Meine Damen und Herren! Damit ist keiner der entsprechenden Paragrafen des Gesetzentwurfes von der Mehrheit bestätigt worden. Insofern ist die 2. Beratung abgeschlossen und die 3. Beratung entfällt. Der Tagesordnungspunkt 2 ist beendet.
2. Lesung des Entwurfs Gesetz zur Ausformung und Stärkung des Sozialstaatsprinzips in der Sächsischen Verfassung
Den Fraktionen wird das Wort zur allgemeinen Aussprache erteilt. Es beginnt die Linksfraktion. Danach gibt es die gewohnte Reihenfolge. Herr Abg. Bartl erhält das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf, der dem Hohen Haus heute zur 2. Lesung vorliegt, hat – was jedem klar ist, der sich der Mühe unterzog, ihn zumindest zu lesen – eine ziemlich grundsätzliche Bedeutung. Er zielt nämlich darauf ab, in der Zeit einer tiefgreifenden Krise, die globaler Natur ist und deren Auswirkungen auf das Leben der Menschen in diesem Land, in dieser Bundesrepublik Deutschland mit Gewissheit erst jenseits der Bundestagswahl vom 27. September 2009 so richtig zu spüren sein werden, Vorkehrungen zu treffen; Vorkehrungen dahin gehend, dass als Ausweg aus eben selbiger grassierender Finanz- und Wirtschaftskrise nicht
Machen wir uns nichts vor: Die Art und Weise, wie in den letzten Monaten mit Milliarden zum Schutze von Banken und Großunternehmen um sich geworfen wurde, die Tatsache, dass das Bundeskabinett heute für 2010 eine Nettokreditaufnahme in Höhe von 86,1 Milliarden Euro beschließen soll oder zur Stunde bereits beschlossen hat, für den Freistaat Sachsen für 2009 und 2010 Mindersteuereinnahmen in Höhe von 1,6 Milliarden Euro vorhergesagt sind, der weiter prognostizierte Anstieg der Arbeitslosigkeit im bundesweiten Maßstab auf circa 5 Millionen angegeben wird, die sich von Tag zu Tag häufenden Hiobsbotschaften über immer neue Insolvenzen kleiner, aber auch mittlerer und regional letztlich strukturentscheidender Unternehmen hinzukommen – all das wird gravierende Konsequenzen haben, und zwar umso mehr,
als parallel in einer an Ignoranz und Demagogie kaum noch zu überbietenden Weise per Gesetzesakt die sogenannte Schuldenbremse etabliert wurde, die nach unserer Überzeugung grundgesetz- bzw. verfassungswidrig ist, weil das damit vom Bund verordnete totale Verschuldungsverbot ab 2020 den Ländern nun auch das letzte Instrument nimmt, mit dem sie ihre Einnahmensituation dem ebenfalls durch den Bund in Gestalt von Kosten für die Ausführung der Gesetze und die Einhaltung von bundesweiten Vollzugsstandards verursachten Anpassungszwang angleichen konnten.
In der Konsequenz wird den Ländern – hier dem Freistaat Sachsen – nichts anderes übrig bleiben, als bei den eigenen Ausgaben zu kürzen. Das wird dann aber nicht die sensiblen Bereiche wie Justiz und innere Sicherheit treffen, sondern zuerst die Bereiche Bildung, Kultur, Mitfinanzierung von Kommunen und vor allem und mit großer Gefahrengeneigtheit Sozialleistungen.
Mit unserem Gesetzentwurf, der bei seiner Einbringung in 1. Lesung am 13. Mai 2009 trotz später Abendstunde schon leidenschaftliche gegnerische Zwischenrufe aus der Koalition erzeugt hat, Kollege Brangs, Kollege Piwarz
es ging um Zwischenrufe in der 1. Lesung, völlig ungefährlich –, wollen wir tatsächlich – das gestehe ich hier unumwunden ein – exakt den Ausweg aus der Krise verriegeln, der darauf abzielt, endgültig lästige Sozialstandards loszuwerden. Das ist das Anliegen des Gesetzes.
Während Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, um Ihren üblichen Populismus aufzugreifen, vom Schutzschirm für Banken schwafeln, der gespannt werden muss, reden wir jetzt davon, einen qua verfassungsqualifiziertem Gesetz geschaffenen Schutzschirm für Menschen zu installieren.
Gemeint ist dabei die übergroße Mehrheit der Menschen in diesem Land, die mit ihrer Hände Arbeit als Arbeitnehmer, als Unternehmer, als Selbstständige, als Angehörige freier Berufe täglich darum kämpfen, die Existenz ihrer Familie zu sichern, und natürlich vor allem auch jene, die längst aus regulären Beschäftigungsverhältnissen, aus der Chance zur Selbstverwirklichung durch Arbeit ausgeschlossen sind oder aus sonstigen individuellen Lebensumständen heraus nicht in der Lage sind, durch eigene Arbeit hinreichende Einkommen zu schaffen.
Bevor Sie jetzt wieder lauthals schimpfen: Wir wissen, dass die Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen 60 Jahren ihrer Existenz – wenn auch in den letzten 15 Jahren mit ständig rückläufiger Tendenz – soziale Netze gewährleistet hat, wie sie nicht allzu viele Staaten in dieser Welt haben. Die vernünftige Erwägung aller bisherigen Regierungen, ein Minimum an sozialer Gleichheit aufrechtzuerhalten, das den sozialen Frieden im Gemeinwesen sichert, gerade so, wie dies das Grund
gesetz mit der Aufnahme des Sozialstaatsgebots als ehernes, sich jeder Verfassungsänderung entziehendes Prinzip vorgesehen hat, hat dazu geführt, dass es in der Vergangenheit wenig Grund und Anlass gab, selbiges Sozialstaatsgebot in Verfassungs- oder einfachgesetzlichen Normen weiter auszuformen.
Dieses im Grunde von staatsmännischer Weisheit getragene und nicht unmaßgeblich den Kapitalismus in der Systemauseinandersetzung begünstigende Herangehen hat im Übrigen auch bewirkt, dass die Anlässe für das Bundesverfassungsgericht oder für Verfassungsgerichte der alten Länder, sich mit Streitigkeiten zum Sozialstaatsgebot zu befassen, im Verhältnis zu den Auseinandersetzungen um die Wahrung der individuellen Grund- und Freiheitsrechte eher selten waren. Erst seit der Agenda 2010, seit der Einführung dieser unsäglichen Hartz-IVRegelungen und aller sonstigen der Agenda 2010 geschuldeten Reformgesetze ist berechtigter Zweifel an der Bereitschaft der Regierenden, das Sozialstaatsprinzip aufrechtzuerhalten, nicht nur verbal, sondern tatsächlich gesät.
Seither – deshalb häufen sich bei Sozialgerichten die Verfahrensberge einschließlich der Klagen – sehen sich Sozialgerichte in immer mehr Fällen zu Vorlagebeschlüssen zum Verfassungsgericht veranlasst, um die Frage zu stellen, ob das, was in Vollziehung von Hartz IV und ähnlichen Gesetzen geschieht, noch mit dem Sozialstaatsgebot der Verfassung zusammengeht.
Alles war schon schlimm genug, aber was als Ausweg aus der Krise bevorstehen kann, könnte dies um Längen in den Schatten stellen. Exakt deshalb und exakt darum zu dieser Zeit wollen wir mit unserem Gesetzentwurf für Sachsen das Sozialstaatspostulat, das in Artikel 1 allgemein fixiert ist, ausformen. In Artikel 1 heißt es: „Der Freistaat Sachsen ist ein Land der Bundesrepublik Deutschland. Er ist ein demokratischer, dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Kultur verpflichteter sozialer Rechtsstaat.“ Diesen Grundsatz wollen wir mit unserem Gesetz ausformen, damit es gar nicht erst Missverständnisse gibt, was in puncto Gewährleistung sozialer Standards unantastbar ist und was nicht.
Dass dazu im Großen wie im Kleinen Anlass ist, hat nicht zuletzt die erst in der vergangenen Woche getroffene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes unterstrichen. Es ging hierbei um den Anspruch von Sozialhilfeempfängern auf Beratungshilfe bei einzuholendem Rechtsrat im Kontext mit dem Auftreten von Rechtskonflikten aus ihrer Lebenslage heraus. Da haben es eben kurzerhand Amtsrichter und Richter am Landgericht in Zwickau und auch am Oberlandesgericht für rechtens befunden, dass es Hartz-IV-Empfängern zuzumuten und für sie gerade angemessen ist, sich wegen der Ersparnis von Kosten im Justizhaushalt, wenn sie in Unsicherheit mit Bescheiden der ARGE oder sonstiger über ihre Lebensbedingungen entscheidender Behörden geraten, just an diese Behörden zu wenden und sie zu fragen, ob sie übers Ohr gehauen worden sind oder nicht. Sie sollen
Das ist das, was durch die Instanzen hindurch gehalten worden ist. Erst das Bundesverfassungsgericht hat dann mehr oder weniger klargemacht, dass allen, die Macht in diesem Lande ausüben und die entsprechend auf die Verfassung vereidigt sind, auch die Verpflichtung zukommt, dafür zu sorgen, dass der Grundsatz gilt, dass jeder vor dem Gesetz gleich ist, dass es also einen Gleichheitsgrundsatz und ein Sozialstaatsgebot gibt und dass das eben bedeutet, dass es auch den Armen in dieser Gesellschaft möglich sein muss, Rechtsrat einzuholen.
Wörtlich heißt es in dem Urteil, dass in diesem Fall ein Anspruch besteht, der sich aus der Rechtswahrnehmungsgleichheit ergibt. Wir sind über diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes sehr froh.
Wir sagen aber auch, dass es zu dieser Entscheidung nie Anlass gegeben hätte, dass also ein Amtsgericht, ein Landgericht in Sachsen gegen Hartz-IV-Empfänger nie so hätte entscheiden können, wenn in der Verfassung, so wie wir es wollen, definitiv gestanden hätte – das ist die Regelung, die wir in Artikel 38 als zweiten Absatz haben wollen –: „Durch einen sozialgerechten Zugang zu den Gerichten und zu anwaltlicher Beratung wird jedermann ein effektiver Rechtsschutz gewährleistet. Mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit des Einzelnen darf dieses Recht nicht beeinträchtigen.“
Wenn dieser Satz, wie wir ihn beantragen, in der Verfassung steht, kann ein Richter nicht mehr so sozial ungerecht und so rücksichtslos entscheiden. Deshalb ist am Beispiel der letzten Tage schon bewiesen, dass diese Regelung notwendig ist.
Mit genau der gleichen Berechtigung fordern wir mit unserem Gesetzentwurf die Ausformung weiterer nur allgemein in der Sächsischen Verfassung enthaltener Ansätze zur Wahrung des Sozialstaatsprinzips und des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes. Wenn Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, dazu stehen, dass Sachsen auch künftig den Sozialstaatsgrundsatz unangetastet lässt und sich seine Bürgerinnen und Bürger nach den relativ schmalen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts im Zuge der Rechtsprechung dessen auch sicher sein können, dann stimmen Sie unserem Anliegen zu, dem Grundgesetzartikel 1 einen zweiten Absatz hinzuzufügen, der Folgendes festschreibt: „Als Sozialstaat ist er“ – gemeint ist der Freistaat Sachsen – „zur Herstellung und Erhaltung einer gerechten Sozialordnung, insbesondere zum Ausgleich der sozialen Gegensätze und zur Gewährleistung sozialer Sicherheit, verpflichtet.“
Wenn das in der Verfassung steht – das ist ja der Rechtsgrundsatz, den das Bundesverfassungsgericht zur Auslegung des Sozialstaatsprinzips geprägt hat, es ist also eins
zu eins das, was in Karlsruhe dazu entschieden worden ist –, ist für jeden, der in Sachsen lebt, klar, dass der Freistaat Sachsen eine verfassungsrechtliche Verpflichtung hat, und zwar in den Staatsgrundsätzen, für diesen sozialen Ausgleich zu sorgen und nicht zuallererst, wenn eingespart werden muss, bei den Armen in diesem Lande zu beginnen. Das wäre eine klare Ansage. Das schafft Missverständnisse, Missbehagen und Misstrauen bei der übergroßen Mehrheit in diesem Lande, dass die Zukunft in sozialer Hinsicht mit großen Risiken verbunden ist, aus der Welt. Das gibt den Sachsen zumindest das Mittel an die Hand, ganz gleich, wer regiert, soziale Gerechtigkeit einzufordern und entsprechend einzuklagen.
Nicht weniger vertrauensbildend wäre es nach unserer Überzeugung, wenn gerade in diesen Krisenzeiten das Parlament dieses Landes die in der Verfassung enthaltenen Staatszielbestimmungen durch eine entsprechende Neufassung des Artikels 7 Abs. 2 dadurch substantiiert, dass aus quasi aktuellem Anlass versprochen wird – Zitat –: „Das Land fördert die tatsächliche Durchsetzung sozialer Chancengleichheit und sozialer Gleichberechtigung und wirkt auf die Beseitigung bestehender sozialer Nachteile hin. Ihm obliegt es, allgemeine Lebensrisiken durch Vor- und Fürsorge für Einzelne und Gruppen der Gesellschaft abzusichern.“
Das ist dann eine klare Verpflichtung, die den Maßstab der Bundesverfassungsgerichtsrechtsprechung in die Verfassung aufnimmt und damit für alle Gesetzesanwender, für alle Richterinnen und Richter und für alle sonstigen Behörden in diesem Land eine klare Vorgabe formuliert.
Was – so darf ich Sie weiter fragen, meine Damen und Herren – gebricht es Ihnen, wenn Sie unserem Anliegen auch dahin gehend folgen, dem jetzigen Artikel 18 Abs. 3 der Verfassung, der eben das besagte Gleichheitsprinzip postuliert, einen Satz hinzuzufügen, der da heißt: „Niemand darf wegen seiner Behinderung oder seiner sozialen Stellung benachteiligt werden“?
Diese beiden Kriterien sind bisher nicht im Gleichstellungsgebot enthalten. Sowohl die Untersagung jedweder Benachteiligung wegen einer bestehenden Behinderung als auch eine Ungleichbehandlung wegen sozialer Stellung gehören in die Verfassung. Das ist einfach zeitgemäß und in diesen Krisenzeiten umso mehr geboten.
Ausreden dergestalt, dass Artikel 18 schon verspreche, dass niemand wegen seiner „Herkunft“ benachteiligt oder bevorzugt werden darf, was Nachteile in sozialer Stellung impliziere, können nicht gelten. Inzwischen ist durch die Rechtsprechung längst klargestellt, dass Herkunft eben mitnichten Benachteiligungsverbote wegen sozialer Stellung beinhaltet.
Wir können Ihnen auch die Sorge nehmen, dass gleich morgen der Sozialismus ausbricht, wenn wir Sie bitten, unserem Anliegen zu folgen, dem Artikel 31 der Verfassung einen dritten Absatz hinzuzufügen, der festlegt –
Zitat –, „dass Eigentum des Freistaates Sachsen nur mit Zustimmung des Landtags durch Gesetz, kommunales Eigentum nur durch Beschluss der kommunalen Vertretungskörperschaften privatisiert werden darf, wenn das Wohl der Allgemeinheit dem im Einzelfall nicht gegenübersteht“.
Wir wollen also eine klare verfassungsrechtliche Grundlage, die definitiv und schwer abänderbar ausregelt, dass das Sozialstaatsprinzip eine Schranke für Privatisierungen bildet, weil eben aus der Verpflichtung des Staates zum Ausgleich sozialer Gegensätze zugleich die Verpflichtung erwächst, über die für diesen Ausgleich erforderlichen Mittel zu verfügen, was logischerweise ein Gebot der Stunde ist.
Insbesondere im Bereich der Daseinsvorsorge, aber auch im Bereich der Gefahrenabwehr verliert der Staat zunehmend Handlungs- und Gestaltungsspielräume, die für die Herstellung einer gerechten Sozialordnung erforderlich sind. Deshalb gebietet es die Verantwortung aus dem Sozialstaatsprinzip, dass sich der Staat gewissermaßen nicht aus der Verantwortung für die Daseinsvorsorge stehlen kann und das nur auf Dritte überträgt, die er letztlich nicht mehr hinreichend kontrollieren kann.
Was schließlich der vorgeschlagenen Neufassung des Artikels 32 Abs. 2 angeht, so ist sie im Verhältnis zum jetzigen Verfassungstext keineswegs fundamental und gibt überhaupt keinen Anlass zu irgendwelchen Befürchtungen, dass wir enteignen wollen oder Ähnliches mehr. Wir wollen lediglich den jetzigen Wortlaut des Artikels 32 ein wenig modernisieren, indem wir den jetzt enthaltenen Worten – Zitat –, dass „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel“ auch vergesellschaftet werden dürfen, wenn das gesellschaftliche Interessen übergreifender Art erfordern, noch hinzufügen, dass auch „Einrichtungen und Unternehmen, die für die Allgemeinheit wichtige Dienste erbringen oder die Nutzung von Energiequellen oder Wasser betreffen“ von der Möglichkeit der Vergesellschaftung umfasst werden.
Damit wären solche wichtigen Daseinsvorsorgebereiche in Artikel 28 impliziert und im Bedarfsfall eben auch zu vergesellschaften wie Energie, Wasser, Wohnung, Verkehrsinfrastruktur, Kommunikationsversorgung, Gesundheitsvorsorge sowie Kernbereiche im Bildungssektor.
Summa summarum, wenn es Ihnen mit uns gemeinsam darum geht, die Krise als Chance zu begreifen, stimmen Sie unserem Gesetz zu und vermitteln Sie damit allen und somit auch Ihren Wählerinnen und Wählern den Eindruck, dass jedenfalls in Sachsen das Parlament auf dem Weg ist, einen sozialgerechten Schutzschirm für Menschen zu spannen, der neue Arbeitsplätze schafft, Entlassungen verhindert, die Demokratisierung der Wirtschaft voranbringt und Sachsen damit lebenswert macht.