Protocol of the Session on September 21, 2017

Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich konnte gestern lesen, dass die AfD von sich behauptet, sie habe die Sommerpause gut genutzt, sie sei jetzt voll im Saft und die parlamen

tarische Arbeit könne jetzt beginnen. Sie haben heute eindrucksvoll unter Beweis gestellt, und zwar öffentlich und für jeden nachvollziehbar, von welchem Schlag diese Fraktion tatsächlich ist.

(Vereinzelter Beifall FDP)

Sie haben nämlich nicht gegen europäische Regularien argumentiert, sondern Sie haben im Endeffekt gegen Menschen argumentiert, und das ist wirklich allerunterste Schublade.

(Beifall FDP, CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Ich kann das so nicht ertragen, deswegen muss ich noch einmal ans Redepult treten.

Ich möchte Ihnen mitgeben, warum ich in die Politik gegangen bin; vielleicht möchten Sie sich dann mein Konterfei ausdrucken, um es an eine Dartscheibe zu heften. Ich bin vor knapp zehn Jahren den Jungen Liberalen und später der FDP beigetreten, weil ich persönlich ein politisches Ziel habe, nämlich irgendwann in einem europäischen Bundesstaat zu leben, also dass Deutschland, wie Sie es gerade gesagt haben, langfristig in der Europäischen Union aufgeht. Das ist das Ziel, weswegen ich in die Politik gegangen bin. Nach Ihren Ausführungen kann ich mir vorstellen, dass das für Sie das Schlimmste der Welt ist; das ist für mich aber ertragbar.

(Vereinzelter Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Dafür stehen viele junge Menschen tatsächlich ebenso ein. Sie sehen sich nicht primär als Deutsche, sondern als Europäer oder auch als Schleswig-Holsteiner; das ist jedem unbenommen. Es gibt viele, vor allen Dingen junge Menschen, die an Europa glauben. Sie glauben aber nicht an Pizzarezepte oder an Bier; wobei das deutsche Reinheitsgebot eine hohe Akzeptanz hat, auch bei jüngeren Menschen, das weiß ich.

Uns lagen zum Thema Europa zwei Anträge vor, die teilweise sehr unterschiedlich sind. Daran müssen wir arbeiten. Aber das Thema Abschottung auf die Tagesordnung zu setzen und das Thema Europa gegen das Thema Menschen auszuspielen, das finde ich absolut nicht in Ordnung. Das kann ich so nicht stehen lassen. Danke dafür, dass Sie der schleswigholsteinischen Bevölkerung so klar und prägnant aufgezeigt haben, von welchem Schlag Sie sind.

(Beifall FDP, vereinzelt CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

(Dr. Kai Dolgner)

Ich erteile das Wort der Abgeordneten Doris von Sayn-Wittgenstein von der AfD-Fraktion.

Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen Kollegen! Da wir von Solidarität sprechen: Wir haben offensichtlich verschiedene Vorstellungen, was Solidarität bedeutet.

(Tobias Koch [CDU]: Möglicherweise!)

Solidarität bedeutet in erster Linie nicht Vergemeinschaftung von Schulden und Selbstaufgabe. Wofür wir in der AfD stehen, ist das völkerrechtliche Recht auf Selbstbestimmung unseres Volkes. Jawohl, und ich benutze diesen Ausdruck mit Bedacht.

Sie kommen gerne mit wohlfeilen Argumenten und mit Vorwürfen hinsichtlich Hass und Rassismus. Aber vergessen Sie bitte nicht: Wenn Sie mit einem Finger auf uns zeigen, dann zeigen drei auf Sie zurück. - Vielen Dank.

(Zurufe SPD: Da klatscht ja nicht einmal die eigene Fraktion! - Weitere Zurufe SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Hartmut Hamerich von der CDU-Fraktion.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Namen der CDU-Fraktion distanziere ich mich ganz deutlich von den menschenverachtenden, nationalistisch geprägten Ausführungen des Vorsitzenden der AfD-Fraktion.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Herr Nobis, ich sage Ihnen eines: Wenn Sie als Schiffselektroniker und Nautiker mit Ihrem AfDRuderboot irgendwann in Seenot geraten, selbst Sie würde ich noch retten.

(Vereinzelter Beifall CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn man hier Geschichtsklitterung betreibt, muss man sich auch darüber im Klaren sein, welche Auswirkungen das haben kann. Der Brexit hat überhaupt nichts, rein gar nichts mit der Flüchtlingskrise zu tun. Der Brexit ist durch ein Referendum ent

standen, das Cameron seiner Bevölkerung in Erwartung eines guten Wahlergebnisses zugesagt hat. Ich muss eingestehen, dass Cameron ein Tory ist und dass das nicht die klügste Entscheidung war. Das Ergebnis ist zustande gekommen, weil altnationale Briten für den Brexit gestimmt haben, aber junge Menschen in Großbritannien leider nicht am Referendum teilgenommen haben, um für „Remain“ zu stimmen. Das sollte man nicht einfach verleugnen.

Fahren Sie einmal nach Großbritannien, dann merken Sie, wie viele Nationalitäten dort leben. Die Problematik, die wir durch die Flüchtlinge bei uns in Europa haben, ist doch die, dass sich die 28 EUStaaten mehrheitlich der Lösung des Flüchtlingsproblems entzogen haben.

(Zuruf: So ist das!)

Deutschland und auch Schweden, Dänemark und andere Länder haben eine Menge geleistet. Ich empfehle, Ihnen Revue passieren zu lassen, was im Dschungel von Calais passiert ist: wie die Menschen dort hausen mussten, dass sich europäische Staaten einfach der Situation gegenüber verweigert haben. Ich empfinde es als großartige Leistung, was Deutschland geschafft hat. Ich bedanke mich bei allen, die daran beteiligt waren.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP, SSW und Doris Fürstin von Sayn-Wittgenstein [AfD])

Weitere Wortmeldungen aus dem Parlament liegen vor. Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Jörg Nobis von der AfD-Fraktion.

(Zuruf: Oh! Noch eine Ladung Schwefel!)

Ich habe doch nur die Probleme benannt, die es in Europa gibt. Sie können die Augen vor den Problemen verschließen, aber die Probleme gehen nicht weg, wenn Sie die Augen zumachen und sagen, alles geht weiter so.

Schengen ist nicht einfach irgendwo, Schengen findet de facto nicht statt. Ich sage es noch einmal: Ein Sozialstaat ohne Grenzen ist wie Heizen mit offenen Fenstern. Wenn Sie so weitermachen, dann führen Sie den deutschen Sozialstaat zum Schafott. - Vielen Dank.

(Beifall AfD)

Im Übrigen gehört es sich, das Präsidium anzusprechen. - Weitere Wortmeldungen aus dem Parlament liegen nicht mehr vor.

Ich erteile das Wort der Ministerin für Justiz, Europa, Verbraucherschutz und Gleichstellung, Dr. Sabine Sütterlin-Waack.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Die große Mehrheit in diesem Haus - das hat sich auch heute gezeigt - ist sich einig: Ja, wir brauchen ein solidarisches Europa.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Ich füge hinzu: Dazu brauchen wir eine starke, handlungsfähige und einige Europäische Union.

(Jette Waldinger-Thiering [SSW]: Und keine AfD!)

In unserem Koalitionsvertrag haben wir uns darauf verständigt, den weiteren Integrationsprozess zu unterstützen und uns für eine demokratischere, sozialere und bürgernähere Europäische Union einzusetzen. Das schließt auch die institutionellen Veränderungen für mehr Transparenz und Effizienz in der EU mit ein.

Aber machen wir uns nichts vor: Institutionen werden nicht per se geliebt. Für ein starkes Europa und dessen Akzeptanz braucht es deshalb zweierlei: erstens Ergebnisse, die deutlich machen, dass die Europäische Union dort besser liefern kann, wo ein Nationalstaat allein Herausforderungen nicht bewältigen kann. Dazu gehört auch, vor Ort die Ehrlichkeit zu haben und zu sagen, dass die gefundene Lösung eine europäische Lösung ist.

Und zweitens den Willen der EU-Mitgliedstaaten zu Kompromissen, die widerstreitenden Interessen zu einen. Dies ist eines der Hauptprobleme. Einige Mitgliedstaaten stehen zu sehr auf der europäischen Bremse.

Während der Banken- und Finanzkrise stand Europa am Abgrund. Die großen Flüchtlingsströme nach Europa führten zu nationalen Eigensinnigkeiten in vielen Mitgliedstaaten. Populistische und nationalistische Bewegungen gewannen in vielen Mitgliedstaaten starken Zuspruch. „Europa schafft sich ab!“ oder „Ist Europa noch zu retten?“ lauteten die Schlagzeilen. Und heute? Die Folgen der Finanzmarktkrise sind noch nicht ganz verdaut. Die Wirt

schaft in weiten Teilen Europas erholt sich langsam wieder, doch die Jugendarbeitslosigkeit im Süden Europas ist immer noch viel zu hoch.

Der Ausgang des Brexit-Referendums im Juni 2016 hat anfangs viele Mitgliedstaaten verstört. Jetzt ist aber zu bemerken, dass die EU der 27 wieder stärker zusammenrückt. Emmanuel Macron hat im Mai gezeigt, dass auch mit proeuropäischer Politik Wahlsiege gegen Populisten möglich sind.

(Beifall CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)

Meine Damen und Herren, das trug auch dazu bei, den Schock zu überwinden, den Donald Trump mit seinem Mantra „America first“ ausgelöst hatte. Das ist für mich genug Anlass, um nicht in den Trauerchor jener miteinzufallen, die sich schon bereit machen, an Europas Grab zu stehen.

Blicken wir voraus: Die nächsten beiden Jahre werden grundlegende Entscheidungen erfordern. Die Frage, ob es in den Brexit-Verhandlungen gelingt, bis Ende 2019 verträgliche Ergebnisse zu erzielen, oder ob es zum großen Knall zwischen der EU der 27 und Großbritannien kommt, ist weiterhin offen.

Vor der Sommerpause 2018 wird die Europäische Kommission ihren Entwurf für die Finanzausstattung und Ausgabenschwerpunkte der EU-Haushalte nach 2020 vorlegen, den sogenannten mehrjährigen Finanzrahmen. Im Vorgriff darauf hat Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März ein Weißbuch zur Zukunft der EU vorgelegt. Es weist auf die Herausforderungen hin, auf die die EU nach 2020 Antworten finden muss. Die Stichworte sind: Klimaschutz, Migration, Digitalisierung, demografischer Wandel, innere und äußere Sicherheit einschließlich der Bekämpfung von Cyber-Angriffen und Terrorismusbekämpfung.

Das alles wird viel Geld kosten. Das Ende Juni vorgelegte „Reflexionspapier über die Zukunft der EUFinanzen“ der Kommission bringt es auf den Punkt: Dies erfordert über das durch den Wegfall des Nettozahlers Großbritannien bedingte Haushaltsloch von jährlich mindestens 10 Milliarden € hinaus entweder höhere Einnahmen für die EU oder aber Einsparungen. Das Reflexionspapier nennt hier die EU-Struktur- und Investitionsfonds und die gemeinsame Agrarpolitik.