Protocol of the Session on September 14, 2007

Ich danke der Frau Abgeordneten Heike Franzen und erteile für die SPD-Fraktion Herrn Abgeordneten Wolfgang Baasch das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit einem Zitat aus diesem interessanten und sehr gelungenen Bericht beginnen:

„Die Lebensphase des Alters hat auch für Menschen mit Behinderungen eine sinnstiftende Funktion, wenn es ihnen ermöglicht wird, diesen Abschnitt ihres Lebens möglichst bewusst zu erleben und zu gestalten. Nach allen vorliegenden Erkenntnissen wünschen sich auch Menschen mit Behinderungen einen gelungenen Übergang in den wohl verdienten Ruhestand und wollen diese Zeit genießen. Der Bericht bestätigt, dass die Lebensvorstellungen von Menschen mit und ohne Behinderungen sich im Großen und Ganzen nicht unterscheiden.“

(Beifall bei SPD, FDP und SSW)

Ich denke, das ist die ganz zentrale Aussage des Berichts. Es geht uns darum, ganz normale Lebensverhältnisse herzustellen.

Das heißt für mich, dass es darauf ankommt, auch älteren Menschen mit Behinderung Wohn- und Unterstützungsformen anzubieten, die ihnen eine weitgehend selbstbestimmte Gestaltung ihres Lebens ermöglichen. Dabei stehen wir heute vor der Herausforderung, Betreuungsstrukturen der alt werdenden Menschen mit geistiger Behinderung aufzugeben. Die abscheuliche Euthanasie der Nazis im Dritten Reich hat dazu geführt, dass eine ganze Generation von Menschen mit geistiger Behinderung ausgelöscht wurde und erst jetzt eine wachsende Zahl älter gewordener geistig behinderter Menschen ins Blickfeld rückt. Die Zahl der schwer und mehrfach behinderten Menschen, die besondere Hilfsangebote und Unterstützung benötigen, nimmt ebenfalls zu.

Die im Bericht sehr umfassend dargestellte Datenerhebung beruht auf einer Befragung älterer Menschen mit Behinderung nach ihren Lebensvorstellungen sowie der Mitwirkung von Einrichtungen und Verbänden der Behindertenhilfe. Dem Dank, der im Bericht an die Träger von Einrich

(Heike Franzen)

tungen sowie deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Unterstützung ausgedrückt wird, will ich mich an dieser Stelle ausdrücklich anschließen.

(Beifall)

Der Bericht lässt folgende Schlussfolgerungen zu: erstens den Wunsch nach Verbleib in der gewohnten Umgebung, zweitens den Wunsch nach Verbesserung der sozialen Kontakte, drittens den Wunsch, gebraucht zu werden, auch über den Arbeitsalltag hinaus, sowie viertens den Wunsch nach mehr Mitsprache und Mitbestimmung.

(Beifall der Abgeordneten Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Dies bedeutet, die Menschen mit Behinderung müssen frühzeitiger auf den Übergang in den Ruhestand vorbereitet werden. Auch für sie muss die gesamte Spannbreite von Wohnformen offenstehen. Hier sehe ich - das muss man an alle Finanzpolitiker richten - keinen Raum für Einsparungen. Denn die Ausgaben, die wir für diese neuen Aufgaben tätigen müssen, hat es bisher noch gar nicht gegeben.

(Beifall bei SPD, CDU und FDP)

Die Menschen mit Behinderung, die in Einrichtungen leben, wünschen sich dabei auch die Möglichkeit, Freizeitangebote außerhalb ihrer Einrichtungen aufzusuchen oder an ihnen teilzunehmen.

Die Wahrung der eigenen Identität und die Wahrung der Selbstständigkeit, solange dies möglich ist, sind auch bei Menschen mit geistiger Behinderung ein Wert, der durch geeignete psychosoziale Unterstützung gewährleistet werden muss. Teilhabe am sozialen Leben heißt auch, Freude am Leben zu haben und insofern sollten wir mit unseren Entscheidungen und Programmen dafür sorgen, dass möglichst alle Menschen auch im Alter Freude am Leben empfinden.

Der vorliegende Bericht beschreibt die aktuelle Wohn- und Arbeitsformen von älteren Menschen mit Behinderung sowie ihre Vorstellungen für den Ruhestand. Damit haben wir eine gute Grundlage für die weitere Arbeit für die wachsende Zahl älterer Menschen mit Behinderung in unserem Land.

Abschließend richte ich einen herzlichen Dank an die Ministerin und ihr Team, die diesen Bericht erarbeitet haben. Er bietet eine wirklich gute Grundlage, mit der wir uns im Ausschuss vertiefend beschäftigen sollten.

(Beifall)

Ich danke Herrn Abgeordneten Wolfgang Baasch und erteile für die Fraktion der FDP Herrn Abgeordneten Dr. Heiner Garg das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte mich ganz herzlich bei der Landesregierung für den Bericht bedanken. Es ist ein umfassender Bericht und ich glaube, es wird uns eine Menge Freude bereiten, mit ihm weiterhin zu arbeiten.

Mich hat ganz besonders gefreut, dass der Bericht aufzeigt, dass wir in Schleswig-Holstein hinsichtlich des Denkansatzes viel weiter sind als manch andere Bundesländer. Bei uns in Schleswig-Holstein werden Pflegebedürftigkeit und Behinderung zum Glück nicht undifferenziert in einen Topf geworfen und dies ist eine Grundvoraussetzung dafür, passgenaue Hilfen auch für ältere Menschen mit Behinderung zu finden.

Deutlich wird: Die Situation von Menschen mit Behinderung ist ein Spiegelbild der gesamten Bevölkerungsentwicklung. Menschen mit Behinderung werden älter und erstmals muss die Politik darauf neue Antworten finden.

Um ein Ergebnis gleich vorwegzustellen: Es gibt für Menschen mit Behinderung ebenso wie für Menschen ohne Behinderung keinen wirklichen Unterschied beim Übergang in den Ruhestand. Diese Erkenntnis ist wenig erstaunlich. Denn - dies gilt für Menschen mit oder ohne Behinderung -: Menschen müssen sich vorzeitig mit der Situation auseinandersetzen, dass sie im Ruhestand nicht mehr wie gewohnt ihrer bisherigen Erwerbstätigkeit nachgehen können und sich ihre Tagesgestaltung grundlegend verändern wird. Wenn sich Menschen allerdings keine Gedanken darüber machen, wie sie künftig ihren Tag gestalten wollen, fallen sie - das ist unabhängig davon, ob sie eine Behinderung haben oder nicht - in ein Motivationsloch. Sie müssen sich also auf eine neue Situation einstellen oder Hilfen bekommen, um sich auf diese neue Situation einstellen zu können. Sie müssen sich überlegen, wie sie künftig ihren Tag gestalten und welche Aktivitäten sie ausüben wollen.

Die Angst davor ist groß, dass mit dem Eintritt in den Ruhestand nicht nur die bisherige Tätigkeit oder das Gespräch mit den vertrauten Kollegen nicht mehr möglich ist, sondern dass auch der eigene Rhythmus oder die Tagesstruktur verloren gehen. Wie können die Betroffenen auf diese Situation entsprechend vorbereitet werden? - Die Einrich

(Wolfgang Baasch)

tungen haben sich beispielsweise durch die Schaffung von sogenannten Förder- und Schongruppen darauf eingestellt und versuchen, entsprechende Hilfsangebote zu machen. Deutlich wird, dass die angehenden Ruheständler einerseits in der gewohnten Umgebung bleiben wollen und dass sie andererseits mit dem Eintritt in den Ruhestand auch außerhalb ihrer bisherigen Einrichtung anderen Interessen nachgehen können und wollen.

Die Unsicherheit ist bei Menschen mit und ohne Behinderung grundsätzlich gleich. Allein diese Erkenntnis ist aus meiner Sicht ein ganz wichtiger Schritt in Richtung Normalität. Dennoch ergeben sich natürlich Besonderheiten, die künftig in der Planung berücksichtigt werden müssen.

Ein Beispiel ist, dass es viele Werkstätten mit angegliederten Wohnheimen einerseits ihren Ruheständlern ermöglichen wollen, in ihrer gewohnten Umgebung wohnen zu bleiben, andererseits dadurch natürlich ein Platz für einen Nachrücker blockiert wird. Versuche wie bei den Mürwiker Werkstätten, durch eine Kooperation mit Wohnungsbaugenossenschaften diese Situation zu lösen, sind deshalb ein erster richtiger und pragmatischer Ansatz, der unsere Unterstützung verdient.

(Beifall bei FDP und SPD)

Natürlich ist es notwendig, entsprechende Angebote in Schleswig-Holstein für die künftigen Ruheständler zu schaffen, insbesondere bei der Tagesgestaltung. Dabei ist der Anspruch von „Ambulant vor stationär“ landesweit bereits heute in vielen Bereichen verwirklicht, einfach weil es die Menschen mit Behinderung so wollen.

Herr Kollege Baasch, wir sind uns an der Stelle einig. Genau diese Modelle dürfen nicht dem Irrtum unterliegen, dass passgenaue ambulante Hilfen ein Sparmodell darstellten. Ich glaube, wir werden in Zukunft in einer älter werdenden Gesellschaft sein. Nicht nur Menschen mit Behinderung werden älter, sondern wir alle werden hoffentlich älter. Ich glaube, wir werden hierfür in Zukunft mehr Geld in die Hand nehmen müssen.

(Beifall bei FDP und SPD)

Leider wird aber auch immer wieder deutlich, dass manchmal Kostenvorgaben an die Träger nicht mehr mit den gewollten passgenauen Hilfen zusammenpassen.

Wenig hilfreich ist, dass es immer noch Probleme bei der Umsetzung des Ausführungsgesetzes nach dem SGB XII gibt. Frau Kollegin Birk hat das recht charmant angesprochen; sie hat es überraschend freundlich getan.

Wenn eine individuelle Teilhabeplanung als zentrales Element gewollt ist, um den Betroffenen in Zukunft eine wirkungsvolle und effektive Hilfe zu gewährleisten, dann muss die Frage gestellt werden, wann es endlich Ersatz für den von den Kommunen zum 31. Dezember 2007 gekündigten Landesrahmenvertrag gibt.

(Beifall bei FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist schön, wenn man sich mittlerweile geeinigt haben will - ich muss das an der Stelle zumindest als Oppositionspolitiker so formulieren -, dass es einen Landesrahmenvertrag geben soll. Wer aber außer den Kommunen und Wohlfahrtsverbänden noch Vertragspartner sein soll, scheint immer noch offen zu sein.

Wenn wir rechtzeitig für die in den nächsten Jahren steigende Zahl an Ruheständlern unter den Menschen mit Behinderung Rahmenbedingungen haben wollen, dann müssen wir hierfür verlässliche Grundlagen schaffen. Ich bin gespannt, was uns im Ausschuss dazu berichtet wird.

(Beifall bei der FDP)

Das Wort für den SSW erhält Herr Abgeordneter Lars Harms.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Anders als sonst üblich werden in dem vorliegenden Bericht nicht die Institutionen aufgelistet und deren Anpassung an wahrscheinliche Bedarfe hochgerechnet, sondern es werden gezielt die Menschen, um die es geht, nach ihren Wünschen und Bedürfnissen befragt. Der SSW begrüßt ausdrücklich diese Vorgehensweise, die eine hervorragende Grundlage für Entscheidungen des Landtages sind.

Die Menschen mit Behinderung wissen am besten, wie sie ihren Lebensabend verbringen wollen. Die Antworten zeigen, dass sich zwar nur einige wenige Gedanken machen, aber andere haben durchaus feste Vorstellungen darüber, wie sie leben wollen, wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt ihres Lebens nicht mehr täglich in die Werkstatt kommen. Mich würde dennoch interessieren, wer die Befragung durchgeführt hat. Aber das können wir auch im Ausschuss klären. Da ist wirklich eine gute Arbeit geleistet worden. Vor allem könnte man den Gutachter beziehungsweise den Menschen, der diese Dinge erarbeitet hat, oder auch die betreffende Institution an die kommunale Ebene weiterempfeh

(Dr. Heiner Garg)

len. Ich glaube nämlich, da hapert es noch. Wir sollten zusehen, dass die Leute auf der kommunalen Ebene den Nutzen von dem haben, was der Gutachter gemacht hat.

Der Sozialministerin ist ausdrücklich hoch anzurechnen, dass sie mit diesem Bericht in vorbildlicher Weise zeigt, dass Menschen mit seelischer oder geistiger Behinderung durchaus auskunftsfähig in eigener Sache sind. Es bedarf also keineswegs der sicherlich gut gemeinten Interpretationen über Sozialarbeiter oder Pädagogen, die sich nicht immer von ihrer professionellen Sichtweise lösen können. Direkte Befragungen sind allemal besser als indirekte Vermutungen.

Der SSW freut sich auf weitere Berichte in ähnlicher Qualität, wenn es in absehbarer Zukunft um die Situation von Familien oder beispielsweise von Pflegebedürftigen gehen wird. Nicht die Klienten müssen sich den Bedürfnissen der Organisationen anpassen, sondern diese müssen sich den Klienten anpassen.

Die Vorschläge zur Altersgestaltung der Menschen mit geistiger oder seelischer Behinderung betreffen überwiegend die Innenorganisation der Werkstätten, Wohnheime und Wohngruppen. Dabei legt der Bericht den Finger in die Wunde. Information und Beratung zu allen Lebensbereichen im Alter müssen teilweise von den Profis in den Einrichtungen erst neu in ihren Werkzeugkasten aufgenommen werden, weil die Zahl der Menschen mit Behinderung, die die Altersgrenze erreicht, noch gering ist. Das wird sich aber sehr bald ändern.

Darum müssen die Wünsche nach altersgemischten beziehungsweise altersheterogenen Gruppen und einem begleitenden Tagesprogramm möglichst bald in den Einrichtungen angesprochen und umgesetzt werden. Angehörige und Freunde müssen in den Übergangsprozess eingebunden werden. Das alles bedeutet eine Mehrbelastung des Personals, das dafür entsprechend qualifiziert werden muss.

Das Demenzrisiko der Menschen mit geistiger Behinderung ist ein weiterer handfester Faktor, der bislang in der Behindertenarbeit vernachlässigt wurde. Das muss sich schleunigst ändern.

Politisch relevant ist die Bildung von Regionalbeiräten zwischen Leistungserbringern und Leistungsträgern auf der einen Seite und den Behindertenverbänden auf der anderen. Diese Beiräte können die finanziellen Voraussetzungen schaffen, damit Wünsche der Menschen mit Behinderung bezüglich der Gestaltung ihres Lebensabends möglichst umgehend umgesetzt werden.