher Technologiefirmen in deutscher Hand als beinahe unanständig gilt. Eine solche Politik wird von den meisten Ansprechpartnern wegen Unvereinbarkeit mit Globalisierung und Wirtschaftsliberalismus auch abgelehnt. Auch Sie hier im Hause werfen uns, der NPD, bei jeder Gelegenheit vor, dass dies nicht gehen würde, und verhindern somit einen wirksamen Schutz Deutschlands und natürlich auch Sachsens vor der Billigkonkurrenz aus dem Ausland.

Ganz anders sieht es in Ländern wie den USA, Frankreich, Großbritannien und auch Italien aus. Diese handeln genau im Gegensatz zu uns. Deswegen ist Deutschland in vielen Bereichen weit abgeschlagen von diesen Ländern.

(Zuruf des Abg. Karl Nolle, SPD)

Wir Nationaldemokraten schlagen deshalb eine aktive aufsuchende, fördernde und fordernde Wirtschaftspolitik vor. Diese könnte am besten von öffentlich-rechtlichen gemeinnützigen Körperschaften wahrgenommen werden, die etwa auf Kreisebene ähnlich strukturiert sind wie die öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute und die dann zum Beispiel Talentwettbewerbe veranstalten, Ideen fachgerecht prüfen und prüfen lassen, betriebswirtschaftlich Beratung leisten, Labor- und Werkstattkapazitäten vermitteln, Finanzierungen planen usw.

Für diese Körperschaften könnten der Kreis oder eventuell auch das Land, je nach Organisationsebene, eine Gewährträgerhaftung leisten, wobei sich im Idealfall die Einrichtung durch den Rückfluss von kostendeckenden

Beiträgen aus den erfolgreichen Objekten finanzieren würde. Hier handelt es sich allerdings um Zukunftsmusik. Die derzeitigen Kompetenzzentren etc. erfüllen meines Wissens diese Forderungen nicht.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der NPD)

Ich erteile der Fraktion der GRÜNEN das Wort. Frau Hermenau.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Es ist schon interessant, Herr Morlok, wie Sie es geschafft haben, in Ihrer Redezeit hinlänglich unkonkret zu bleiben. Ich musste deswegen zu derselben Hilfe greifen wie Herr Zais und in Ihrem Wahlprogramm stöbern. Das habe ich auch getan. Sprechen wir es doch einmal konkret an, damit wir auch wissen, wovon Sie reden, wenn Sie eine Aktuelle Debatte beantragen! Sie sprechen davon, dass Sie eine „Sonderwirtschaftszone Ost“ einführen wollen. Sie haben auch auf Helmut Schmidt verwiesen und gesagt: „vor Jahren schon“. – Das ist der erste Punkt. Der Zeitpunkt für eine „Sonderwirtschaftszone Ost“ ist verpasst. Das hätte man in den neunziger Jahren machen müssen. Da hätte übrigens Herr Milbradt, der heute nicht anwesend ist, als Finanzminister des Freistaates Sachsen durchaus ein Wörtchen mitreden können, wenn es ihm wichtig gewesen wäre. Da hätte auch die FDP auf Bundesebene, die damals mitregiert hat, ein Wörtchen mitreden können. Das ist verpasst worden. Das kann man jetzt beklagen, aber ändern kann man es nicht mehr. Das ist meine Meinung.

(Zuruf des Abg. Volker Bandmann, CDU)

Das Nächste ist: Was Sie vor allen Dingen im Bereich der Mehrwertsteuer bzw. der Umsatzsteuer vorschlagen, verstößt gegen EU-Recht, zum Beispiel gegen das Beihilfeverbot. Es ist, denke ich, wegen der Missbrauchsanfälligkeit mit einem sehr hohen Kontrollaufwand verbunden. Das heißt, Sie würden bei Verwirklichung der Vorschläge, die Sie zum Thema Mehrwertsteuer machen – Absenkung bzw. Halbierung des Mehrwertsteuersatzes –, mehr Bürokratie schaffen.

Es hat in Frankreich so etwas gegeben. – Sie nennen das „Experimentierklausel“. Ich komme nachher noch einmal darauf. – In Frankreich gab es den halbierten Mehrwertsteuersatz für Bauunternehmungen. Es wurde als Experiment durchgezogen; die Europäische Union hat das für zwei Jahre durchgehen lassen. Es hat sich herausgestellt: Die Schwarzarbeit hat nicht abgenommen und die Preise wurden für die Kunden auch nicht niedriger. Das heißt, es hat für die Bereiche, für die es gedacht war, nichts gebracht. Ich habe mit den Kollegen in der Assemblée nationale öfter darüber gesprochen und es hat sich als ein Flop erwiesen. Aber Sie schlagen es weiterhin vor.

Und denken Sie natürlich auch einmal daran, Sie haben selbst gefordert, bundespolitisch die Kopfpauschale im Gesundheitswesen in der Krankenversicherung einzuführen.

(Torsten Herbst, FDP: Nein!)

Sie werden sich einigen müssen, Herr Herbst. Die Kopfpauschale wird finanziert werden müssen. Ich habe heute Morgen bereits dem Ticker entnehmen können, dass führende Politiker der FDP der Meinung sind, dass man dafür die Mehrwertsteuer erhöhen muss. Das heißt, halbierte Mehrwertsteuersätze und höhere Mehrwertsteuer passen natürlich nicht zusammen.

(Torsten Herbst, FDP, steht am Mikrofon.)

Es kommt ein weiterer Punkt dazu.

Gestatten Sie – –

Den möchte ich noch zu Ende bringen. – Wenn Sie zum Beispiel versuchen, die Steuern in Ostdeutschland, in Sachsen besonders zu senken, zum Beispiel im Bereich der Mehrwertsteuer, auf der anderen Seite aber Sachsen ein Land ist, das über den Länderfinanzausgleich außerordentlich viel Geld aus dem Westen bezieht, der diese Vergünstigung nicht haben darf, und die Steuerlöcher, die durch einen abgesenkten Steuersatz im Osten entstehen, damit füllen, dass die westdeutschen Länder das Geld herüberreichen, dann ist das ein Mitnahmeeffekt erster Güte und gefährdet den Länderfinanzausgleich. Das ist politisch wirklich tödlich.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Gerne.

Bitte, Herr Herbst.

Frau Hermenau, Sie haben gerade erwähnt, dass im FDP-Wahlprogramm bei den Gesundheitsthemen eine Kopfpauschale gefordert wird. Können Sie mir konkret sagen, an welcher Stelle des FDP-Wahlprogramms die im CDU-Wahlprogramm befindliche Kopfpauschale gefordert wird?

(Lacht) Sie können zufrieden sein, ich habe Ihr Bundestagswahlprogramm nicht bis auf das letzte Komma gelesen. Aber Sie werden eine Koalition eingehen. Das ist Ihre Wahlkampfaussage. Sie wollen mit der CDU koalieren.

(Lachen des Abg. Karl-Friedrich Zais, PDS)

Ich weiß, wie das ausgeht. Sie brauchen das in Ihr Programm nicht hineinzuschreiben, Herr Herbst.

(Widerspruch des Abg. Torsten Herbst, FDP)

Die CDU hat es drin stehen. Das reicht mir als Aussage. Hören Sie auf! Das ist jetzt ein bisschen schwach gewesen. Sie schlagen eine Experimentierklausel vor. Sie wollen gern alle Gesetze zeitlich befristen. Das ist nichts Neues. Das gibt es seit den sechziger und siebziger Jahren.

(Sven Morlok, FDP, steht am Mikrofon.)