Protocol of the Session on August 29, 2003

Von dem, was von der aktuellen Gesundheitsreform übrig geblieben ist, entfällt nur wenig auf die politische Steuerung. Was noch da ist, zielt bezeichnenderweise wieder einmal auf die Patienten ab. Selbstverständlich macht es Sinn, beim Verbraucher das Bewusstsein dafür zu schärfen, welche Kosten er durch die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens verursacht. Es ist altbekannt, dass die Deutschen durch besonders häufige Arztbesuche auffallen. Durch die Praxisgebühr lassen sich aber nicht unbedingt jene abschrecken, die unnötigerweise regelmäßig zum Arzt laufen.

Die obligatorische Gebühr von 10 € pro Quartal ist falsch. Sie könnte leicht einen unbeabsichtigten Effekt bekommen. Menschen mit niedrigem Einkom

(Silke Hinrichsen)

men werden trotz Krankheit durch die Gebühr abgeschreckt, was längerfristig eher zu höheren Ausgaben führt.

Wir hätten es begrüßt, wenn die Gebühr stattdessen zur Steuerung im Sinne einer primären hausärztlichen Versorgung genutzt worden wäre, so wie es die Bundesgesundheitsministerin ursprünglich angedacht hatte. Es sollte eine Gebühr als Anstoß dazu sein, als erstes den Hausarzt zu konsultieren, statt aufgrund einer eigenen Diagnose gleich einen Facharzt aufzusuchen. So würden die Patienten einen Anreiz bekommen, durch kostensparendes Verhalten die Praxisgebühr zu vermeiden.

Der SSW ist gegen die Privatisierung von Gesundheitskosten. Die Absicherung grundlegender Lebenslagen und Risiken wie Krankheit, Alter, Behinderung und Unfälle muss Aufgabe der Solidargemeinschaft bleiben.

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es geht in der Gesundheitspolitik nicht nur um die Frage, was wir mit unserem heutigen Gesundheitswesen leisten können oder wie wir die Lohnnebenkosten senken. Dies sind zwar zentrale Anliegen, aber die große Herausforderung der Gesundheitspolitik ist vor allem die Antwort auf die Frage, wie das Gesundheitswesen eingerichtet sein muss, um diese Solidarität zu erhalten.

Kaum jemand stellt noch offen die Frage, wie viel uns allen die solidarische Verantwortung für die Gesundheit und das Schicksal anderer Wert ist. Über die Jahre hinweg und nicht zuletzt durch das Zutun der Berliner Opposition lautet die Maxime in der Gesundheitspolitik zunehmend: Jeder ist sich selbst am nächsten.

Wenn man den bisherigen Verlauf der aktuellen Gesundheitsreform Revue passieren lässt, dann fällt eines besonders auf: Die Rolle der CDU ist verheerend gewesen. Demgegenüber ist der heutige Antrag direkt harmlos. Fast könnten wir dem Unionsantrag zustimmen, weil er überwiegend unschädliche Allgemeinplätze beinhaltet, wäre da nicht die Überschrift und der erste Satz; denn der SSW lehnt eine Einführung einer Bürgerversicherung im Gesundheitswesen mit Sicherheit nicht ab. Wir meinen, dass eine Bürgerversicherung, in der alle in Deutschland solidarisch die Gesundheitsversorgung finanzieren, die richtige Perspektive ist.

(Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Meine Damen und Herren, ich darf doch um etwas mehr Aufmerksamkeit bitten.

Die gesetzliche Krankenversicherung leidet - wie alle anderen Systeme der sozialen Sicherung in Deutschland - unter den hoffnungslos zersplitterten Strukturen, die die Kosten unnötig in die Höhe treiben.

Wir geben der CDU Recht, dass Sozialhilfeempfänger auch in die gesetzliche Krankenversicherung einbezogen werden sollten. Wir meinen nur, dass dies auch für Beamte, Selbstständige und Abgeordnete gelten muss und dass die Beiträge auf alle Einkommensarten erhoben werden müssen. Die Bürgerversicherung könnte dazu beitragen, die Lohnnebenkosten zu senken, die Beitragssätze herabzusetzen und die Einnahmen der Krankenversicherung besser gegen negative Konjunktureinflüsse - wie die hohe Arbeitslosigkeit - zu sichern.

(Beifall der Abgeordneten Anke Spooren- donk [SSW])

Aus diesem Grund lehnen wir die Bürgerversicherung nicht ab, sondern fordern ganz im Gegenteil eine solche Reform der gesetzlichen Krankenversicherung.

Was wir dagegen mit Sicherheit ablehnen, ist die Einführung von Kopfpauschalen, die die Bürger zur Kasse bittet, unabhängig davon, wie hoch ihr Einkommen ist. Die Zukunft der gesetzlichen Krankenversicherung ist heute ungewisser denn je. Niemand von uns kann sagen, wohin die Reise geht. Sicher ist, dass die bisher beschlossenen Reformen - auch die aktuelle, noch nicht beschlossene - die Zukunftsprobleme nicht lösen. Das haben aber auch alle anderen Kolleginnen und Kollegen in ihren Beiträgen gesagt.

Es mag sein, dass wir irgendwann einmal die Frage stellen müssen, ob diese oder jene Leistung wirklich noch durch die solidarische Krankenversicherung finanzierbar ist. Dabei möchte ich allerdings ausdrücklich sagen, dass ich da bestimmt nicht an die Lösungen eines Herrn Missfelder von der Jungen Union denke, der Menschen über 70 Jahre schon für „abgängig“ hält.

Wir kommen aber irgendwann nicht um die Frage herum, wieweit die Krankenversicherung alle Leistungen finanzieren kann, die auch medizinisch möglich sind. Ich weigere mich aber, mich bei dieser Diskussion darauf einzulassen, bevor nicht die Wirtschaftlichkeitsreserven ausgeschöpft sind, die durch vernünftige strukturelle Reformen der Krankenversorgung in Deutschland zu erzielen wären; denn im

(Silke Hinrichsen)

Mittelpunkt der Gesundheitspolitik sollte der Patient stehen und sollten nicht die Leistungserbringer stehen.

(Beifall bei SSW, SPD und der Abgeordne- ten Irene Fröhlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich bin durch die Geschäftsordnung gehalten, Herrn Abgeordneten Dr. Garg das Wort zu einem Kurzbeitrag zu geben.

(Heiterkeit)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ob das unnötig ist oder nicht - Sie haben es zum Teil der Kollegin Birk zu verdanken; denn das, was sie hier gesagt hat, das möchte ich doch nicht so stehen lassen, zumal noch nicht einmal Joschka Fischer an das glaubt, was Frau Birk hier vorgetragen hat.

(Zuruf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie können nämlich heute im „Handelsblatt“ vom 29. August 2003 nachlesen:

„Joschka Fischer: So unterliege die Bürgerversicherung der Illusion, die Kassenbeiträge ließen sich durch Umverteilung auf mehr Köpfe und alle Einkommensarten dauerhaft senken.“

Dem ist in diesem Punkt nichts weiter hinzuzufügen.

Sie sind heute die Erklärung schuldig geblieben, Frau Birk, warum ein System in einer alternden Gesellschaft, in der es für 90 % der Bevölkerung nicht mehr funktioniert, auf einmal für 100 % der Bevölkerung funktionieren soll. Darauf haben Sie keine Antwort gegeben.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Dann haben Sie wieder so populäre Schlagworte in die Debatte gebracht. Ich halte Ihnen einfach einmal zugute, dass Sie nicht wissen, wovon Sie reden, wenn Sie vom Monopol der Kassenärztlichen Vereinigung reden. Wunderbar. Dann schaffen Sie gleichzeitig das Monopol der GKV und das Monopol der Kassenärztlichen Vereinigung ab und definieren Sie den Sicherstellungsauftrag, den das Monopol der Kassenärztlichen Vereinigung hat!

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Auch darüber kein einziges Wort.

Frau Birk, dann die Positivliste oder die Negativliste - wie immer Sie das nennen wollen! Beantworten Sie die Frage und beantworten Sie sie hier klar und eindeutig: Wollen Sie, dass die Bundesrepublik Deutschland nach wie vor ein innovativer Standort für pharmazeutische Forschung und pharmazeutische Produkte bleibt, ja oder nein?

(Zurufe von der SPD: Oh, oh!)

- Ja, ist ja in Ordnung. Das muss man aber dazu sagen.

(Zuruf der Abgeordneten Ursula Kähler [SPD])

- Ja, Frau Kähler, ich weiß, dass Sie auch dafür Expertin sind.

Nächster Punkt: Versicherungszwang für alle! Also der Zwang zum Abschluss einer Versicherung für alle geht in Ordnung, eine Zwangsversicherung nicht. Warum tragen Sie sich eigentlich ständig mit dem Gedanken, dass alles das, was der Staat organisiert, auch tatsächlich am besten ist? Es ist eben falsch, dass nur eine Steuerfinanzierung oder nur eine Beitragsfinanzierung das Problem lösen kann. Es gäbe auch noch einen dritten Weg, es gäbe auch noch die Möglichkeit einer prämienfinanzierten Lösung. Dazu haben Sie kein Wort gesagt. Das wäre eine Möglichkeit.

Dann muss man natürlich so ehrlich sein - dann haben Sie den Zustand, den Sie offensichtlich nicht wollen -, dass risikoäquivalent kalkulierte Prämien erhoben werden. Soziale Unausgewogenheiten, die dadurch entstehen, die kann man dann durch unmittelbare, transparente, direkte Steuertransfers an jenen Personengruppen ausgleichen, die diese Unterstützung tatsächlich benötigen.

(Beifall bei der FDP)

Das wäre mehr Transparenz, das wäre mehr Wettbewerb. Dann brauchen wir nämlich diese ganze staatliche Organisation, diese ganze Monstranz überhaupt nicht in ihrem jetzigen System, das Sie ja auf irgendeine Art und Weise weiterentwickeln wollen. So werden wir die Probleme einer immer älter werdenden Gesellschaft mit Sicherheit nicht lösen. Die Bürgerversicherung so, wie Sie sie heute vorgeschlagen haben, ist nichts anderes als die Ausdehnung des heutigen nicht mehr finanzierbaren Umlageverfahrens.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Ich bin gehalten, auch noch der Frau Abgeordneten Birk das Wort zu einem Kurzbeitrag zu geben.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind hier nicht im Bundestag. Keine Angst. Aber einige wenige Erwiderungen seien mir doch gestattet, wenn ich hier schon mehrmals persönlich angesprochen worden bin.

Die Zeit hat nicht gereicht, hier ein Gesamtsystem darzustellen, wie es eigentlich notwendig gewesen wäre. Ich möchte mich nur deutlich dagegen verwahren, dass ein System Bürgerversicherung automatisch bedeutet, es gibt nur noch eine einzige Krankenkasse. Sie können sagen, der Bürgerversicherungsbeitragssatz ist so und so hoch für alle, je nachdem, was sie eben verdienen, meinetwegen mit einem Prozentsatz - wenn wir das schaffen würden - von 9 % oder 8 % oder 10 %, wie auch immer.

(Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Kubicki [FDP])

Dann muss jede Kasse für diesen Beitragssatz um ihre Mitglieder werben und dann wird die eine Kasse, die plietsch ist, für diesen Beitragssatz attraktive Leistungen anbieten und eine andere nicht.

(Veronika Kolb [FDP]: Wie wollen Sie das denn machen? - Wolfgang Kubicki [FDP]: Das ist doch Kinderkram! Es geht doch um den Risikoausgleich!)

Natürlich wird man sich über das Thema Risiken unterhalten müssen. Was jetzt passiert, Herr Garg - das können Sie nicht leugnen -, der Risikostrukturausgleich leistet nicht das, was er eigentlich leisten soll, nämlich dafür zu sorgen, dass sich nicht einige Kassen die jungen, gesunden Mitglieder aussuchen und die anderen für die wirklichen Risiken zu tragen haben.