Protocol of the Session on January 21, 2009

Ich erteile der Fraktion der FDP das Wort. Frau Schütz, bitte.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn eine etwas provokante Frage aufwerfen: Kam unsere Diskussion zum demografischen Wandel hier in Sachsen vielleicht zu spät?

(Jürgen Gansel, NPD: Das ist eine rhetorische Frage!)

Haben wir im Sächsischen Landtag vielleicht zu spät auf die wohl bisher größte Herausforderung für unseren Freistaat reagiert? Eines steht jedenfalls fest: Der dramatische Geburtenknick ist nicht mehr rückgängig zu machen.

(Zuruf des Abg. Holger Apfel, NPD)

Den demografischen Graben, der Anfang bis über die Mitte der 1990-er Jahre durch mehr als eine Halbierung der Geburten entstand, können wir nicht mehr zuschütten. Die jungen Männer, vor allem die jungen Frauen, die den Freistaat gut ausgebildet seit der Wende verlassen haben, kommen nur selten zurück. Meine Damen und Herren, die Kinder dieser abgewanderten jungen Frauen wurden nicht mehr in Sachsen geboren, sondern sind jetzt kleine Pfälzer, Münchener oder Schwaben.

Ein weiterer Aspekt, der schon mehrfach genannt wurde, ist nicht wegzudiskutieren: All die Kinder, die in den 1990-er Jahren nicht zur Welt kamen, fehlen 20 bis 30 Jahre später als potenzielle Väter und Mütter. Ein erneuter Geburtenknick in etwa acht Jahren ist daher schon abzusehen. Dieses Wissen ist umso wichtiger, da wir seit dem Jahr 2000 in Sachsen stabile und hier in Dresden sogar steigende Geburtenzahlen haben. Wir werden uns also weiterhin mit dem Auf und Ab der Kinderzahlen in allen Bereichen auseinandersetzen müssen.

Meine Damen und Herren! Was wurde in den vergangenen Jahren mit diesem Faktenwissen gemacht? Es sind einige sehr kurzfristig gedachte Entscheidungen in der Politik getroffen worden, deren Folgen kaum mehr oder nur mit größten finanziellen Anstrengungen rückgängig zu machen sind. Ich denke dabei an die rigorose Schulschließungspolitik der CDU, später dann von CDU und SPD, im ländlichen Raum. Es wurden teilweise mehr als 50 % der Mittelschulen im ländlichen Raum geschlossen. Das ist eine Maßnahme, die den ländlichen Raum strukturell für lange Zeit geschädigt hat. Die Folgen dieser verfehlten Politik sind Schüler mit langen Busfahrzeiten und Kommunen ohne zentralen Bildungsstandort. Ich denke an den Ärztemangel, der durch die Versäumnisse der Politik entstanden ist. Auch er kann nur unter großen Kraftanstrengungen gemildert werden.

In den vergangenen Jahren sind in der Tat Fakten geschaffen worden, die unter der Überschrift „Demografischer Wandel“ zusammengefasst sind. Das sind Fakten, an denen kein Politiker und kein Bürger mehr vorbeikommt. Sie sind bemerkbar, fassbar und sichtbar. Sachsens Bevölkerung schrumpft. Sächsische Bürgerinnen und Bürger werden immer älter. Der ländliche Raum wird immer leerer. Vorhandene Versorgungsstrukturen, zum Beispiel

bei Wasser und Abwasser, sind in der vorhandenen Größenordnung nicht mehr notwendig.

All das klingt für viele Menschen bedrohlich. Mancherorts wird auch von der demografischen Katastrophe gesprochen. Doch – und das sage ich als Frau, die mit 20 Jahren in Sachsen geblieben ist und mit 30 Jahren hier eine Familie gegründet hat – wir dürfen den Kopf nicht in den Sand stecken. Wir müssen das Beste aus dieser Situation machen. Wir wollen den Menschen in unserem Land eine Perspektive geben,

(Beifall bei der FDP und der Abg. Cornelia Falken, Linksfraktion)

insbesondere den jungen Frauen und Männern, die eine Familie gründen wollen. Wir müssen das stärken, was Sachsen groß gemacht hat. Das sind einerseits boomende Zentren und andererseits ein lebenswerter ländlicher Raum.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Aufgabe zu stemmen ist sicherlich nicht einfach, aber es ist unsere Aufgabe. Es ist unsere Aufgabe für unsere Zukunft. Der Einsetzungsbeschluss für die Enquete-Kommission war der Startschuss für die Bewältigung dieser schwierigen Aufgaben. Dabei zeigte sich schnell: Der demografische Wandel ist keine Bedrohung; er ist eine Herausforderung und Chance für Sachsen.

Lassen Sie mich hinzufügen: Mit dieser Grundaussage unterscheiden wir uns grundsätzlich von all denen, die Untergangsszenarien prophezeien. Wer wie die NPD Schwarzmalerei betreibt, statt Lösungen zu präsentieren, hilft den sächsischen Familien in keinster Weise.

(Alexander Delle, NPD: Wir haben schon genügend Lösungen gebracht!)

Es mag ja einfach sein, mit Angst Wahlen zu gewinnen, die eigene Angst auf andere zu projizieren, wahrscheinlich aus Angst vor sich selbst;

(Alexander Delle, NPD: Einfach aufhören, das wird zu peinlich! – Zuruf des Abg. Jürgen Gansel, NPD)

denn wenn man sieht, wie sich die Geburtenrate bei Ihnen selbst darstellt, dann ist wahrscheinlich aus Ihrer Angst von vor 70 Jahren – ein Volk ohne Raum – heute die Angst vor einem Raum ohne Volk geworden.

(Beifall bei der FDP)

Angst als Methode anzuwenden mag Ihre Politik sein. Mein Verständnis von Politik ist das auf gar keinen Fall. Uns liegt Sachsen am Herzen, Ihnen von der NPDFraktion wahrscheinlich eher Ihre Dienstwagen.

Ein Hauptanliegen der Arbeit der FDP in der EnqueteKommission war, den von der Abwanderung besonders betroffenen ländlichen Raum in seiner Funktion als Lebens- und Arbeitsort zu stärken. Anbinden statt Abhängen ist nicht nur das politische Schlagwort, sondern bei

der Verkehrsinfrastruktur unserer Meinung nach der richtige und notwendige Ansatz.

Schnell zeigte sich zudem: Es gibt nicht „die Lösung“ für Sachsen. Jede Region hat ihre Stärken und Schwächen. Deshalb werden wir in Zukunft Unterschiede in größerem Maße zulassen müssen. Dezentrale Lösungen und mehr Entscheidungsbefugnis vor Ort sind die Lösung. Ich bin mir sicher, jede Region kann sich entwickeln, wenn der Freistaat sie nur lässt. Eine gewisse Form von Wettbewerb der Regionen wird Sachsen sehr guttun.

Lassen Sie mich an dieser Stelle einen kurzen Abschweif machen: Gestern ist das Rothenburger Modell, der Martinshof Rothenburg, als ein Ort der Ideen von 365 im Land ausgezeichnet worden. Sie kennen diesen Wettbewerb; er steht unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Köhler. Was ist dort gemacht worden? Rothenburg an der Neiße, manche sagen auch etwas abseits oder am … der Welt gelegen. Nein, wir haben uns gestern geeinigt: In dezentraler Lage hat man sich mit dem Problem des Ärztemangels auseinandergesetzt. Und zwar in dem Maße, dass man nicht sagt, diese Region als Wolfserwartungsland ist eine Einbahnstraße für junge Mediziner, die sich niederlassen wollen. Nein, wir wollen eine Chance daraus machen. Das Universitätsklinikum „Carl Gustav Carus“ Dresden hat gemeinsam mit der Technischen Universität das Carus-Konzil gegründet mit der Idee, jungen Ärzten, die in Rothenburg an vier Tagen in der Woche arbeiten, zu ermöglichen, den fünften Tag zum Beispiel zum Promovieren nach Dresden gehen zu können. Es sollen Netzwerke geschaffen werden, um Lösungen, die vor Ort guttun, zu finden. Dafür gab es diese Auszeichnung. Von dieser Stelle aus kann ich den Verantwortlichen, Herrn Knipscher und Frau Pietz vom Martinshof in Rothenburg, meinen herzlichen Glückwunsch übermitteln.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren! Wir werden nicht drum herumkommen, Unterschiede zuzulassen, auch in anderen Bereichen, und uns von landesweiten Standards zu verabschieden.

Was in der Großstadt sinnvoll ist, muss auf dem Lande keineswegs gut sein. Aber ich habe lieber die zweitbeste Lösung im ländlichen Raum, anstatt gar keine Lösung. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, unterscheidet uns im Übrigen auch von den Kollegen der Linksfraktion. Gleichmacherei führt eher dazu, dass es für viele gar keine Lösung gibt. Für den ländlichen Raum gibt es unserer Meinung nach nur ein Schlagwort, das wirklich hilft: Mehr Freiheit wagen.

Ein weiterer Schwerpunkt für uns war der Bereich Bildung. In der Bildung liegt der Schlüssel zum Erfolg bei der Forderung nach mehr Kompetenzen vor Ort. Schulen und Schulträger, die sich selbst um das Personal kümmern können, sind viel besser in der Lage, die Anforderungen der Region an Bildung umzusetzen, ob bei der Berufsorientierung, bei Schulprogrammen oder einer sinnvollen

Investitions- und Personalplanung. Wer gute Schulen haben will, wird um mehr Freiheit für Schulen nicht umhinkommen. Ich bin froh, dass sich dieser Grundgedanke auch im Bericht der Kommission wiederfindet.

Es war unserer Meinung nach in der Vergangenheit ein Fehler, landesweit Mindestschülerzahlen überall durchsetzen zu wollen. Ich bin mir sicher: Mehr Autonomie der Schulen und der Schulträger, und wir hätten auf alle Fälle mehr Schulen als heute, als jetzt, und auf alle Fälle bessere Lösungen.

Auch wenn der Bildungsbereich in der EnqueteKommission besonders strittig war, so haben sich doch auch viele Vorschläge der FDP durchgesetzt. Als Stichwort möchte ich hier nur das frühe Fremdsprachenlernen nennen, ein längeres gemeinsames Lernen und auch eine bessere Förderung von leistungsschwachen und leistungsstarken Schülern.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist wichtig, auf die Folgen des demografischen Wandels zu reagieren. Umso wichtiger ist es auch, wieder ein Klima für Kinder zu schaffen. Der Schlüssel dazu liegt in einer neuen Familienpolitik, einer Politik, die potenzielle Eltern nicht vor schier unlösbare Aufgaben stellt. In der Kommission wurde oft über die sogenannte Rushhour des Lebens gesprochen. Es ist die Zeit, in der vor allem Frauen vor einem Berg von Aufgaben stehen. Sie müssen ihre Ausbildung abschließen und wollen ihre Berufslaufbahn voranbringen. Und Überstunden in der Firma und außerbetriebliches Engagement werden da oft als Selbstverständlichkeit verlangt.

Gleichzeitig rücken aber auch der Wunsch nach Kindern und die Gründung einer Familie in den Mittelpunkt. Das stellt Familien vor enorme Probleme, und viele entscheiden sich aus purem Realismus entweder für eine Berufslaufbahn oder für die Familie. Doch damit muss unserer Meinung nach endlich Schluss sein. Es kann keine Entscheidung mehr für oder gegen etwas geben. Karriere und Familie dürfen nicht mehr im Gegensatz stehen, sondern müssen einfach gleichzeitig möglich sein. Dieser Appell soll hier nicht nur an die Betreuungsangebote für Kinder, sondern auch an Unternehmer mit Zukunftsdenken gerichtet sein.

Aufgabe des Staates ist es, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Uns sind in vielen Bereichen die Empfehlungen nicht weit genug gegangen. Wir denken da nur an den Rechtsanspruch auf ein Betreuungsangebot ab dem ersten Lebensjahr. Wir wollen die Modelle zur flexibleren Betreuungszeit möglich machen, und wir wollen natürlich auch die Eltern von den Kosten der Betreuung entlasten, denn wenn Kindertageseinrichtungen Bildungseinrichtungen sind, zu denen wir uns ganz klar bekennen, muss dies für Eltern auch kostenfrei möglich sein.

Mir ist es leider – auch in meiner begrenzten Redezeit – nicht möglich, jetzt über die Verantwortung der Generationen füreinander als ganz wichtigem Punkt zu sprechen, über den Fachkräftemangel und über die Notwendigkeit eines weltoffenen und toleranten Sachsens. Doch in fast

400 Seiten des Berichtes steht viel Richtiges. Es wurde ein breiter Konsens erreicht, bei dem natürlich auch die eine oder andere Sache nicht so konkret wurde, wie man es sich gewünscht hätte. Doch es ist zusammenfassend ein guter Bericht.

Ich habe am Anfang die Frage aufgeworfen, ob der Bericht zehn Jahre zu spät kam. Lassen Sie es mich positiv formulieren: Sachsen ist vom demografischen Wandel am stärksten betroffen. Der Bericht und die Akteure vor Ort haben sich Wissen angeeignet, das viele Regionen in ganz Deutschland oder auch in unseren Nachbarländern noch nicht haben. Wir haben damit einen Erkenntnisvorsprung erlangt. Nun müssen wir in Sachsen etwas daraus machen, diesen Erkenntnisvorsprung auch in einen Umsetzungsvorsprung zu verwandeln. Der jetzt vorgelegte Bericht wird eine wichtige Grundlage für unsere Arbeit sein, für die Arbeit der Abgeordneten, der Staatsregierung, der Bürgermeister, aber auch jedes einzelnen Bürgers vor Ort, diese Empfehlungen umzusetzen. Haben wir die Kraft und den Mut, viele, auch kritisch angemerkte Punkte im Bericht umzusetzen! Packen wir es gemeinsam an!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Ich erteile der Fraktion GRÜNE das Wort; Frau Hermenau, bitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Wer allein schon die Zusammenfassung des in der Tat wirklich sehr dicken Berichtes der Enquete-Kommission liest, der erkennt meines Erachtens sehr schnell, dass die sächsische Politik – da ist es völlig egal, ob Staatsregierung oder Parlament oder auch andere, wie zum Beispiel Landräte, Bürgermeister usw. – in den nächsten Jahren eine neue Rolle in diesem Land wird einnehmen müssen. Es wird darum gehen, dass wir alle auf der Suche nach Orientierung gemeinsam vorangehen, denn die Zukunft wartet nicht, sie passiert, und sie passiert entweder unkontrolliert, oder aber wir versuchen, hier und da Orientierung anzubieten. Ich glaube, dass das unumgänglich ist. Der katalytische Verlauf der demografischen Entwicklung, wie wir sie in Sachsen erleben, wird uns wahrscheinlich sogar zu Wegbereitern für andere machen. Material wurde sowohl in der Regierung als auch jetzt hier im Parlament genug gesammelt. Nun müssten wir uns über diese neue Politik gemeinsam verständigen.

In den zurückliegenden vier Jahren war Demografie immer ein beherrschendes Thema in den Medien. Da gab es populäre Buchtitel wie das „Methusalemkomplott“, oder das Buch „Minimum“ wurde eingeführt. Da wurde sehr eindringlich über die Alterung und die Schrumpfung unserer Gesellschaft gesprochen. Es wurde meiner Meinung nach auch ein gewisser Grad an Panik ausgelöst, den ich nicht für gerechtfertigt halte. Auch uns in Sachsen liegt jetzt zu diesem Thema eine Menge Material vor. Ich denke, die entscheidende Erkenntnis, die daraus gezogen

werden kann, ist die, dass es keinen Masterplan Demografie geben kann. Den wird es nicht geben. Die demografische Entwicklung betrifft nämlich nicht nur eine Vielzahl höchst verschiedener Politikfelder, sondern sie ist in der Tat hochkomplex und viel zu komplex für einfache Antworten.

Die Expertenkommission der Staatsregierung hat im vergangenen Jahr einen bunten Strauß von Handlungsempfehlungen vorgelegt. Eigentlich ist unser EnqueteBericht auch nichts anderes. Wir haben es geschickterweise Instrumentenkoffer genannt. Aber im Prinzip geht es auch darum, dass wir Anregungen geben, über die eigene individuelle Vor-Ort-Situation demografisch nachzudenken und sich zu überlegen, was man wie tun könnte, um der Situation zu begegnen. Allerdings – das muss ich sagen – brauchen wir ein gewisses demografisches Bewusstsein; das ist richtig. Die Überlegungen, die wir anstrengen, müssen auch bei schrumpfender Bevölkerung Bestand haben. In seinem Beitrag 2004 – ich zitiere jetzt einmal Herrn Milbradt, der ja immerhin noch Mitglied Ihrer Fraktion ist – bat er, darauf zu achten: „Investitionen in die Infrastruktur müssen auf den zukünftigen Bedarf ausgerichtet werden.“ Ja, darüber reden die GRÜNEN hier in diesem Landtag mindestens schon die letzten vier Jahre. Es betrifft nicht nur die Versorgungsnetze, sondern auch den Straßenbau. Wir stehen ja inzwischen in manchen Regionen und Kommunen vor Rückbauaktivitäten.

Ich finde es ganz interessant, wenn sich bei der CDU langsam die Erkenntnis durchsetzt, dass man vielleicht nur das finanzieren sollte, was man später auch noch erhalten kann. Ich denke, dass wir vielleicht beim Thema Straßenbau in neue Zeiten aufbrechen können. Ich weiß noch, wie in den Neunzigerjahren mein Kollege Gaber damals in der ersten Fraktion immer etwas als ein grüner Spinner angesehen wurde, weil er vor gigantischen Straßenbauprojekten oder überdimensionierten Abwasserlösungen warnte. Wenn jetzt ein Erkenntnisfortschritt kommt, soll das gut sein.

(Beifall bei den GRÜNEN)

So viel wird sich Jahr für Jahr nach und nach für uns alle im Alltag ändern. Die Lebenslust wird wichtiger werden als die Kaufkraft, und gut zu leben wird wichtiger sein als viel zu haben. Kultur verliert zunehmend ihren Elitecharakter und wird eher zu einer Art Integrationsmittel, bei einer wirtschaftlichen Ausdifferenzierung in der Gesellschaft, in der es zu einer gemeinsamen gesellschaftlichen Erlebniskultur kommt. Wenn alle Bildungsreserven aufgeschlossen werden, dann macht auch mehr Bildung mehr Kultur. Die Innenstädte werden zunehmend auto-, barriere- und lärmfrei. Das fordern die Älteren ein. Die jüngeren Familien und die Menschen mit Behinderungen werden davon profitieren. Die Alterung der Gesellschaft wird unseren Alltag viel stärker prägen als der Geburtenrückgang. Es wird eine Suche nach neuen Maßstäben einsetzen. So denke ich zum Beispiel, dass die Grundsicherung wichtiger sein wird als die Maximalversorgung.

Man wird neu erlernen müssen, sich aufeinander verlassen zu können. Es wird zum Beispiel auch eine neue Kultur der Sterbebegleitung und des Alterns in Würde geben müssen.

Die Wirtschaftsgemeinschaft bekommt meiner Meinung nach zunehmend Konkurrenz durch eine Hinwendung zur Wertegemeinschaft, in der Leistung, Wohlgefühl und Lebenslust zusammengehören; und das, muss ich sagen, stimmt mich eher zuversichtlich als pessimistisch.

Die klassische Arbeitswelt wird den Alltag nicht mehr so stark dominieren und zeitlich fest gefügte Vollzeitstellen nehmen wahrscheinlich ab. Freizeit als Gegenpol zur harten Arbeit wird so vielleicht eher an Bedeutung verlieren. Ich gehe davon aus, dass immaterielle Bereiche wichtiger werden, dass die Fragen von Kultur, Natur und Religion ihre Nischen verlassen und dass sie sich nicht mehr vom Konsum werden dominieren lassen. Dann dürfen, wie ich glaube, auch die Kirchen auf Belebung hoffen.