Protocol of the Session on November 20, 2019

hend entstanden sind. Der Preis dafür war nicht niedrig. Erstens finanziell, denn man kalkuliert, dass der Aufbau Ost insgesamt circa 2 Billionen Euro gekostet hat. Das ist eine beachtliche Leistung. Ich möchte aber auch daran erinnern, dass der Preis für viele andere höher war. Die Ostdeutschen wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vertrieben. Die Deutschen in Mittel- und Ostdeutschland mussten viele Jahrzehnte Diktatur und Unrecht ertragen. Insofern, glaube ich, ist das eine Leistung, auf die wir alle stolz sein können, dass der Aufbau Ost gelungen ist.

(Beifall von der CDU und bei der SPD.)

Aber es betrifft eben auch den persönlichen und den gesellschaftlichen Bereich. Man kann trefflich darüber streiten, ob die Entwicklung der Treuhand oder auch die Währungs-, Wirtschafts-, und Sozialunion sinnvoll war, aber eines muss man klar sagen: Es gab zu dieser beispiellosen Aufbauleistung keine Alternativen. Die Produktivität in Mittel- und Ostdeutschland lag nämlich weit unter der in der Bundesrepublik. Die Kapitalstöcke der Unternehmen waren heruntergewirtschaftet, es gab Fehlallokationen aufgrund der jahrzehntelangen Misswirtschaft der SED. Insofern, hier die Schuld darin zu sehen, dass viel während der Einheit gemacht wurde, ist sicherlich falsch. Das Misslingen an manchen Stellen und die hohe Arbeitslosigkeit haben damit zu tun, dass über 40 Jahre lang Misswirtschaft getrieben und einfach über die Verhältnisse gelebt wurde.

Was aber auch bleibt - und das ist der Schluss zu uns im Saarland -, ist die Einsicht, dass es im Prozess einer ungeordneten Deindustrialisierung zu massiven Folgen kommt. Wir sehen das in den Vereinigten Staaten, dort, wo früher der sogenannte Industriegürtel in Michigan, Wisconsin und Pennsylvania gewesen ist, die sogenannte blaue Wand. In diesen Gegenden erreichten die Demokraten die besten Ergebnisse. Heute ist es die Hochburg von Trump und den Populisten. Gerade diese Gegend hat dazu beigetragen, dass Trump ins Amt kam. Dort, wo Lebenspläne und Lebensläufe abrupt enden und beendet werden, gewinnen die Populisten von links wie von rechts.

Daraus müssen wir lernen. Deswegen gilt auch, dass der Transformationsprozess, vor dem wir stehen, die enormen Herausforderungen für unsere Industrie sowohl im Autobereich als auch im Stahlund Roheisenbereich keine Aufgabe sind, die die Unternehmen alleine bewältigen können. Der Umbau der deutschen Roheisen- und Stahlproduktion zu einer CO2-ärmeren oder gar CO2-neutralen Produktion kann alleine aus Mitteln der Unternehmen

(Abg. Speicher (CDU) )

nicht getätigt werden. Es braucht hier Investitionssummen, die das übersteigen. Herr Hartmann von Saarstahl und Dillinger Hütte spricht von einer Größenordnung alleine für das Saarland von 2 bis 3 Milliarden Euro, für die gesamte deutsche Stahlindustrie von 30 Milliarden Euro.

Hier bedarf es der Unterstützung des Bundes, nicht weil wir in alte Muster der Achtziger- und Neunzigerjahre verfielen, in denen wir einfach gefordert haben, der Bund muss helfen, und wir tun nichts. Nein, es geht hier um zentrale Fragen. Es geht erstens darum, wie wir Schlüsselindustrien und Schlüsseltechnologien in Deutschland und Europa wettbewerblich im Vergleich zu staatlich gelenkten beziehungsweise staatlich massiv beeinflussten Volkswirtschaften behandeln, und zweitens darum, dass wir die uns selbst gesteckten Ziele im Bereich des Klimaschutzes erreichen, ohne dass es zu einem abrupten Ende der Industrie und Wirtschaft kommt. Deswegen ist es eine Aufgabe, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der wir als regionales Parlament sicherlich überfordert sind. Deswegen braucht es hier Antworten aus Brüssel und Berlin.

(Beifall von den Regierungsfraktionen.)

Das Nächste ist, es geht um gleichwertige Lebensverhältnisse, ein Begriff aus dem Grundgesetz. Peter Altmaier hat nicht nur den Begriff der Industriepolitik wieder in die öffentliche Debatte gebracht, er hat auch im Wahlprogramm der CDU dafür gesorgt, dass die gleichwertigen Lebensverhältnisse Teil des CDU-Wahlprogramms wurden und dass schließlich nach Aufnahme der Koalition von CDU/CSU und SPD auch die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ eingesetzt worden ist.

Als wir vor einigen Wochen als CDU-Landtagsfraktion auf Klausur in Berlin gewesen sind, haben wir auch gesehen, dass das, was wir als Saarland geleistet haben, als eigene Arbeit sehr wohl anerkannt wird. Die Bund-Länder-Finanzen, die Rückführung des strukturellen Defizits, auch die kommunale Teilentschuldung, die wir in der letzten Sitzung hier beschlossen haben, zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Aber jetzt sind wir an dem Punkt, wo wir auch Unterstützung aus dem Bund brauchen. Es braucht eine weitere kommunale Teilentschuldung mithilfe des Bundes. Allein das führt dazu, dass unsere Kommunen weiterhin überlebensfähig sind.

Dazu zählt der Bereich der Mobilität. Wir brauchen weiterhin eine gute Anbindung an den Fernverkehr. Hier muss vieles besser werden. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen erstens eine gesamtdeutsche Lösung für die kommunalen Altschulden und zweitens gezielte

Struktur- und Regionalpolitik für strukturschwache Regionen. Es braucht die weitere Ansiedlung von entsprechenden Institutionen und Behörden und wir brauchen einen gemeinsamen Kraftakt in Berlin und Brüssel für eine aktive Industriepolitik und einen geordneten Transformationsprozess für unsere deutsche und saarländische Industrie.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach 30 Jahren beziehungsweise einer Generation sei gesagt, die deutsche und europäische Einheit ist heute Realität. Wir leben in Frieden und Freiheit und müssen alles dafür tun, dass dies so bleibt. Aber einer Änderung bedarf es, nämlich die Struktur- und Regionalpolitik nach Himmelsrichtungen muss ein Ende haben. Es geht darum, dass den Regionen geholfen wird, die Hilfe notwendig haben. Dazu zählt das Saarland. Deswegen bitte ich Sie um Unterstützung für unseren Antrag. - Vielen Dank.

(Beifall von den Regierungsfraktionen.)

Vielen Dank. - Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Jochen Flackus von der Fraktion DIE LINKE.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Speicher, ich verstehe Ihr Anliegen. Ich glaube, ich habe es verstanden. Ich respektiere es auch zutiefst, aber Ihr Antrag als solcher bereitet mir einfach Verständigungsprobleme. Da geht es über die Themen Erinnerungskultur NS-Zeit, den Fall der Mauer, gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West, aktuelle Probleme an der Saar, die wir haben, bis hin zu dem obligatorischen Lob für die Landesregierung.

(Lachen bei der LINKEN.)

Insofern entstehen auch unterschiedliche politische Forderungen in Ihrem Antrag. Das macht es schwer, den Antrag insgesamt zu bewerten. Das macht es auch schwer, dem Antrag insgesamt zuzustimmen.

Gleichwohl sehe ich, wie Sie auch, richtige Einzelforderungen. Wichtig, glaube ich, ist vor allem dieser Begriff Erinnerungskultur, der auch derzeit von den Historikern sehr stark diskutiert wird. Erinnerungskultur halte ich für wichtiger denn je. Ich werde deshalb auch mit dem rechten Rand beginnen. Wir haben in Deutschland ja wieder offen mit Antisemitismus zu tun, Randale auf den Straßen von rechts. Deshalb ist es wichtig, immer wieder an die Reichspogromnacht, wie Sie sie richtig auch genannt ha

(Abg. Speicher (CDU) )

ben, zu erinnern. Das wird ja auch verklärt, schon der Begriff „Kristallnacht“ ist falsch.

Sie haben das Beispiel aus Saarlouis gebracht. Ich wollte in diesem Kontext einmal aus dem Saarland erwähnen, dass die Synagoge in St. Wendel in dieser Nacht am 09. November abgebrannt worden ist. Es wurde geschändet und geplündert wie in Saarlouis auch und Hunderte Schaulustige haben zugesehen. Die Feuerwehr hat nichts getan, um den Brand zu löschen und die Gemeinde hat am Ende für kleines Geld der jüdischen Gemeinde das Grundstück mit dem abgebrannten Gebäude abgekauft. Das sind Dinge - das gilt ja auch für uns hier ganz besonders -, die wir nicht vergessen dürfen, obwohl der Begriff Erinnerungskultur für mich eine sehr starke Rolle spielt und sehr manifest und greifbar ist.

Deshalb ist auch richtig, an den Mauerfall zu erinnern. Ich bin in einem Alter, in dem man persönliche Erinnerungen hat. Meine Generation hat die DDR sozusagen live erlebt. Aber Sie haben ja auch daran erinnert, dass 25 Prozent der Deutschen erst nach 1990 geboren sind. Da gilt das Wort Erinnerungskultur für mich sehr stark. Diese Menschen haben vielleicht keine Bilder und Erinnerungen an diesen Abend oder an diese Zeit oder an die politischen Implikationen. Ich gestehe offen, dass meine Generation damals ja ganz anders mit der DDR umgegangen ist. Wir haben dieses Bild der Wiedervereinigung. Ich bin damals in der SPD gewesen. Die SPD hatte Willy Brandt und Herbert Wehner, die die Einheit immer noch vor Augen hatten. Das war für die JusoGeneration eigentlich nur ein rudimentäres Thema. Deshalb ist es wichtig, diese Bilder zu behalten. Es war eben eine in der deutschen Geschichte beispiellose Demokratiebewegung. Und sie war geprägt von Hoffnung und Zuversicht auf das, was kommen sollte.

Aber - das gehört für mich auch zur historischen Wahrheit und auch zur Erinnerungskultur - es war nach dem Aufbruch in den Neunzigerjahren eine Bewegung, die Enttäuschungen hinnehmen musste und die viele Ohnmachtserfahrungen hatte, wie wir auch aus den Veröffentlichungen von vielen damaligen Zeitzeugen im Nachhinein wissen. Das betrifft vor allem die Bürgerrechtsbewegung, die es damals gab. Ich nenne nur einmal ein paar Namen: Katja Havemann, Jens Reich, Bärbel Bohley. Die Älteren unter uns erinnern sich. Die hatten vor allem eines, nämlich andere Vorstellungen im ökonomischen Bereich. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Im Gründungsaufruf vom Neuen Forum - das möchte ich gerne kurz zitieren - stand: „Auf der einen Seite wünschen wir uns eine Erweiterung des Warenangebots und bessere Versorgung, andererseits sehen

wir deren soziale und ökologische Kosten und plädieren für die Abkehr vom ungehemmten Wachstum.“ Ein Satz, den viele von uns heute hier auch unterstreichen würden. Oder: „Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Entartung in die Ellenbogengesellschaft (…)“

Wenn man das heute, 30 Jahre nach dem Mauerfall, liest und sich vergegenwärtigt, dann muss man einfach sagen, diese mutigen Bürgerrechtler waren die ersten Verlierer der Wende. Nachher hat es noch viele andere gegeben. Aber sie waren zumindest nach dem, was sie sich vorgestellt haben, die ersten Verlierer. Auch sie dürfen wir nicht vergessen. Ich plädiere sehr stark für Ihre Maßnahmen, in den Schulen, in den sozialen Einrichtungen Erinnerungskultur zu betreiben. Das unterstreiche ich dreimal. Aber auch diese Leerstellen müssen in diese Erinnerungskultur nach meiner Meinung mit einbezogen werden.

(Beifall von der LINKEN.)

Lehrreich für das politische Erinnern ist auch das Verhalten der Treuhand. Sie haben es angesprochen. Sie haben gesagt, man kann trefflich darüber streiten. Da könnten wir beide jetzt trefflich darüber streiten. Das Credo dieser Treuhand war eben Privatisierung ganzer Industriezweige und nicht, obwohl es im Treuhandgesetz damals so stand, auch Sanierung und Erhaltung von Industriezweigen. Da kann man sagen, die waren sowieso alle reif. Aber wie gesagt, das Credo war Privatisierung ganzer Industriezweige.

Interessanterweise habe ich in Vorbereitung dieser Sitzung Eberhard Diepgen gelesen. Er hat sich im ZEIT-Magazin geäußert und genau das kritisiert. Er hat gesagt, das war einfach nicht in Ordnung, dass man die Privatisierung so überbetont hat. Für Aldi und seine Freunde war das klar. Das war ein nettes Konsumgebiet, das man sehr schnell zusätzlich erschließen konnte und wo fröhliche Konsumenten gewartet haben, um die Produkte zu nehmen.

Und heute? - Sie haben die blühenden Landschaften erwähnt. Ich würde sogar mitgehen. In den Metropolen, in den neuen Bundesländern, gibt es blühende Landschaften, aber es gibt wie im Westen auch ganze Landstriche, die abgehängt sind, und die Menschen dort sind frustriert und sauer. Wenn man sich nur zwei Zahlen vergegenwärtigt, versteht man es. Das Bruttoinlandsprodukt der neuen Bundesländer liegt bei 73 Prozent der westlichen Bundesländer, das ist einfach so, und die Löhne sind nur bei 85 Prozent. Wir haben heute schon über die Löhne diskutiert. Sie sind uns hier im Saarland auch schon zu niedrig, das heißt also, das Delta wird im

(Abg. Flackus (DIE LINKE) )

mer größer. Ich glaube, alle bis auf eine Partei hier im Raum müssen hinnehmen, dass die Ergebnisse bei den letzten Wahlen uns dafür irgendwo bestrafen und dass es gute Ergebnisse für rechte Parteien gegeben hat. Ich darf noch einmal Eberhard Diepgen zitieren. Er hat gesagt: „Das Credo ‚Aufbau Ost vor Aufbau West‘ hat zu einem erheblichen Nachholbedarf im Westen Deutschlands (…) geführt.“

Damit bin ich bei einem Punkt, den ich richtig finde und den auch mein Vorredner erwähnt hat. Das Saarland verlangt jetzt quasi Solidarität auch der neuen Länder. Wir haben in der Debatte über den Saarland-Pakt ja gesagt, dass die Sachsen die Beteiligung an der Altschuldenregelung offen kritisiert haben. Ich halte das für völlig unsolidarisch und für nicht hinnehmbar. Wir sagen auch, wir brauchen mehr Engagement vom Bund. Gleiche Lebensverhältnisse kann man eben nicht nur auf Papier und ins Grundgesetz schreiben, man muss sie auch leben. Es ist auch keine Einbahnstraße. Ich rate aber heute war das in der Zeitung für mich zumindest ansatzweise zu lesen - zu mehr Selbstbewusstsein der saarländischen Politik. Wenn ich in Ihrem Antrag lese, man müsste beim Bund und in Brüssel für die saarländischen Positionen werben, dann glaube ich, mit Verlaub, dass das zu wenig ist.

Vor dem Hintergrund unserer eigenen ökonomischen Entwicklung und den gestern publizierten Arbeitsplatzverlusten in der produzierenden Industrie von etwa 3.000, müssen wir jetzt handeln. Der Bund muss jetzt handeln. Wenn das solidarische Prinzip gilt, dann gilt es jetzt und nicht irgendwann. Man kann auch nicht nur dafür werben, sondern es muss jetzt kommen. Ich möchte betonen, dass dies auch für unsere drei Bundesminister gilt. Auch da entsteht aufseiten der regierenden Parteien mehr Druck und dieser ist auch dringend notwendig. Frau KrampKarrenbauer, Herr Altmaier und Herr Maas, liefern Sie endlich, das Land braucht die Unterstützung! Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der LINKEN.)

Vielen Dank. - Das Wort hat nun der Abgeordnete Jürgen Renner von der SPD-Landtagsfraktion.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war Anfang bis Mitte der Achtzigerjahre, als ich mich als Jugendlicher gemeinsam mit einer Bekannten aufgemacht habe, von Würzburg aus, der Heimatstadt meiner Mutter, auf eine Reise nach Dresden, um

dort Freunde meiner Eltern zu besuchen. Wir fuhren mit dem Zug über Hof in die DDR ein, um von dort nach Dresden zu kommen. Obwohl es eine Reise von Deutschland nach Deutschland war, war es doch eine Reise in ein anderes Land. Die Landschaft veränderte sich nur unmerklich während der Zugfahrt, aber die Bahnhöfe und die Ortschaften, die vorbeiflogen, waren grau und braun und heruntergekommen. Der Zug rüttelte erheblich in den Gleisen und Mitreisende aus der DDR sagten uns, das sei der Schienenersatzverkehr. Den Gag habe ich erst gar nicht bemerkt, ehrlich gesagt, aber ich wundere mich in der Rückschau doch etwas, denn mittlerweile ist im Westen das Wort Schienenersatzverkehr auch angekommen und gängige Praxis. Den Sarkasmus habe ich damals aber nicht wahrgenommen.

Die Ankunft in Dresden war für mich ein Kulturschock. Der Bahnhof und die Gebäude drumherum waren schwarz verrußt, die Menschen hatten sich in ihrer Kleidung farblich irgendwie angepasst und auf den Straßen fuhren komische Spielzeugautos. So kam es mir jedenfalls vor. Die Luft roch nach den Abgasen der Zweitakter. Überall waren Parolen der SED. Ich erinnere mich noch ganz genau an ein Geschäft mit der Aufschrift „Frischfisch“, in der Auslage waren kaum mehr als zehn Dosen Fischkonserven. Unsere Bekannten waren Deutsche, sie sprachen Deutsch, wenn auch mit strengem sächsischen Dialekt, trotzdem war irgendwie alles anders.

Wir fuhren an den Stadtrand ins Wochenendhaus. Ich lernte neue Leute kennen, wir besuchten die Sehenswürdigkeiten, die Kreuzkirche, den Zwinger, auch die Trümmer der Frauenkirche, wir grillten mit Nachbarn und Freunden. Jeder brachte mit, was er hatte. Wenn etwas gefehlt hat, hat man es noch schnell organisiert, wie man damals sagte. Politik allerdings, und die interessierte mich ja, war in den Gesprächen kaum ein Thema und wenn, dann nur in Form von Witzen, die ich nicht verstand.

Im Prinzip waren das schöne Tage, wenn mich auch hin und wieder ein komisches Unbehagen überkam. Ich konnte aber einfach nicht greifen, was das war, erst bei der Rückreise am Dresdner Hauptbahnhof. Wir hatten uns bedankt und verabschiedet, standen im Zug am Fenster und winkten. Unsere Freunde standen am Bahnsteig und winkten, aber sie waren gar nicht fröhlich, sondern bei ihnen kamen die Tränen. Da war mir klar, woher das Unbehagen kam. Wir konnten das tun, was ihnen versagt war. Wir fuhren, sie blieben, sie mussten bleiben. Es war vor allem anderen die Freiheit, die Freizügigkeit, die ihnen verwehrt blieb. Der DDR-Staat hatte seine Bürger eingesperrt.

(Abg. Flackus (DIE LINKE) )

Warum erzähle ich das? - Erstens weil es vor allem Geschichten sind, die Geschichte erzählen. Zweitens weil ich damals kein Verständnis für die deutsch-deutsche Geschichte hatte, wie man das nannte. - Wie auch? Nach meiner Erinnerung ging es in der Schule, in den Nachrichten, im Fernsehen damals nur selten um die Menschen und ihre Lebensbedingungen, um ihre Erfahrungen und Erlebnisse in der DDR. Es ging allzu oft um die Erzählung von Systemen, nicht von Menschen, nicht um den Alltag in der kommunistischen Diktatur. Es ging um soziale Marktwirtschaft versus kommunistische Planwirtschaft, Demokratie versus Diktatur, West gegen Ost, wir gegen die, gut gegen böse. Wenn man sich hier im Westen politisch engagierte und sich für eine Verbesserung der Verhältnisse in der westdeutschen Republik einsetzte, für Frieden und Gerechtigkeit, die großen Fragen dieser Zeit, hieß es nicht selten: Dann geh doch rüber!

Die Geschichten von Gängelung, staatlicher Willkür, Verfolgung und Inhaftierung Andersdenkender, die Geschichten von gescheiterten Fluchtversuchen erschlossen sich mir jedenfalls erst, als ich ab 1989 in meinem Beruf Anträge auf Anerkennung politisch Verfolgter des DDR-Regimes zu bearbeiten hatte. So war und ist es für mich auch im Nachhinein gar nicht überraschend, dass viele Westbürger in den Demonstrationen und dem Aufbegehren der DDRBevölkerung vor allem eine Freiheitsbewegung sahen, das Streben nach persönlicher Freiheit, nach Reisefreiheit und nach einer Demokratisierung der DDR. Sie begleiteten das durchaus positiv, übersahen aber, dass dieser zweite deutsche Staat ein Zwangsstaat war, der unter den Bedingungen einer freiheitlichen Republik nicht überleben konnte. Damit stand aber die Frage nach der Herstellung der staatlichen Einheit plötzlich auf der Tagesordnung. Zwang, Verfolgung, Stacheldraht und Mauer waren konstitutive Merkmale für die Existenz der DDR. Mit dem Tag, als die Deutschen der DDR diese Mauer und die Grenzen überwanden, am 09. November 1989, wurde diesem Staat faktisch die Existenzberechtigung entzogen.

Ich erzähle diese Geschichten aus persönlicher Sicht auch, weil die alte Bundesrepublik den DDRBürgern ein Versprechen abgegeben hatte, das sie in der Folge der Ereignisse des 09.11.1989 nur bedingt eingehalten hat. Das Versprechen lautete: Wenn ihr Ostbürger euch vom Joch der kommunistischen Diktatur befreit, dann wird es euch besser gehen, dann gehen wir gemeinsam einen Weg jenseits von sozialistischer Zwangswirtschaft und jenseits von kapitalistischer Ausbeutung. Aus der Sicht vieler Bürgerinnen und Bürger - Herr Flackus hat das eben

angesprochen - wurde dieses gegebene Wort bis heute nicht eingelöst. Der sächsische Ministerpräsident Kretschmer hat vor Kurzem im Deutschen Bundestag darauf hingewiesen, dass im Zuge der Einheit rund 90 Prozent aller Arbeitnehmer im Osten sich einen neuen Arbeitsplatz suchen mussten. 90 Prozent! Was das für den Zusammenhalt in einer Gesellschaft und für das Miteinander heißt, kann man nur erahnen. Man kann nur erahnen, dass das schwierige Zeiten waren und teilweise auch noch sind. Wir wissen, bei Weitem haben nicht alle einen neuen Arbeitsplatz gefunden. In den Umbrüchen dieser Zeit wurden auch Existenzen infrage gestellt und gefährdet. Auch das ist eine Lehre aus der deutschen Geschichte. Die Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben braucht die Freiheit von sozialer Not.

(Beifall von den Regierungsfraktionen.)

Die zunehmende Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Bereiche und die damit einhergehende Kluft zwischen Armut und Reichtum mit all ihren Folgen gehen an den Menschen nicht spurlos vorüber. Sie wirken sich auf die Zukunftschancen jedes Einzelnen aus. Das gilt im nationalen Maßstab, das gilt aber auch im europäischen Maßstab - denken wir an die Folgen der Bankenkrise -, das gilt natürlich auch im globalen Maßstab, wenn es um die Gestaltung globaler Beziehungen und Handelsbeziehungen geht.

Wenn wir der friedlichen Revolution von 1989 gedenken wollen, dann gehört dazu, dass wir diese gravierenden und rasanten Entwicklungen reflektieren, denn sie dürfen nicht zur Abspaltung und zum Ausschluss an der Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und zur Desorientierung in einer komplexer gewordenen Welt führen. Es geht um grundlegende Veränderungen, die die Menschen in ihrem Dasein betreffen, um Identitätsprobleme und um Verhaltensweisen im Denken und Handeln. Manche Transformationsprozesse, die sich jetzt am Horizont ankündigen oder in denen wir schon drin stecken Stichwort Digitalisierung -, zeigen, dass es weitergeht. Wir müssen darauf achten, dass Menschen nicht von der Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen ausgeschlossen werden.

(Beifall von den Regierungsfraktionen.)