Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Hähle, ich schätze Sie, aber ich habe das Thema, das der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt losgetreten hat, bewusst aus dieser Aktuellen Debatte herausgelassen, und ich bedaure, dass die Frage des § 218 hier noch einmal im Zusammenhang mit dieser Debatte aufgegriffen wird; denn ich bin der Meinung, diese Debatte ist ausgestanden und wir sollten daran nicht noch einmal rütteln.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich muss doch noch kurz auf das, was Herr Dr. Hähle hier gesagt hat, antworten. Man muss bezüglich der Dinge, die ich zu Herrn Böhmer und Herrn Flath gesagt habe, etwas differenzieren, Herr Hähle.
Herr Böhmer hat es in der Aktuellen Debatte im Landtag von Sachsen-Anhalt noch einmal wesentlich differenzierter dargestellt, sich entschuldigt und ist von seiner Meinung abgerückt. Das, was Herr Flath gemacht hat, ist ein Beistehen genau dieser Positionierung, und ich muss sagen: Das, was Sie hier dargeboten haben – Abtreibungen als Kindstötungen zu bezeichnen –, ist auch heute noch im Grunde genau diese problematische Argumentation, für die Böhmer in die Kritik geraten ist,
(Beifall bei der Linksfraktion und der Abg. Kristin Schütz, FDP, und Dr. Karl-Heinz Gerstenberg, GRÜNE)
und es kann überhaupt nicht sein, dass Sie als Fraktionsvorsitzender der CDU das hier darlegen und im Grunde mit dem liberalen Abtreibungsrecht der DDR in Verbindung bringen.
Das, was Herr Neubert mir vorwirft, passt nicht. Sonst sind Sie ja auch immer so sehr für Verfassungsgerichtsurteile, wenn es Ihnen in den Streifen passt.
Wird von den Fraktionen noch das Wort gewünscht? – Dies ist nicht der Fall. Bitte, Frau Staatsministerin Orosz.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte einen Schritt weiter gehen, die eben geführte Debatte von den Embryos bis zur Geburt aufgreifen und mit einem sprichwörtlichen Zitat beginnen: „Wenn ein Kind das Licht der Welt erblickt, aus der Geborgenheit im Mutterleib eintritt in eine ihm noch unbekannte, fremde Welt, dann beginnt eine Entwicklung, in deren Verlauf sich eine eigene Persönlichkeit und Würde herausbildet.“
Wir wissen inzwischen alle aus der Entwicklungspsychologie: Das Kind wird sein Verhalten an dem ausrichten, was es sieht und was es spürt und in jeglicher Art und Weise erlebt. Die ersten und wichtigsten prägenden Bezugspersonen sind die Eltern. Bildung verweist auf die Formung des Menschenkindes im Hinblick auf sein Menschsein, und Bildung ist dabei eben nicht allein die Vermittlung von Wissen; sie ist ebenso die Vermittlung von Lebensinhalten, Normen, Werten und Lebenskompetenzen. Musische, ästhetische, ethisch-moralische und kognitive Bildung sind Qualitäten, die menschliches Verhalten auszeichnen. Sie ist Voraussetzung für ein kultur- und friedvolles sowie zukunftssicheres Zusammenleben.
So weit, meine Damen und Herren, der Einstieg. Eltern – darüber sind wir uns, denke ich, einig – sind Vorbilder und vermitteln auch weitere. Sie entscheiden über Bildungs- und Erziehungsformen, die familiäre Sphäre, die Wahl der Kita, über den Besuch von Musikschulen, Sportvereinen und anderen Fördereinrichtungen. Sie bestimmen maßgeblich die Schullaufbahn und beeinflussen zumindest in den Kindheitsjahren den Freundeskreis. Eltern – nicht vordergründig der Staat – sind gesetzlich und moralisch für Erziehung und Bildung sowie für das Kindeswohl verantwortlich, und das, meine Damen und Herren, tut die große Mehrheit der Eltern – auch in unserem Freistaat. Sie nehmen dies ganz selbstverständlich und in sehr verantwortungsvoller Weise wahr. Das möchte ich hier noch einmal mit einem großen Dank deutlich formulieren.
Trotzdem gibt es Familien, in denen Kinder nicht gelingend und nicht beschützt aufwachsen. Aus unterschiedlichen Gründen sind Eltern nicht in der Lage oder teilweise nicht einmal gewillt, ihrer Verantwortung gerecht zu werden.
Damit entsteht etwas, was in der heutigen Diskussion immer wieder deutlich gemacht wurde: eine Gefahr für das Kind und das Familiensystem an sich. Der Gesetzgeber sieht eine Vielzahl von hilfreichen Angeboten für bessere Entwicklungschancen des Kindes unter den gegebenen Bedingungen vor. Diese Angebote richten sich
zunächst an die Eltern; aber bei Zuspitzung der Situation sind auch Menschen außerhalb des Elternhauses gefordert.
Meine Damen und Herren! An diesen Beispielen wird deutlich, wo die Grenzen der Kinder- und Jugendhilfe liegen und dass es bereits seit Längerem unser gemeinsames Anliegen ist, eine qualitative, zielgenauere Weiterentwicklung auf den Weg zu bringen – und das auch nicht erst seit heute, wie der eine oder andere in seinem Redebeitrag behauptet hat. Wir haben auf plakative Aussagen oder irgendwelche Slogans verzichtet und uns der neuerlichen Herausforderung schon im Jahre 2006 gestellt.
Natürlich sind die Wirkungen solcher Maßnahmen nicht über Nacht sichtbar bzw. spürbar. Die Komplexität dieses Themas ist heute in jedem Beitrag deutlich geworden. Deshalb subsumiere ich: Wir sind uns darüber einig, dass das ein Prozess ist, der nicht – wie von dem einen oder anderen dargestellt – innerhalb weniger Tage zu sichtbaren Veränderungen führt.
Wichtig ist, dass die Politik und die Gesellschaft erkannt haben, dass der Schutz unserer Kinder eine gemeinsame Aufgabe ist und die Pflicht zu gemeinsamem neuerlichem Handeln auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft auch die Pflicht zur Weiterentwicklung der Gesetzgebung bedeutet. Auch das hat die Staatsregierung erkannt. Seit 2007 wirken wir hier gemeinsam mit den gesetzlich zuständigen Kommunen.
Die frühe Wahrnehmung von Problemsituationen junger Familien und die Unterstützung durch passgenaue Hilfen ist in der Tat eine zielgerichtete Querschnittsaufgabe mit neuer Qualität. Sie bedarf der Mitwirkung zum einen unterschiedlicher Professionen, die in ihrem Arbeitsbereich mit Kindern und Jugendlichen, aber auch mit Eltern Kontakt haben, und zum anderen der staatlichen Gemeinschaft, die als Nachbarn, Freunde oder Verwandte einen etwaigen Unterstützungsbedarf oft zuallererst wahrnehmen.
Frau Herrmann, Entschuldigung! Das habe ich übersehen. – Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Schönen Dank, Frau Staatsministerin. – Entschuldigung, aber ich habe über etwas gegrübelt, was Sie schon ein paar Sätze zuvor gesagt haben, und mich nun doch noch entschlossen, die Frage zu stellen. Sie haben gesagt, es sei sichtbar, dass die Grenzen der Kinder- und Jugendhilfe erreicht seien. Können Sie das ein bisschen differenzieren? Mir ist nicht klar, welche Grenzen Sie meinen. Meinen Sie finanzielle Grenzen? Meinen Sie die von mir vorhin angesprochenen Grenzen zum Gesundheitssystem? Meinen Sie Grenzen
im Bereich der Bildung? Oder sind unsere derzeitigen Konzepte nicht ausreichend? Über welche Grenzen haben Sie an dieser Stelle gesprochen?
Sehr geehrte Frau Herrmann, wenn Sie mich meinen Beitrag weiter halten lassen, werde ich hoffentlich auch für Sie verdeutlichen, wie wir zu diesen Fragen stehen.
Mein Haus hat in den letzten Monaten ein sächsisches Handlungskonzept für präventiven Kinderschutz mit einem umfassenden Maßnahmenkatalog erstellt, um das gelingende Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zu unterstützen, deren Teilhabe zu stärken, Kindeswohlgefährdungen möglichst entgegenzuwirken und natürlich auch die Eltern dort, wo notwendig, erfolgreich zu unterstützen. Es enthält Maßnahmen, mit denen die Staatsregierung weitere Voraussetzungen schafft, dezidiert zu agieren, Eltern in der Wahrnehmung ihrer Verantwortung für ihre Kinder zu unterstützen, die Bevölkerung für das Wohl der in ihrem Umfeld lebenden Kinder zu sensibilisieren, Fachkräfte, deren Arbeitsalltag auf Kinder ausgerichtet ist, über ihren Arbeitsbereich hinaus in Kinder- und Jugendschutzaufgaben einzubeziehen – ich nenne das Stichwort Schnittstellenproblematik – und Verantwortliche, deren Aufgabengebiet die Kinder- und Jugendarbeit betrifft, weiter zu stärken und zu unterstützen.
Dafür müssen die vorhandenen Strukturen genutzt und natürlich weiter ausgebaut werden. Auch an dieser Stelle wird deutlich, wie wichtig die Zusammenarbeit mit den Kommunen ist. Inzwischen gibt es Koordinatoren, die gemeinsam vom Freistaat und den Kommunen in den Gebietskörperschaften ihre Arbeit aufgenommen haben und in gewisser Weise auch als Moderatoren der heute schon viel zitierten Netzwerkarbeit zur Verfügung stehen.
Hierzu hat es eine grundsätzliche Abstimmung mit den kommunalen Verantwortungsträgern gegeben. Eine große Zustimmung und das gemeinsame Engagement einen uns hier bei der Wahrnehmung unserer gemeinsamen Verpflichtung.
Zur Unterstützung des zitierten Kinderschutzes in den zuständigen Jugendämtern haben wir – ich greife Schwerpunktaufgaben heraus – vorgesehen, dass in den regionalen Jugendämtern zweckgebundene Mittel für sogenannte aufsuchende Familienarbeit zur Verfügung stehen; Frau Herrmann, auch Sie haben darauf hingewiesen. Darüber hinaus wird derzeit geprüft, inwieweit eine verbesserte, optimierte Datenübertragung an die Jugendämter möglich ist, damit dem Jugendamt auch Fakten zur Verfügung stehen, auf deren Grundlage es realistisch möglich wird, frühe Hilfen und Unterstützung anzubieten.
Hilfreich ist auch die bereits erfolgte Gesetzesänderung zum Betretungsrecht für Mitarbeiter der Jugendämter bei Kindeswohlgefährdung.
Neben der Stärkung der Handlungsebene – auch das ist heute schon genannt worden – soll es zur Prüfung der Verbindlichkeit von Früherkennungsuntersuchungen kommen. Ich will es hier noch einmal deutlich auseinanderhalten, Herr Neubert: Es geht nicht allein um die Angebote zur Untersuchung im vierten Lebensjahr, sondern um die sogenannten U-Untersuchungen, die von Ihnen immer im gleichen Kontext mit Früherkennungsuntersuchungen im Rahmen des SGB V genannt werden. Das sind zwei verschiedene Dinge.
Als Antwort auf die Frage von Frau Schütz, ob es eine gesetzliche Verpflichtung zur Teilnahme geben könne, stelle ich fest: Es gibt haarscharfe Formulierungen, die eine Verfassungswidrigkeit nicht generell ausschließen. Deswegen sind wir zu diesem Thema in der Prüfung, ob ein Gesetzentwurf zur Erklärung der Verbindlichkeit eventuell möglich ist.
Neben den beschriebenen Maßnahmen zur Stärkung der Jugendämter konzentriert sich der Freistaat vor allem auf Maßnahmen des Zusammenwirkens verschiedener Partner innerhalb der Strukturen – Stichwort: soziale Frühwarnsysteme. Hier ist es in der Tat notwendig, eine übergreifende Weiterbildungskonstellation im Freistaat zu organisieren. Das wird in der Verantwortung des Freistaates gemeinsam mit der Landesärztekammer und der Kassenärztlichen Vereinigung derzeit vorbereitet.
Darüber hinaus gibt es das sogenannte Pro-Kind-Projekt, das über die Landesmodellprojekte aller Gebietskörperschaften noch einmal zusätzliche Wissens- und Erfahrungswerte zum Thema Frühprävention zur Verfügung stellt und natürlich auch für alle anderen Gebietskörperschaften in Auswertung der Erfahrungen von Gremien eine aktive Unterstützung darstellt.
Wir brauchen darüber hinaus ein landesweites Gremium, das alle Erfahrungen auswertet und alle Engagements in den Landkreisen bündelt. Es ist wünschenswert, dass die entsprechenden Erkenntnisse im Rahmen eines Berichterstattungswesens zum Austausch zur Verfügung gestellt werden; einen Landesfachausschuss für präventiven Kinderschutz werden wir in den nächsten Wochen einrichten.
Meine Damen und Herren! Ich habe versucht, in der Kürze der Zeit die wichtigsten Maßnahmen vorzustellen. Ich glaube auch nicht, dass es immer nur um ausführliche Debatten über mehrere Stunden gehen muss. Notwendig sind Handlungen und ein Agieren vor Ort – zum Wohle der Familien und der dort lebenden Kinder.
Lassen Sie mich am Ende noch sagen: In vielen Bereichen haben wir einen guten Stand erreicht. Die KitaBetreuung ist heute schon angesprochen worden. Ich verweise auch auf Familienbildung und Familienhilfe. Es
Gelingendes Aufwachsen eines Kindes beinhaltet die förderliche Erziehung und Bildung für einen guten Start in das Erwachsenenleben. Ich weiß aber auch, dass das gewünschte Ziel nur zu erreichen ist, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger für das Wohl der sie umgebenden Kinder mitverantwortlich fühlen. Wir alle sind gefordert; wir alle haben Kinder, auch wenn es nicht immer unsere eigenen sind.
Mit einer in diesem Monat anlaufenden Plakatkampagne soll aufgefordert werden, mehr hinzuschauen und hinzuhören, wie im privaten und öffentlichen Umfeld mit Kindern umgegangen wird. Gesundes Aufwachsen, Erziehung und Bildung unserer Kinder bedürfen nach wie vor des Einsatzes vieler.