Protocol of the Session on June 18, 2009

Ich möchte aber insofern Wasser in den Wein schütten,

(Zurufe)

als ich darauf hinweise, dass wir erst ein Pflegegesetzbuch haben. Wenn sich diese Koalition nicht bei anderen Fragen so schrecklich streiten würde, dann hätten wir wahrscheinlich die beiden anderen Pflegegesetzbücher auch so konstruktiv bewältigen können.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)

Ich kann an dieser Stelle nur sagen: Nehmen Sie sich in diesem Fall ein Beispiel an den Beratungen im Sozialausschuss!

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)

Ich danke der Frau Abgeordneten Angelika Birk und erteile das Wort für den SSW im Landtag dem Herrn Abgeordneten Lars Harms.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Landesregierung hat mit dem neuen Teilhabe- und Pflegegesetz einen großen Schritt nach vorn gewagt. Pflege wird in den nächsten Jahren sowohl quantitativ als auch qualitativ stärker ins Bewusstsein rücken, weil in unserer alternden Gesellschaft die Zahl der Menschen mit Pflegebedarf zunehmen wird, während gleichzeitig in den Familien weniger Unterstützter zur Verfügung stehen. Der Anteil professioneller Pflege wird also zunehmen. Auf der anderen Seite wachsen die Ansprüche nach selbstbestimmten und individuellen Angeboten.

Der Gesetzgeber stellt sich dieser Herausforderung und legt neue moderne Rahmenbedingungen fest.

(Angelika Birk)

Das klassische Heimrecht wird in Schleswig-Holstein mutig reformiert. Das unterstützt der SSW ausdrücklich.

Bei der Anhörung lobten die Experten durchweg die Qualität des Gesetzentwurfs und forderten eine baldige Verabschiedung. Unbestritten ist, dass bei einer Pioniertat immer Unwägbarkeiten bleiben. Viele Vorschläge zu besseren, treffenderen und eindeutigeren Formulierungen liegen vor. Die Änderungsanträge der FDP und der Grünen sind in vielen Bereichen richtig. Sie in allen Einzelheiten zu diskutieren, hieße allerdings, den Fortgang des Gesetzgebungsprozesses zu behindern. Wir gehen davon aus, dass sich Vieles aus diesen Gesetzentwürfen in entsprechenden Erlassen wiederfinden wird.

Ich möchte daher von vornherein betonen, dass der SSW das neue Gesetz unbedingt auf den Weg bringen möchte und dementsprechend der Beschlussempfehlung folgen wird. Wir sollten keinen Schritt zurückgehen und keine weitere kostbare Zeit verschenken.

In zwei Jahren sollten wir allerdings sowohl die gesetzlichen Regelungen als auch die neuen Strukturen einer gründlichen Evaluation unterziehen. Erst dann können wir beurteilen, ob die guten Absichten in der Praxis auch tatsächlich umgesetzt werden können und wo sie sich als zu ungenau oder zu kompliziert erwiesen haben. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass eine Klagewelle aufgrund schwammiger Rechtsbegriffe nicht zu erwarten ist.

Der über die Jahre gewachsene Pflegesektor wird durch das Gesetz transparenter gemacht. Das behagt einigen Trägern überhaupt nicht. Für den SSW ist das allerdings ein sicheres Zeichen dafür, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Viele Entscheidungen im Pflegebereich beruhen immer noch auf willkürlichen oder personenabhängigen Entscheidungen. Das neue Gesetz will das abschaffen. Einheitliche Zertifikate sind zwar kein Allheilmittel, doch können sie ein sinnvolles Instrument zur Qualitätssicherung und zum Vergleich der Einrichtungen sein. Dabei kommt es selbstverständlich nicht infrage, die Unterschiedlichkeit der Angebote durch die Hintertür einzuebnen. Außerdem sind Zertifikate keine Garantie, dass sie auch die Bereiche, die den Kunden interessieren, betreffen. Ein Zertifikat gibt lediglich eine Orientierung. Die Entscheidung für oder gegen eine Einrichtung sollte immer erst nach einer gründlichen Bewertung durch unabhängige Beratungsstellen und einem Beratungs- und Informationsgespräch vor Ort erfolgen.

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bereits bestehende Möglichkeiten, wie die DINNorm für das Betreute Wohnen, das analog zur Hotelbranche ein Sternesystem ermöglicht, sollten unbedingt genutzt werden. Die Leistungsangebote, die sich unter dem Oberbegriff „Betreutes Wohnen“ finden lassen, unterscheiden sich zum Teil erheblich. Trotzdem stehen einige Betreiber diesen neuen und für sie ungewohnten Instrumenten immer noch etwas skeptisch gegenüber, obwohl sie eindeutig die Vergleichbarkeit für die Kunden verbessern. Ich bin aber optimistisch, dass im Zuge des neuen Gesetzes auch diese Verfahren verstärkt auf dem hiesigen Pflegemarkt Einzug halten werden.

Das neue Gesetz stellt die Menschen mit Pflegebedarf in den Mittelpunkt und unterscheidet konsequenterweise nicht mehr länger zwischen dem altersbedingten Demenzkranken und dem jungen Schwerbehinderten mit Pflegebedarf. Übrigens gerade bei Letzterem müssen wir uns um genaue Begrifflichkeiten bemühen, um nicht alle Menschen mit Behinderung zu Pflegebedürftigen abzustempeln.

(Beifall bei SSW, FDP und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Viele Menschen leben mit ihrer Behinderung ein selbstständiges Leben in den eigenen vier Wänden und sind nicht auf Unterstützung angewiesen.

Das Gesetz sieht vor, dass Strukturen in Zukunft eine geringere Bedeutung spielen. Stattdessen sind die individuellen Bedürfnisse und Bedingungen entscheidend. In den nächsten Monaten wird es darum gehen, die Norm der Selbstbestimmung auch tatsächlich umzusetzen, ohne dabei weder den Menschen mit Behinderung den notwendigen Schutz zu versagen noch Abhängigkeiten einfach wegzudefinieren.

Bezüglich der Älteren hat sich mancherorts eine bevormundende Pflegepraxis eingespielt, die es schleunigst zu modernisieren gilt. Nach vielen Jahren, in denen Pflegebedürftige froh sein konnten, wenn ein Heim sie trotz langer Wartelisten aufnahm, ist es nun schwer, den Paradigmenwechsel vom Bittsteller hin zum Kunden zu realisieren. Dies gilt für beide Seiten. Das neue Gesetzt will genau das schaffen.

Das Gesetz will die Strukturen den Menschen anpassen und nicht umgekehrt. Dazu ist es unumgänglich, dass die Betroffenen auf Augenhöhe mit den Profis umgehen können. Wir kommen in der

(Lars Harms)

Zukunft nicht um umfassendere Schulung und Beratung herum. Dabei sind nicht nur die Menschen mit Pflegebedarf gemeint, sondern auch deren Angehörige und Ehrenamtler in den Einrichtungen, die über ihre Möglichkeiten umfassend in Kenntnis gesetzt werden müssen. Das ist eine Form des Verbraucherschutzes, den wir in Schleswig-Holstein in die Tat umsetzen und der völlig neu in diesem Bereich ist.

Sicherlich wird die Ministerin konkrete Erlasse begleitend zum Gesetz herausgeben. Selbstverständlich sollte dabei vermieden werden, dass auf dieser Art und Weise - am Landtag vorbei - ein Nebengesetz entsteht. Darum sollten auch die Erlasse in die von mir zuvor erwähnte Evaluierung mit einbezogen werden.

Es ist uns in vielen Bereichen gelungen, die Obrigkeitsbürokratie weitgehend abzuschaffen. Ähnliches steht der Heimaufsicht bevor. Sie wird nicht mehr länger nur die Einhaltung starrer Vorschriften kontrollieren und gegebenenfalls sanktionieren, sondern sie wird stärker als bisher als Coach nachgefragt werden. Ziel muss eine intelligente Steuerung zugunsten der Menschen mit Pflegebedarf sein.

Zukünftig werden selbstorganisierte genossenschaftliche Pflegeformen entstehen, die strukturell gar nichts mehr mit den klassischen Heimen oder Einrichtungen zu tun haben. Dennoch müssen auch in diesen Projekten sowohl die Pflegequalität als auch die Rechte der Beschäftigten gesichert werden. Momentan ist noch unsicher, wie das vonstatten gehen soll. Das neue Gesetz scheint aber flexibel genug, auch diesen Anforderungen zu entsprechen.

Bei der Anhörung wurde deutlich, dass sich mit dem neuen Gesetz nicht nur die Situation in den Einrichtungen ändern wird, sondern dass die Veränderungen weit darüber hinaus reichen. So entstehen neue Kommunikationswege zwischen den Trägern. Das Nebeneinander von Behindertenbetreuung und Altenpflege scheint sich allmählich aufzulösen. Diesen Prozess sollte die Landesregierung weiter unterstützen, weil davon Impulse für die Arbeit mit Menschen mit Pflegebedarf zu erwarten sind.

Die Transparenz der Einrichtungen wird auch zur größeren Durchlässigkeit gegenüber der Umgebung führen. Es gibt immer weniger traditionelle Heime, die vor der Stadt fernab aller Verkehrswege die Isolation der Bewohner befördern. Sie sind inzwischen mittendrin. Ehrenamtliche Visitationen analog zu

den „grünen Damen“ im Krankenhaus werden weiter dazu beitragen, die künstlichen Grenzen zu überwinden. Noch fehlen entsprechende Anreize, aber es sollte auch nicht alles per Gesetz geregelt werden.

Zusammenfassend ist das vorliegende Gesetz ein Meilenstein in der Versorgung von Menschen mit Pflegebedarf. Es stellt das Individuum in den Mittelpunkt. Wie flexibel es tatsächlich ist und wie groß die Durchsetzung gegenüber dem Beharrungsvermögen bestehender Strukturen ist, wird sich erst erweisen.

Eines ist aber heute schon sicher: Der Gesetzesvollzug ist auf qualifizierte Kräfte in der Betreuung angewiesen. Eine weitere Akademisierung ist deshalb absehbar und auch notwendig. Diese Entwicklung ist wünschenswert. Endlich werden ausreichend qualifizierte Arbeitsplätze geschaffen, sodass sich das Studium der Pflegewissenschaft auch lohnt. Hoffentlich schließen sich möglichst viele Bundesländer dem Vorreiter Schleswig-Holstein in der Gesetzgebung an.

Der SSW wird der Beschlussvorlage zustimmen, weil hiermit ein Meilenstein für eine bessere Pflegelandschaft gesetzt wird. Das liegt insbesondere an dem positiven Verfahren, das meine Vorredner bereits hervorgehoben haben. Ich möchte allen Beteiligten und insbesondere der Ausschussvorsitzenden für dieses Verfahren danken.

(Beifall bei SSW, FDP und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich danke Herrn Abgeordneten Lars Harms und erteile Frau Abgeordneter Jutta Schümann für einen Kurzbeitrag das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will jetzt nicht auf alle Einzelheiten der Redebeiträge der Kollegen Garg und Birk eingehen. Aber es scheint mir notwendig, einen wichtigen Punkt anzusprechen, nämlich das Thema Internetplattform und die Veröffentlichung von Strukturdaten. Ich glaube, dass wir da gar nicht so weit auseinander sind. Wir befinden uns auf einem Weg. Ich habe ja gesagt, zukünftig wird es Veröffentlichungen der Prüfergebnisse durch den MDK geben, eine Verpflichtung. Dazu werden Stellungnahmen der Beiräte und der Träger der Einrichtung einge

(Lars Harms)

holt und auch veröffentlicht. Das muss wahrscheinlich in einer Internetform geschehen.

Wir haben gleichzeitig die Transparenzverpflichtung für das Betreute Wohnen in § 9 festgelegt. Auch diese Transparenzverpflichtung muss irgendwie geregelt werden. Auch dies wird natürlich aufbereitet werden müssen für die Öffentlichkeit, und wahrscheinlich bietet sich das Internet dafür an.

Es macht natürlich Sinn, wenn wir die Verordnung erarbeiten, dass wir dieses zusammenführen, vereinheitlichen und uns systematisch in Richtung eines solchen Portals entwickeln. Da sind wir gar nicht weit auseinander. Ich wollte hier noch einmal andeuten, dass wir an dieser Stelle auf einem richtigen gemeinsamen Weg sind.

(Beifall beim SSW und vereinzelt bei der SPD)

Das Wort für die Landesregierung erteile ich der Sozialministerin, Frau Dr. Gitta Trauernicht.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen zweiten Lesung biegen wir mit dem Selbstbestimmungsstärkungsgesetz in die Zielgerade ein. Ich kann nicht verhehlen, dass meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ich uns über die Debatte hier sehr freuen, denn es ist das vierte große sozialpolitische Reformgesetz dieser Legislaturperiode, das wir verabschieden - nach dem Kinderschutzgesetz, dem Gesetz zur Kommunalisierung der Eingliederungshilfe und dem Nichtraucherschutzgesetz. Unsere Marschrichtung war klar: weniger Bürokratie, mehr Menschlichkeit, gesicherte Qualität, ein verändertes Altenbild - das sollte mit diesem Gesetz zum Ausdruck kommen.

Auch ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich zu allererst bei meinen Vorrednern, bei den Fraktionen und bei der Ausschussvorsitzenden Frau Tenor-Alschausky für die problemlösungsorientierte und überaus konstruktive Verhandlung unseres Gesetzentwurfes in den letzten Monaten zu bedanken.

(Beifall bei SPD, SSW und vereinzelt bei der CDU)

Ich sehe diese intensive und durchaus zeitintensive Beratung als große Chance, dass dieses Gesetz nicht einfach nur gemacht wurde und in der Schub

lade verschwindet, sondern in der Praxis tatsächlich Realität wird. Und das ist das, was wir uns wünschen. Vor diesem Hintergrund noch einmal ein ganz herzliches Dankeschön an all diejenigen, die sich an der Beratung dieses Gesetzentwurfs beteiligt haben.

Auch wir haben uns Zeit gelassen - wir, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meines Hauses. Wir haben externen Sachverstand dazugeholt. Wir haben uns auch etwas auf Neuland begeben, denn es gab in der Tat bislang kein Landesgesetz in Nachfolge des überkommenen Bundesheimgesetzes, an dem wir uns hätten orientieren können. Es gab Entwürfe, die wir alle systematisch durchgeprüft haben, um das Beste vom Guten für unser Gesetz herauszunehmen, denn wir hatten einen großen Ehrgeiz, als wir dieses Gesetz entwickelt haben.

Das Gesetz zur Stärkung von Selbstbestimmung und Schutz von Menschen mit Pflegebedarf oder Behinderung sollte eben auch ein deutliches Zeichen setzen, dass wir Artikel 5 a der Landesverfassung ernst nehmen. Ich freue mich, dass der überwiegende Teil des Hohen Hauses deutlich gemacht hat, dass dies offensichtlich in beispielhafter Weise gelungen ist.