Protocol of the Session on October 15, 2008

(Zuruf des Abg. Dr. Dietmar Pellmann, Linksfraktion)

Viele Teile der Begründung haben Sie eins zu eins aus der Meldung der „Wirtschaftswoche“ vom April abgeschrieben. Weil Sie sich nicht ausreichend Arbeit gemacht haben, können wir diesem Antrag so auch nicht zustimmen.

(Zurufe der Abg. Andrea Roth, Dr. André Hahn und Dr. Dietmar Pellmann, Linksfraktion)

Sie widersprechen sich in Ihrer eigenen Begründung,

(Dr. André Hahn, Linksfraktion: Niemals!)

ohne uns diesen Widerspruch zu erklären. Sie kritisieren, dass Menschen mit geringem Einkommen weniger zum Arzt gehen und deshalb müsse die Praxisgebühr weg.

(Dr. Dietmar Pellmann, Linksfraktion: Unter anderem!)

Gleichzeitig stellen Sie fest, dass die erhoffte steuernde Wirkung der Praxisgebühr nicht eingetreten ist, weil sowohl privat als auch gesetzlich Versicherte genauso oft zum Arzt gingen wie vor der Einführung der Gebühr. Das ist zumindest ein Widerspruch, den Sie hätten auflösen müssen.

Es ist natürlich möglich, dass es eine Verschiebung innerhalb der Einkommensgruppen gesetzlich Versicherter gab. Leute mit mehr Geld gehen zum Beispiel öfter zum Arzt als welche mit geringerem Einkommen. Das ist Ihrem Antrag nicht zu entnehmen und auch aus den vorliegenden Studien so nicht abzuleiten.

Ich habe bei Ihnen und auch bei Herrn Krauß von der CDU-Fraktion den Eindruck gehabt, dass Sie die Studien gar nicht gelesen haben, sondern dass Sie sich auf Meldungen stützen, die dort irgendetwas verkürzt zusammenfassen.

In den Studien wird immer der Zusammenhang zwischen Praxisgebühr und Inanspruchnahme, also Arztkontakten, untersucht. Daraus sollen Rückschlüsse gezogen werden, ob die Praxisgebühr unter Kostengesichtspunkten sinnvoll ist. Allerdings – da sind wir uns wahrscheinlich einig – erlaubt ein Blick auf die Anzahl der Arztkontakte noch keinen Rückschluss auf erreichte Einsparungen und vor allen Dingen nicht, ob diese Einsparungen langfristig sind. So einfach ist das nicht. Das zeigen auch die unterschiedlichen Ergebnisse der verschiedenen Studien, die in Deutschland zu diesem Thema angefertigt wurden, unter anderem vom Wissenschaftichen Institut der AOK vom Deutschen Institut für Wirtschaftsförderung in Zusammenarbeit mit der TU Berlin. Es gibt eine Analyse der Bertelsmannstiftung und einen GEK-Report zur ambulanten Versorgung 2007. Diese Studien zeigen kein einheitliches und eindeutiges Ergebnis. Das ist darauf zurückzuführen, dass es viele Faktoren gibt, die Einfluss darauf haben, ob Menschen zum Arzt gehen oder nicht, vor allen Dingen wie oft sie zum Arzt gehen.

Es ist zum Beispiel entscheidend, ob der Arzt wiederbestellt und wann. Das hat auch etwas mit dem Honorarsystem, also der Budgetierung, und nicht nur mit der Praxisgebühr zu tun. Weiter trifft der Arzt kostenträchtige Entscheidungen. Das heißt, eine verminderte Inanspruchnahme bedeutet nicht gleichzeitig weniger Kosten. Es gibt Faktoren, die liegen einfach nicht beim Patienten. Demzufolge können diese Faktoren auch nicht in gerader Linie über Praxisgebühr oder eben keine Praxisgebühr beeinflusst werden. Praxisgebühr weg und alles ist gut, das stimmt so nicht.

(Dr. Dietmar Pellmann, Linksfraktion: Das haben wir nicht gesagt!)

Wie wollen Sie Ihren Vorschlag zum Beispiel mit solchen Ergebnissen belegen, die ja auch in der Studie standen? Der Rückgang der Arztkontakte ist vor allem bei denen sehr signifikant, die häufig zum Arzt gehen. Dort sinkt der von 28 auf 25 Kontakte. Da diese Personen aber mit hoher Wahrscheinlichkeit in jedem Quartal zum Arzt gehen und damit die Praxisgebühr bis zur Befreiungsgrenze zahlen müssen – darin sind wir uns ja einig –, bringt denen das Vermeiden von Arztkontakten überhaupt nichts.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Bei der Gruppe derer dagegen, die eher selten zum Arzt gehen, ist die Anzahl der Arztbesuche um 10 % gestiegen.

Ich finde, dass wir in der Debatte um die Praxisgebühr auch so ehrlich sein sollten zu erwähnen, dass gesetzlich geregelte Vorsorgeuntersuchungen, ein Teil der Schutzimpfungen und zahnärztliche Vorsorge von der Praxisgebühr ausgenommen sind. Die Untersuchung und Behandlung von Kindern ist auf jeden Fall kostenfrei.

Die Frage, die sich mir anhand der Studien stellt, ist, ob es tatsächlich die Praxisgebühr ist, die Arztbesuche verhindert. Sie ist ja eher die kleinere Hürde. Oft folgen aus einem Arztbesuch weitere Kosten für Medikamente und Behandlung. Dieses ganze System der Zuzahlung, das für Menschen obendrein noch undurchschaubar ist, führt offensichtlich dazu, dass Menschen mit geringem Einkommen Arztbesuche verschieben, wie manche Studien befunden haben, weil sie insgesamt die damit verbundenen Kosten nicht tragen können oder eben auch nicht in der Lage sind, ihre Zuzahlungsbefreiung durchzusetzen; denn es gibt ja für Menschen mit niedrigem Einkommen die Möglichkeit, sich von Zuzahlungen, also auch von der Praxisgebühr, befreien zu lassen, wenn sie eine bestimmte Belastungsgrenze erreicht haben. 2004 waren das mehr als 6,6 Millionen Menschen in Deutschland, die von der Praxisgebühr und anderen Zuzahlungen befreit waren. Unter ihnen sind natürlich viele chronisch Kranke. Ob dies ausreichend ist, das ist die Frage, die wir diskutieren müssen.

Sie sagen zumindest mit dem Antrag, Praxisgebühr muss weg und dann wird alles gut. Auf so etwas Plattes haben wir einfach keine Lust, denn es ist eine bewusste Täuschung der Menschen im Land.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Frage ist doch, ob die Abschaffung der Praxisgebühr tatsächlich zu mehr Gerechtigkeit führen würde. Von der Abschaffung der Praxisgebühr profitieren Menschen mit hohem Einkommen in stärkerem Maße als Menschen, die weniger verdienen. Das sagen Sie hier einfach nicht laut und das ist unlauter – zumindest bei den Menschen, die in der gesetzlichen Versicherung sind, und von denen reden wir ja hier.

(Dr. Dietmar Pellmann, Linksfraktion: Nur von denen!)

Das ist einfach so. Die mit niedrigem Einkommen haben ja eine Zuzahlungsgrenze, die mit hohem Einkommen nicht. Also werden diejenigen mit hohem Einkommen von der Abschaffung der Praxisgebühr einfach mehr profitieren als andere. Diese können sich aber den Obolus nun wirklich leisten.

Menschen mit wenig Geld würden wegen der anderen Zuzahlungen trotzdem überlegen, ob sie zum Arzt gehen, also unabhängig von der Praxisgebühr. Gleichzeitig entsteht aber ein Einnahmenloch von 1,6 Milliarden Euro. Das ist Geld, das wir eigentlich im Gesundheitssystem brauchen und von dem Sie uns jedenfalls heute nicht erklären, wo Sie das hernehmen wollen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben immer wieder betont, dass wir den Hausarzt als Lotsen im System brauchen und in der Praxisgebühr eine Möglichkeit sehen, seine Rolle zu stärken. Nur darüber können wir GRÜNE uns eine Kostendämpfung vorstellen, nicht über vermiedene Arztbesuche. Hier hat die Praxisgebühr durchaus eine Steuerungsfunktion gezeigt, und das in allen Studien. Viele Leute gehen heute nämlich erst zum Hausarzt, bevor sie einen Facharzt aufsuchen. Die Quote der Personen, die ohne Überweisung einen Facharzt aufsuchen, hat sich inzwischen halbiert. Da sprechen wir auch darüber, dass bestimmte Laboruntersuchungen dann nur einmal gemacht werden. Das ist eben genau eine Kostensenkung, die über die Lotsenfunktion erreicht wird und nicht darüber, ob jemand wegen der Praxisgebühr nicht zum Arzt geht. Das geben die Studien nicht her. Es wird da nicht belegt. Deshalb werden wir uns zu Ihrem Antrag enthalten. Wir wollen Veränderungen im System des Gesundheitswesens, aber Ihre populistischen Forderungen sind uns da einfach nicht ausreichend.

Zum Abschluss noch etwas zum Denken, liebe Kollegen von der Linksfraktion. Der Bertelsmann-GesundheitsMonitor 2007 berichtet, dass in Haushalten, denen mehr als 5 000 Euro netto zur Verfügung stehen, also nicht gerade Armenhaushalte, 32 % der befragten Personen angaben, aufgrund der Praxisgebühr auf Arztbesuche verzichtet und sie verschoben zu haben. Es geht also offensichtlich nicht nur ums Geld.

Danke.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, gibt es weiteren Aussprachebedarf? – Herr Dr. Pellmann bitte für die Linksfraktion. Das ist noch nicht das Schlusswort, Herr Dr. Pellmann.

Nein, ich will der Staatsministerin nicht vorgreifen, Herr Präsident.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist in der Tat, Frau Herrmann, von uns heute nicht beabsichtigt gewesen, alle Unwägbarkeiten der zwei sogenannten Gesundheitsreformen auf die Tagesordnung zu setzen. Dann hätten wir morgen früh noch diskutieren müssen. Das wollten wir Ihnen wahrlich

nicht zumuten. Wir haben deshalb einen Aspekt herausgegriffen, nämlich die Praxisgebühr, weil wir nicht nur mit einzelnen Verwandten, wie Herr Krauß, reden, sondern weil wir viele Hinweise aus der Bevölkerung bekommen. Da ist nach wie vor die Praxisgebühr das rote Tuch, das weg muss. Das ist die Hauptbotschaft, die wir zunächst entgegennehmen, und dies vor dem Hintergrund – –

Herr Dr. Pellmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Herrmann?

Von Frau Herrmann gestatte ich eine Zwischenfrage.

Bitte schön, Frau Herrmann.

Herr Pellmann, geben Sie mir recht, dass Sie zwar in Ihren Gesprächen erfahren, dass die Praxisgebühr ein rotes Tuch ist und weg muss, dass sich das aber zumindest in den Studien so nicht wiederfindet?

Verehrte Frau Herrmann, Sie hatten ja selbst dargestellt, dass die Studien zu sehr unterschiedlichen Aussagen kommen. Wenn dem so ist, dann gehen wir bitte davon aus, dass es sehr wohl genügend Aussagen gibt, nicht nur aus Studien, sondern auch von im Gesundheitswesen unmittelbar Tätigen, voran von Ärzten selbst, dass diese Praxisgebühr weder nötig noch sinnvoll ist. Ich meine, wir können Ihnen in Ihrem Sinne durchaus recht geben, Studien – das ist nun einmal der Charakter der Wissenschaft, sie ist streitbar – kommen häufig zu sehr unterschiedlichen Aussagen. Ich habe jetzt über Wissenschaft und nicht über Juristerei gesprochen, dort ist es ja noch schlimmer.

Lassen Sie mich bitte nochmals unsere Position, weshalb wir heute hier diesen symbolischen – das gebe ich gern zu – Antrag gestellt haben, deutlich machen. Vor dem Hintergrund, dass wir ab 1. Januar eine erhebliche Steigerung der Krankenkassenbeiträge erleben werden, ging es einfach um die Frage, welche Möglichkeiten des Ausgleiches hier stehen könnten, und ich gebe Ihnen völlig recht: Wir hätten genauso einen Antrag auf die Tagesordnung setzen können, dass man diese oder jene Zuzahlungen abschafft. Oder wir hätten auf die Tagesordnung setzen können, dass alle Medikamente und Hilfsmittel, die für eine ärztlich angewiesene Therapie nötig sind, auf Rezept und demzufolge von der Kasse bezahlt werden, also im Leistungskatalog enthalten sind. Wir hätten sehr viel machen können. Wir haben uns ganz bewusst für die – –

Herr Dr. Pellmann, es gibt den Wunsch von Herrn Krauß, Sie zu fragen. Genehmigt?

Ja, natürlich.

Herr Krauß, bitte.

Herr Dr. Pellmann, mich würde interessieren, wie Sie die 1,6 Milliarden Euro, die Sie jetzt in den Einnahmen einsparen wollen, aufbringen wollen. Das haben Sie vergessen zu sagen. Deshalb meine Frage: Woher wollen Sie die Mittel nehmen? Wollen Sie jetzt die Beiträge für die gesetzliche Krankenversicherung erhöhen?

Herr Krauß, ich will Ihnen sagen: Die Frage enttäuscht mich jetzt wirklich. Sie haben heute unseren Antrag abgelehnt, dass wir über den Anteil von Sachsen von 480 Milliarden Euro sprechen und uns daran beteiligen wollten; und dann stellen Sie mir die Frage, wie 1,6 Milliarden Euro aufzubringen sind.

Dazu sage ich Ihnen Folgendes: Dafür ist gegebenenfalls der staatliche Zuschuss zu erhöhen, so einfach ist das, weil vieles, was gesamtgesellschaftlich relevant ist, von der Gesamtgesellschaft zu tragen wäre, durch Versicherungsbeiträge sozusagen auch im Sinne von artfremden Leistungen finanziert wird,

(Alexander Krauß, CDU: Steuern!)

und es ist – das wäre der nächste Antrag, vielleicht stellen wir den das nächste Mal – die Anhebung der staatlichen Zuschüsse für die gesetzliche Krankenversicherung.

Nun möchte ich Ihnen aber, bitte schön, im Sinne einer Zusammenfassung nochmals deutlich machen, weshalb die Praxisgebühr aus unserer Sicht nicht zu dem geführt hat, was Sie, insbesondere von der CDU, immer angenommen haben, sondern warum sie ersatzlos gestrichen werden sollte.

Erstens – selbst Frau Schütz hat es heute gesagt, deshalb darf ich es auch wiederholen –: Die Praxisgebühr gehört zu den Spitzenleistungen des bürokratischen Aufwandes – ich wiederhole: Frau Schütz sprach von einem Bürokratiemonster – und belastet viele, viele Praxen – nicht die Ärzte, sondern die Schwestern, die an der Anmeldung stehen –, und sie belastet natürlich auch die Krankenkassen selbst, was diese Angestellten und die ganzen Neuberechnungen betrifft. Deswegen gehört sie schon deshalb abgeschafft.

Zweitens. Ja, ursprünglich kam es zu einem Rückgang der Zahl der Ärztekonsultationen. Inzwischen, das belegen auch einige Studien, ist dieser Trend nicht nur gestoppt, sondern in einigen Bereichen sogar wieder angestiegen. Auch deshalb ist die sogenannte Steuerungsfunktion eben nicht so eingetreten, wie das damals bei der Begründung erwünscht und gedacht war.

Drittens – auch das wurde gesagt: Viele verzichten auf notwendige Ärztekonsultationen, und das hat Langzeitwirkung. Ärzte, die etwas von ihrem Fach verstehen, und die meisten tun dies ja, sagen Ihnen, dass das am Ende für die meisten viel, viel teurer wird und dass es jetzt eine Kleinkrämereidebatte ist, wenn wir meinen, aufgrund dieser Summe müssten wir unbedingt an der Praxisgebühr festhalten.

Viertens – Herr Gerlach sagte das, und dafür bin ich ihm sehr dankbar: Ja, die Praxisgebühr führt zu einer Tatsache, die man nicht für möglich hält: Wenn ich schon 10 Euro im Monat bezahle, dann möchte ich so viele Überweisungen wie möglich haben, damit das im Quartal dann bei den verschiedensten Fachärzten abgearbeitet wird. Das ist unter anderem ein Grund, weshalb wir zu erheblich längeren Wartezeiten bei Fachärzten gekommen sind.