Protocol of the Session on June 15, 2005

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 16/124

Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache. Für die antragstellende Fraktion hat Frau Abgeordnete Monika Heinold das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit unserem heutigen Antrag fordern wir, dass die Schuleingangsuntersuchung schrittweise vorgezogen wird. Ziel ist es, bis spätestens zum Schuljahr 2007/08 eine Untersuchung für alle Kinder mindestens ein Jahr vor ihrer Einschulung zu gewährleisten. Die Zeit bis zur Einschulung soll intensiv genutzt werden, um in der Kindertagesstätte und in Kooperation mit anderen Hilfs- und Förderangeboten bestehende Defizite auszugleichen. Diese Maßnahme ist aus Sicht der grünen Landtagsfraktion zwingend, um die Bildungschancen aller Kinder zu verbessern.

Wenn gewährleistet ist, dass mit Eintritt in den Schulalltag alle Kinder ausreichende soziale Kompetenzen haben und die deutsche Sprache beherrschen, wird dieses den Schulalltag für Kinder und für Lehrerinnen und Lehrer deutlich verbessern. Von der verbesserten Unterrichtssituation würden alle Kinder

profitieren, die schwachen, aber auch die leistungsstärkeren. Auch die Sozialministerin Gitta Trauernicht hat in einem Interview mit den „Kieler Nachrichten“ am vergangenen Wochenende darauf abgehoben, dass die bestehenden Angebote im Rahmen von Frühförderung und Jugendhilfe bei allen positiven Aspekten ein gemeinsames Manko haben: Ihnen fehlt letztendlich die Verbindlichkeit. Ich teile die Aussage der Ministerin, die gesagt hat - ich zitiere -:

„Wir wollen, dass künftig sichergestellt ist, dass Kinder, die Hilfe brauchen, diese auch erhalten. Das kann auch ein gesundheitliches Frühwarnsystem sein.“

Unser Antrag zur vorgezogenen Schuleingangsuntersuchung setzt genau hier an, da diese Untersuchung für alle Kinder verbindlich ist. Diesen Vorteil wollen wir weiter ausbauen. Das Vorziehen der Schuleingangsuntersuchung muss dazu genutzt werden, um Kindern mit Defiziten anschließend eine aktive Hilfestellung zu geben. Für Kinder, die bereits in der Kindertagesstätte sind, muss es ein abgestimmtes Förderkonzept geben, in das auch weitere Hilfeangebote wie zum Beispiel Logopädie aufgenommen werden können. Manche Kindertagesstätten praktizieren das schon vorbildlich. Familien, die die Chancen der Kindertagesstätten bisher nicht nutzen, muss der Weg in die Kindertagesstätten oder auch zu anderen Hilfesystemen aufgezeigt werden. Im Falle von Eltern, die keine Hilfsangebote für ihre Kinder annehmen wollen, muss gewährleistet werden, dass ihre Kinder dennoch von den gezielten Förderangeboten profitieren. Damit soll sichergestellt werden, dass sozial benachteiligte Kinder und Kinder mit Migrationshintergrund gezielter als bisher gefördert werden. Die aktuelle Studie des Deutschen Jugendinstitutes belegt eindeutig, dass gerade diese Kinder keine Kindertagesstätten besuchen und damit Fördermöglichkeiten verspielt werden.

Uns ist bewusst, dass die konkrete Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, mit der Jugendhilfe und gegebenenfalls mit weiteren Institutionen nur auf freiwilliger Basis mit den Familien vereinbart werden kann, es sei denn, dass es unmittelbare Maßnahmen zum Schutz des Kindes im Rahmen der Jugendhilfe gibt, die als notwendig angeordnet werden können.

Über den Bildungsauftrag der Kindertagesstätten haben wir bereits heute Morgen diskutiert. In diesem Zusammenhang habe ich auf unsere Forderung hingewiesen, das von Rot-Grün ursprünglich im Koalitionsvertrag vereinbarte Förderprogramm auch in der großen Koalition umzusetzen. Dieses Programm hieß im Koalitionsvertrag „Erfolgreich starten“. Wir hatten es ursprünglich „Clever starten“ genannt. Es war dann

(Monika Heinold)

ein Zugeständnis an unseren Koalitionspartner, dieses Programm „Erfolgreich starten“ zu nennen.

(Zuruf von der SPD)

- Das waren die heißen Nächte, als wir damals um den Namen und das Geld gestritten haben.

(Lothar Hay [SPD]: Ich weiß es zwar nicht, aber ich stimme zu!)

- Auch die große Koalition wird heiße Nächte haben.

Eine vorgezogene Schuleingangsuntersuchung zieht Kosten nach sich - das will ich nicht verschweigen -, denn der Ausgleich des festgestellten Defizits verursacht aufgrund der Folgemaßnahmen natürlich Kosten. Dies wird sich aber schon kurzfristig rentieren, denn in der Schule wird es durch zuvor gelerntes Sozialverhalten und durch die vorhandene Sprachkompetenz der Kinder mit Sicherheit zu erheblichen Entlastungen kommen. Ich bitte Sie deshalb, unserem Antrag zuzustimmen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)

Ich danke der Abgeordneten Heinold. - Für die CDUFraktion hat die Frau Abgeordnete Susanne Herold das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte Abgeordnete von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, in meiner ersten Landtagssitzung im Mai habe ich mich mehrfach über die inhaltliche Qualität Ihrer Anträge wundern dürfen. Ich freue mich daher über die Drucksache 16/124 und möchte Ihnen zu dieser herzlich gratulieren. Dieser Antrag hat Substanz und ist auch von seiner Begründung her schlüssig. Es ist toll, dass Sie den gelungenen Koalitionsvertrag von CDU und SPD zu Rate gezogen haben, um sinnmachende Anträge zu formulieren.

(Beifall bei der CDU)

Erlauben Sie mir folgendes Zitat aus dem Koalitionsvertrag:

„Ein erfolgreicher Schulstart setzt ausreichende Deutschkenntnisse voraus. Um dies sicherzustellen, wird die Schuleingangsuntersuchung spätestens auf das vierte Quartal des Kalenderjahres vor der Einschulung vorgezogen.“

Ferner heißt es:

„Erforderlichenfalls werden in diesem Rahmen Sprachstandsuntersuchungen und gezielte Sprachfördermaßnahmen durchgeführt. Dies gilt insbesondere für Kinder, die keine Kindertageseinrichtungen besuchen, und für Kinder mit Migrationshintergrund.“

Meine Damen und Herren von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Sie sehen, gemeinsam kommen wir schon auf einen grünen Zweig. Gemeinsam werden wir die Bildungschancen unserer Kinder verbessern.

(Vereinzelter Beifall bei CDU und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich danke Ihnen, dass Sie sich so viel Mühe geben, uns in der Arbeit der großen Koalition zu unterstützen.

(Vereinzelter Beifall bei der CDU - Monika Heinold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, wo es richtig ist!)

Der Bildungsauftrag der Kindertagesstätten wird noch in diesem Jahr gesetzlich konkretisiert. Laut Koalitionsvertrag kommt der Förderung von Sprache und Motorik, der Hinführung zur Schrift und zu mathematischen, naturwissenschaftlichen und technischen Erscheinungsformen eine besondere Bedeutung zu. Dazu wird bindend die Qualität der Erzieherinnen- und Erzieherausbildung verbessert werden. In jeder Einrichtung wird zukünftig mindestens eine qualifizierte Fachkraft in Fragen der Sprachförderung etabliert werden. Gerade in Bezug auf die Festlegung neuer Bildungsstandards, gekoppelt mit grundlegenden strukturellen Veränderungen, ist es mehr als sinnvoll, gemeinsam mit allen Beteiligten neue Wege der Bildung bereits im Kindergarten zu beschreiten. Doch dieser Prozess, so er denn durchdacht und strukturiert ausgearbeitet werden soll, braucht Zeit.

Ich halte es daher für nicht angemessen, die Landesregierung zeitlich derart unter Druck zu setzen, hat doch die Vergangenheit bewiesen, dass Schnellschüsse im Bildungsbereich eher ins bildungspolitische Chaos als zu qualitativen Verbesserungen und Chancengleichheit für unsere Kinder geführt haben.

Das Phänomen der auffälligen Sprachstörungen ist nicht allein bei Kindern aus sozial benachteiligten sowie Migrationsfamilien festzustellen. Das ist alarmierend. Mehr und mehr deutschsprachige Kinder aus ganz normalen Familienverhältnissen weisen ebenfalls gravierende Sprachmängel auf. Diese bestehenden Defizite müssen und werden auch mit den neuen gesetzlichen Vorgaben zur Schuleingangsuntersuchung und den nötigen Sprachfördermaßnahmen beseitigt werden. Wir müssen den Übergang in die Grundschule für alle Kinder qualitativ gleichwertig

(Susanne Herold)

gewährleisten, um bessere, leistungsbezogene Ergebnisse bei der Bildung unserer Kinder zu erzielen. Packen wir es an! Ich beantrage für die CDULandtagsgfraktion die Überweisung des Antrages an den Bildungsausschuss.

(Beifall bei CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Ich danke der Frau Abgeordneten Herold. - Für die SPD-Fraktion erteile ich Herrn Abgeordneten Detlef Buder das Wort. Es ist seine erste Rede, die ich Ihrer geschätzten Aufmerksamkeit empfehle.

Eine Jungfernrede in meinem Alter - das mag vielleicht mit meinem Sternzeichen Jungfrau zusammenhängen. Insofern passt es vielleicht zusammen.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine erste Bemerkung richtet sich an den Kollegen Klug. Sie haben vorhin eine Verbindung zwischen Schultern und Stehen hergestellt. Ich würde es so formulieren: Diese Koalition steht auf großen Füßen und trägt mit starken Schultern. Man steht schließlich nicht auf den Schultern. Weil das so ist, sollten wir uns jetzt mit denjenigen auseinander setzen, die sich erst entwickeln. Wir sollten diesen unsere Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, denn erst Lernen macht groß und stark. Daraus haben wir unsere Erkenntnisse zu ziehen. Denn der Übergang vom Kindergarten in die Schule ist einer der wichtigsten Lebensabschnitte von jungen Leuten. Wenn dieser Übergang mit dem Erleben von Misserfolg verbunden ist und mit Scheitern einhergeht, werden dadurch für die Biografien dieser jungen Menschen Weichen gestellt. Die Folgen daraus können wir dann in ihrem Scheitern im späteren Leben, im späteren Schulleben verfolgen. Deshalb müssen wir uns auch nicht darüber streiten, dass wir der Vorbereitung auf die Einschulung noch mehr Aufmerksamkeit widmen müssen als in der Vergangenheit.

In derselben ersten Grundschulklasse treffen im Schnitt 21 bis 23 Kinder aufeinander, die bereits von sehr unterschiedlichen Lebenserfahrungen geprägt sind. Sie kommen aus allen sozialen Schichten. Viele von ihnen haben jahrelang im Kindergarten Erfahrungen im Zusammenleben und Zusammenlernen mit Gleichaltrigen gesammelt, während viele andere diese Erfahrungen noch nicht machen konnten - aus welchen Gründen auch immer. In der Regel ist die Mehrzahl in Familien mit deutscher Muttersprache aufgewachsen, viele Schüler kommen allerdings auch aus Familien mit Migrationshintergrund oder aus ande

ren Kulturkreisen und wollen mit anderen Kindern zusammen die Schule besuchen. Von ihnen wiederum sprechen viele zu Hause ausschließlich die Muttersprache und haben deshalb im sprachlichen Bereich große Schwierigkeiten. Selbst bei ähnlichen Rahmenbedingungen entwickeln sich Kinder außerdem - das wissen wir alle - geistig, seelisch, körperlich und sozial unterschiedlich und unterschiedlich schnell. Es wäre daher zu spät, wenn man es nur den Grundschullehrerinnen und Grundschullehrern in der erste Klasse überließe, aus dieser Vielfalt das Beste zu machen.

Die optimale Lösung, die ich mir pädagogisch vorstellen könnte, wäre es wahrscheinlich, wenn wir eine mindestens zweijährige Kindergartenpflicht mit derselben Verbindlichkeit wie die Schulpflicht durchsetzen könnten.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abgeordneten Holger Astrup [SPD])

Aber es ist unredlich, diese Perspektive mittelfristig in den Raum zu stellen, weil wir uns alle darüber im Klaren sind, dass weder die kommunalen oder die privaten Träger von Kindertagesstätten noch das Land die Mittel zur Umsetzung zu einer solchen Pflicht haben. Das ist einfach so und das haben wir hier zur Kenntnis zu nehmen.

Es besteht also Einigkeit zwischen der Koalition und der antragstellenden Fraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, dass die Schuleingangsuntersuchungen vorgezogen werden sollten. Das ist unstrittig. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD sieht vor, sie spätestens auf das vierte Quartal des Kalenderjahres vor der Einschulung vorzuziehen. Ich habe hier die Bibel, den Vertrag, mitgebracht, in der wir das festgeschrieben haben. Jedermann sollte sich dieses Werk durchlesen, dann ersparen wir uns in Zukunft viele Argumente. Dies würde bei einem Schuljahresbeginn Anfang/Mitte August einen Abstand von rund acht Monaten ergeben.

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erinnern uns jetzt daran, dass wir in dem nicht zum Tragen gekommenen Koalitionsvertrag zwischen ihnen und der SPD formuliert hatten, wir würden ein Vorziehen der Schuleingangsuntersuchung auf ein Jahr anstreben. Das ist natürlich das Ergebnis der alten Mächte gewesen, wie wir vorhin gehört haben. Diese Jahresfrist war die Philosophie der Grünen, nicht ursprünglich die der SPD. Das ist so. Denn aus dem, was ich zu den unterschiedlichen Entwicklungszyklen von Kindern gesagt habe, ergibt sich auch, dass das Prinzip, je früher die Untersuchung stattfindet, um so besser ist es, sich in der Realität so nicht abbildet. Ein Jahr ist im Leben eines Erwachsenen eine verhältnismäßig kurze Spanne. Ein Jahr ist im Leben eines Kindes, eines Heran

(Detlef Buder)

wachsenden, eine halbe Ewigkeit und eine sehr lange Spanne. Ein zu großer Abstand zwischen dem Termin der Schuleingangsuntersuchung und der Einschulung wird der Möglichkeit nicht gerecht, dass sich gerade in diesem letzten Jahr im großen Tempo Entwicklungen des Kindes anbahnen. Mit Recht weist die Begründung des Antrages darauf hin, dass gerade die Kinder, die in ihren Familien und ihrem sozialen Umfeld von ihren Eltern zu wenig gefördert werden, nicht in der Kindertagesstätte angemeldet werden und daher besonderer Förderung bedürfen.

Um einem Missverständnis vorzubeugen: Kinder mit Sprachdefiziten stammen nicht immer nur aus Migrantenfamilien.

(Monika Heinold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wissen wir doch!)

Es gibt leider auch viele deutsche Eltern, die oft aus ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation heraus ihren Kindern zu wenig Förderung zukommen lassen, gerade in sprachlicher Hinsicht.

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Es darf nicht so sein, dass für diese Kinder Diskussionen über Details der Rechtschreibreform schon deshalb gegenstandslos sind, weil sie sie überhaupt nicht nachvollziehen können.