Protocol of the Session on September 26, 2019

(Beifall FDP, CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Man darf nicht vergessen: Etwas später - Ende 1989, Anfang 1990 - haben die Bürgerrechtler die Stasi-Einrichtungen, unter anderem in der Normannenstraße in Berlin, gestürmt. Das hat dazu geführt, dass nach der Einheit eine Behörde gegründet werden konnte, die die meisten Deutschen noch heute als Gauck-Behörde kennen und die sehr viel zur Aufarbeitung der SED-Diktatur beigetragen hat und weiterhin beiträgt. Hätten die Menschen damals nicht die Stasi-Einrichtungen gestürmt, wären die Akten wahrscheinlich alle vernichtet worden.

(Werner Kalinka [CDU]: So ist es!)

Das war ein weiterer, mutiger und wichtiger Schritt zur Aufarbeitung der DDR.

(Beifall FDP, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Stefan Weber [SPD])

Allen Versuchen, die es leider gibt, diese Behörde zurückzudrängen, in Richtung Abwicklung zu bewegen oder die Gedenkstätten einzuschränken - gerade in Berlin -, sollten wir uns entschieden und geschlossen entgegenstellen.

(Beifall FDP, CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SSW und Dr. Frank Brodehl [AfD])

Ich war damals erst fünf beziehungsweise sechs Jahre alt. Ich kann mich allerdings noch gut an die Wendezeit erinnern, natürlich auch wegen der familiären Verbindungen. Ich komme aus dem Herzogtum Lauenburg. Wenige Tage nach dem Fall der Mauer in Berlin stand ich mit meiner Familie an einer Straße im lauenburgischen Mustin, wo die Grenze geöffnet wurde. Ich kann mich noch gut erinnern, wie Zigtausende Menschen bei Kälte stundenlang aufeinander gewartet haben. Diese Begeisterung und Freude habe ich danach kaum noch einmal bei einer so großen Menschenmasse gesehen. Die Menschen konnten es gar nicht glauben. Die Bilder von der gestürmten Mauer in Berlin, von der Grenzöffnung in Mustin oder auch von den Flüchtlingen in der Prager Botschaft berühren mich bis heute, wenn ich sie sehe.

(Beifall FDP, CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SSW und Volker Schnurrbusch [AfD])

Die jahrzehntelange Teilung war die Folge eines von unserem Volk verursachten, unfassbar grausamen Weltkrieges, in dem wir sehr viel Schuld auf uns geladen haben. Mit der Wiedervereinigung 1990 hatten wir Deutsche sehr großes Glück. Die Revolution in der DDR war ein mittelschweres Wunder, insbesondere, wie sie abgelaufen ist. Der Ostblock war wirtschaftlich schlichtweg am Ende. Der Wirtschaftseinbruch kam ja nicht nach 1990, sondern war schon lange vorher da. Der Ostblock war ökonomisch am Ende. Wenn es aber in der Sowjetunion nicht besondere Reformer wie Michail Gorbatschow gegeben hätte, wäre es mit Sicherheit nicht unblutig ausgegangen. Die Truppen sind weitestgehend in den Kasernen geblieben, weil zum Glück aus Moskau die entsprechende Ansage kam. Wäre das nicht geschehen, wäre es eine blutige Revolution geworden. Das sollte vielleicht an diesem Tag auch erwähnt werden.

(Werner Kalinka [CDU]: So ist es! - Beifall FDP, CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Auch die Amerikaner haben sehr viel für uns getan, damit es zur schnellen Wiedervereinigung kommen konnte. Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher wurden unterstützt, die Franzosen und Briten wurden überzeugt.

Seit der Wende ist unglaublich viel Positives passiert. Ob man nun Ossi oder Wessi ist, spielt zum

(Christopher Vogt)

Glück eine immer geringere Rolle. Die Westdeutschen haben sehr viel Solidarität beim Aufbau im Osten gezeigt. Es gibt aber im Osten auch viel Unmut, Frust und Enttäuschung. Häufig wird das Verständnis aus Westdeutschland für die eigene Lebensleistung vermisst. Wir müssen, so glaube ich, zur Kenntnis nehmen, dass die jahrzehntelange Teilung in verschiedene Systeme tiefere Prägungen bei den Menschen hinterlassen hat, als wir es uns vorgestellt haben - übrigens auch bei Menschen, die erst nach der Wende geboren wurden. Auch dort gibt es immer noch unterschiedliche Ansichten zwischen Ost und West. Ich glaube, wir müssen mehr ins Gespräch kommen. Es wurde schon gesagt: Wenn bislang nicht 20 % der Westdeutschen in Ostdeutschland waren, so ist das wirklich unglaublich. Deshalb brauchen wir mehr Austausch, mehr Begegnung, mehr Verständnis und auch mehr Diskurs untereinander.

(Beifall Andrea Tschacher [CDU])

Ich halte es für ein Problem, wenn bei den Landtagswahlen im Osten viele Ostdeutsche sagen: Wir haben das Gefühl, dass wir unsere Meinung nicht äußern dürfen. - Das halte ich für ein großes Problem. Für noch problematischer halte ich es aber deshalb brauchen wir mehr Diskursfähigkeit -, wenn aus der AfD-Ecke eine Gleichstellung der Bundesregierung mit dem SED-Regime erfolgt. Das ist eine Verhöhnung der Opfer des SED-Regimes. Ich finde das unglaublich.

(Beifall FDP, CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Ich freue mich auf das Bürgerfest zum Tag der Deutschen Einheit in Kiel. Ich freue mich, dass Ralf Stegner demnächst am Einheitsbuddeln teilnehmen wird.

(Beifall FDP)

Ich freue mich über den gemeinsamen Antrag „Mut verbindet“. Ich finde, ein besseres Motto kann es nicht geben. - Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall FDP, CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Für die Abgeordneten des SSW hat der Vorsitzende, Lars Harms, das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zum Thema Erinnerungskultur und würdi

gem Gedenken empfehle ich ein Gedicht aus dem Jahr 1974 von Günter Kunert: „Vom Vergehen“. Dort heißt es am Schluss:

„In den Träumen Der noch Niedergedrückten und in den Gedanken der bereits Aufrührerischen, wie In den Taten der sich schon Erhebenden Findet ihr, was Von uns bleibt.“

Der am Sonnabend verstorbene Günter Kunert wusste, was undemokratische Zustände in den Seelen der Menschen anrichten. Er musste ein paar Jahre nach diesem Gedicht die DDR verlassen, weil er die Ausbürgerung Wolf Biermanns kritisiert hatte. In Schleswig-Holstein fand er ein neues Zuhause.

Die Taten der Menschen, die sich in der DDR bei vielen Demonstrationen versammelten und letztlich das Regime in die Knie zwangen, werden bleiben. Der Mut der Frauen und Männer hat Großes bewegt: ein System zum Einsturz gebracht und eine neue Demokratie errichtet. Dieser Mut war riesig, denn schließlich hatte erst Monate vorher ein anderes kommunistisches Regime eine Protestbewegung blutig zerschlagen. Was auf dem Platz des Himmlischen Friedens passiert war, war den Demonstranten in Leipzig, Berlin, Rostock und anderswo durchaus bewusst. Der Leidensdruck war aber einfach stärker, der Mut größer. Wie Kunert schrieb: Was bleibt, sind die Taten.

Eine abschließende Wertung der Wende kann aber auch fast eine Generation nach den Ereignissen nicht gelingen. Ich würde sogar sagen, dass sie sich verbietet. Gerade in der lebendigen und aktuellen Neubetrachtung liegt doch der Ertrag einer Auseinandersetzung mit dem, was 1989 möglich wurde. Als Politikerinnen und Politiker sollten wir uns aber davor hüten, einen Erinnerungsmaßstab quasi vorgeben zu wollen. Junge Menschen stellen andere Fragen an die Geschehnisse als wir Zeitzeugen. Darum ist es so wichtig, keinen Schlussstrich zu ziehen, sondern die Ereignisse laufend in einen neuen, aktuellen Bezug zu stellen.

Das kann zusammen mit Schülerinnen und Schülern besonders gut gelingen, zum Beispiel durch einen Schülertag oder lebensnahe Projekte oder andere Vorhaben. Die Beschäftigung mit den Motiven der Bürgerbewegung, den Ängsten der Demonstranten und den Debatten in den Familien ist eben nicht Sache einiger Fachleute der Geschichtswissenschaft, sondern da sind wir alle gefragt. Was hast du gemacht, als die Menschen im Osten auf die

(Christopher Vogt)

Straßen gingen? - Das ist die Frage, die in unseren westdeutschen Familien gestellt wird. Dabei geht es nicht um die tatsächliche Verortung, sondern darum, was man sich damals wohl gedacht hat. Viele Menschen hatten die Hoffnung auf ein gemeinsames Deutschland schon lange aufgegeben.

In einigen politischen Bereichen war der Verweis auf die Deutschen hinter Stacheldraht und Mauer sogar als verstaubt oder ewiggestrig gebrandmarkt. Die friedliche Revolution hat ja durchaus auch in der alten Bundesrepublik so manche Gewissheit infrage gestellt. Viele Westdeutsche wollen sich nicht einmal heute ihr damaliges Desinteresse und ihre Ignoranz gegenüber der DDR eingestehen. Auch das ist ein historischer Tatbestand, der noch seiner Aufarbeitung harrt.

(Vereinzelter Beifall AfD, Beifall Kay Ri- chert [FDP] und Doris Fürstin von Sayn- Wittgenstein [fraktionslos])

Das alles kann bei den Festlichkeiten zum Jahrestag der Deutschen Einheit durchaus eine Rolle spielen. Allerdings gibt es auch kritische Stimmen, die meinen, dass in Kiel die Festlichkeiten zu wenig Platz für die ernste Auseinandersetzung geben würden. Alles sei zu spaßorientiert und harmlos.

Als ob es dunkler Anzüge, getragener Musik und ernster Mienen bedürfe, um angemessen der historischen Leistung der DDR-Bürgerinnen und -Bürger zu gedenken. Das ist der vollkommen falsche Ansatz. Das ist doch gerade das, was uns die Ereignisse im November 1989 gezeigt haben: Nicht das Denken, nicht die Reden sind entscheidend, sondern die Taten. Ich halte es mit dem französischen Sozialisten Jean Jaurès:

„Die richtige Art, die Vergangenheit zu betrachten, ist, das Werk der lebendigen Kräfte, die in der Vergangenheit gewirkt haben, in die Zukunft weiterzuführen.“

Für uns heißt das: Freiheit, Demokratie, Mitmenschlichkeit und Rechtsstaat. Das sollten wir in Lehrplänen, an den Erinnerungsorten und im zukünftigen Haus der Landesgeschichte beherzigen. Das wäre eine angemessene Würdigung der Revolution, die eigentlich ihresgleichen sucht. Ansonsten lassen Sie uns am 3. Oktober schön feiern! Wir haben richtig guten Anlass dazu.

(Beifall SSW, CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP, Volker Schnurr- busch [AfD] und Doris Fürstin von Sayn- Wittgenstein [fraktionslos] - Zuruf: Vom Haus der Landesgeschichte solltest du nicht zu viel erwarten!)

Das Wort hat die Abgeordnete Doris Fürstin von Sayn-Wittgenstein.

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es waren die patriotische Erziehung und ein gesunder Nationalstolz unserer Landsleute in der DDR, die vor 30 Jahren dazu beitrugen, ein Unrechtsregime zu Fall zu bringen und die Einigung unseres Vaterlandes zu bewerkstelligen; denn selbst das Unrechtsregime der DDR bekannte sich zur Geschichte des eigenen Volkes. Ich zitiere:

„Wie Sie zu Recht bemerkt haben, befinden sich im Zentrum unserer Hauptstadt Berlin Standbilder von Clausewitz, Scharnhorst, Yorck und Gneisenau. Vielleicht kommt in absehbarer Zeit das Standbild Friedrichs des Großen von Rauch hinzu. … Es entspricht unserem Weltbild, die Geschichte in ihrem objektiven, tatsächlichen Verlauf in ihrer gesamten Dialektik zu erfassen. Dazu gehört die Sicht auf Größe und Grenze hervorragender Persönlichkeiten der Geschichte.“

So wird Honecker in der „Zeit“ vom 22. November 2011 zitiert.

Wie erbärmlich ist dagegen das Verhalten einer Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, die hinter einem Banner „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“ hermarschiert?

(Zurufe)

Frau Abgeordnete, das ist nicht parlamentarisch.

Ich zitiere.

Bitte unterlassen Sie es, sich hier über Abgeordnete des Bundestages oder andere Kollegen missmutig zu äußern. - Danke.

(Lars Harms)

Diese zwei Stränge, der sich bahnbrechende Widerstandsgeist und der aufrechte Patriotismus, sind es, die 30 Jahre nach dem Fall der Mauer erneut als Hoffnungsschimmer für unser Land am Horizont aufleuchten. Dies ist das wahre Vermächtnis der friedlichen Revolution von 1989 für uns alle. - Vielen Dank.

Für die Landesregierung hat das Wort die Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Karin Prien.