Protocol of the Session on June 7, 2000

Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten de Jager?

Frau Abgeordnete Spoorendonk, sind Sie bereit anzuerkennen, dass ausweislich meiner Pressemitteilung der Begriff „Restschule“ ausdrücklich ein Zitat von Herrn Pfeiffer ist?

- Das erkenne ich natürlich an, aber ich meine nicht, dass man alle Zitate zu übernehmen braucht.

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auf den Absentismus - um bei diesem Wort zu bleiben - geht diese Studie zur Jugendgewalt nur in dem Punkt ein, in dem es um die Frage geht, warum nicht alle Fragebögen der Studie zurückgegeben wurden. Das wird auf wenigen Seiten der umfangreichen Studie kurz erwähnt und kaum näher beleuchtet. Der Anteil von 15 % an fehlenden Schülerinnen und Schülern ist also alles andere als ein wissenschaftlich abgesichertes Ergebnis zum so genannten Absentismus.

Fernbleiben vom Unterricht ist dennoch ein ernstes Thema, zu dem wir verlässliche Zahlen und effektive Konzepte zum Gegensteuern brauchen. Was wir aber überhaupt nicht brauchen, ist eine Stimmungsmache, so wie sie nach dem Ursprungsantrag von Herrn de Jager in einigen Zeitungen zum Ausdruck kam, nämlich ein unreflektiertes Gefühl von: „Da muss man einmal richtig auf die Pauke hauen!“, das in manchen Bevölkerungskreisen Vorurteilen Vorschub leistet. Natürlich ist ein Eingreifen nötig, aber nicht als blinder Aktionismus.

Wir vom SSW werden uns nur für eine Politik einsetzen, die den Betroffenen hilft und die die Probleme sachgerecht angeht.

(Beifall des Abgeordneten Jürgen Weber [SPD])

Eine Politik zur Verfestigung von Vorurteilen und zur Befriedigung von „law and order hardlinern“ ist nicht unser Ziel.

(Beifall beim SSW)

In dem Ursprungsantrag der CDU vermissen wir die Berücksichtigung und stärkere Herausarbeitung von familiären und sozialen Faktoren. Auch in dem Änderungsantrag der Regierungskoalitionen kamen diese nicht explizit zum Ausdruck.

Fernbleiben vom Unterricht ist ein weites Feld und kann sehr unterschiedliche Gründe haben. Es gibt entschuldigtes und unentschuldigtes Fernbleiben, es gibt durch Krankheit bedingte Fehlzeiten oder Fehlzeiten für Behördengänge und Vorstellungsgespräche. Es gibt Eltern, die ihre Kinder häufig zu Hause behalten, um auf kleinere Geschwister aufzupassen. Außerdem gibt es volljährige Schüler, die ihr entschuldigtes oder unentschuldigtes Fernbleiben selbst zu verantworten haben, und schließlich gibt es minderjährige Schülerinnen und Schüler, die Schule ganz einfach schwänzen.

Wenn Kinder und Jugendliche häufig und längere Zeit die Schule schwänzen, dann ist das oft ein alarmierendes Anzeichen für den Verlust von sozialen Bindungen. Zumindest kommen diese Schülerinnen

(Anke Spoorendonk)

und Schüler zumeist aus Familien mit großen sozialen Problemen.

Wenn es der Schule und anderen sozialen Einrichtungen nicht gelingt, diese Kinder und Jugendlichen aufzufangen und positiv einzubinden, dann kann das der Beginn oder die negative Verstärkung eines sozial entwurzelten und auch orientierungslosen Lebens sein. Wir müssen uns also Gedanken machen, was wir dagegen tun können.

(Wolfgang Kubicki [F.D.P.]: Genau!)

Ich meine allerdings nicht, dass uns in dieser Frage Sanktionen weiterbringen. Es reicht nicht aus, die Schülerinnen und Schüler lediglich in die Klassenräume zurückzubringen. Daher halte ich den unter anderem in Bayern gewählten Weg, die Polizei auf die Jagd nach Schulschwänzern zu schicken, um sie zurückzubringen, für zu kurz gegriffen und auch für kontraproduktiv.

Ich verkenne nicht - ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin -, dass ein schnelles Eingreifen erforderlich ist, um jene Folgeprobleme zu vermeiden, die entstehen, wenn die Schüler zu lange den Unterricht verpassen. Wenn wir aber über die Symptombehandlung hinauskommen wollen, brauchen wir ein Konzept, wie Schule, Sozialwesen und vielleicht auch Polizei so helfen können, dass auch die Ursachen des Schwänzens ins Blickfeld geraten. Ich denke dabei - das möchte ich hinzufügen - an das mit großem Erfolg praktizierte Konzept der SSP-Zusammenarbeit nördlich der Grenze, also der Zusammenarbeit von Schule, Sozialverwaltung und Polizei.

Zunächst aber bekommen wir einen Bericht und ich denke, dass mit diesem Bericht dann im Ausschuss gut weitergearbeitet werden kann.

(Beifall bei SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort hat die Ministerin für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur, Frau Ministerin Erdsiek-Rave.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn es doch alles so einfach wäre! Da veröffentlicht der Kriminologe - ansonsten von mir eigentlich sehr geschätzt - Christian Pfeiffer die Ergebnisse einer Studie - im Übrigen haben Sie Recht, Frau Spoorendonk, nicht etwa zum Thema „Absentismus“, sondern zum Thema „Gewalterfahrungen von Schülerinnen und Schü

lern“ -, nennt Zahlen zu der Problematik, die wir ja landläufig als Schulschwänzen bezeichnen, es rauscht im Blätterwald und die CDU hat ein Thema. Es wäre klüger gewesen, sich etwas differenziert mit dem Ergebnis dieser Studie zu befassen, einen Blick auf die Zahlen und auch auf die Methodik zu werfen, die dabei angewandt wurde, bevor man so leichtfertig einen Zusammenhang von Schulschwänzen und Schulpolitik herstellt.

Nun ist die Debatte dazu heute ja erfreulich sachlich gewesen. Auch waren Töne nicht zu hören, die zunächst in der Presseerklärung von Ihnen ja laut wurden. Das begrüße ich ausdrücklich.

Ich habe übrigens ebenfalls - wie es hier schon zu hören war - Probleme damit, in diesem Zusammenhang den Begriff des Absentismus zu verwenden. Es ist klar, dass dies ein Begriff ist, der sich mittlerweile in der pädagogischen Debatte eingebürgert hat, aber es wirkt auf mich schon befremdend, wenn man hierfür einen Begriff wählt, den diejenigen, die davon betroffen sind, mit Sicherheit nicht verstehen.

(Beifall bei SPD und F.D.P.)

Dann sei schon lieber der etymologischen Nachsuche des Kollegen Höppner zum Thema „Schwänzen“ hinzugefügt: Das Wort „schwänzen“ kommt ja aus dem Rotwelsch des 16. Jahrhunderts und meint „sich schwingend bewegen“, „herumgehen“, „flanieren“ und war bei den Studenten jener Zeit gebräuchlich, die nämlich die Vorlesungen schwänzten, um sich den Freuden des Studentenlebens hinzugeben. Also, diese Art des Schulschwänzens dürfte allen hier Anwesenden in der einen oder anderen Form bekannt oder vertraut sein.

Meine Damen und Herren, ich möchte natürlich nicht missverstanden werden: Jede Form des Schulschwänzens muss beobachtet werden und verpflichtet auch die Eltern, die Lehrer wie auch die politisch Verantwortlichen zu angemessenen Reaktionen. Wenn es wirklich so alarmierende Größenordnungen gäbe, wie von Ihnen ja zunächst einmal eins zu eins übernommen heute auch noch einmal bekräftigt -, dann hätten die Schulämter mit den Schulen gemeinsam in ihren Zuständigkeitsbereichen wirklich allen Grund gehabt, Alarm zu schlagen. Ich kann nur sagen: Welch ein Misstrauen besteht eigentlich bei Ihnen unseren Schulen und unseren Schulämtern gegenüber, wenn Sie diese Zahlen einfach so übernehmen?

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist nicht in Ordnung.

(Ministerin Ute Erdsiek-Rave)

Eigentlich ist es auch unter dem Niveau eines Parlaments, dass man hier erklären muss, dass das Fernbleiben von der Schule - oder so registriertes Fernbleiben von der Schule - mit Schwänzen nicht unbedingt etwas zu tun haben muss, sondern ganz unterschiedliche Ursachen haben kann: dass Abwesenheit auch Unterrichtsbefreiung, Vorstellungsgespräche in Betrieben, eine noch nicht vorgelegte Entschuldigung bedeuten kann. All dies hat übrigens Herr Pfeiffer in seiner Untersuchung überhaupt nicht registriert, sondern er hat selbst gesagt - ich zitiere -: „Am Befragungstag waren 135 Personen von insgesamt 1.452 aus unterschiedlichen Gründen (Krankheit, Schwänzen etc.) abwesend.“ Er hat also überhaupt nicht nachgeprüft: War das Schulschwänzen? Gibt es dafür irgendeinen Beleg?

Ein weiteres Nachgehen im Rahmen dieser Untersuchung war von ihm auch gar nicht beabsichtigt. Das war gewissermaßen ein Abfallprodukt. Ich finde damit gebe ich bereits eine Antwort auf die erste Frage des Berichtsantrags -: Das ist methodisch zumindest zweifelhaft, wenn nicht - aus unserer Sicht - unzulässig, was er da gemacht hat.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Blick in die Klassenbücher der an der Untersuchung beteiligten Schulen hat jedenfalls die Zahlen von Herrn Pfeiffer nicht bestätigt. Ich kann nur sagen: Von wem die Nachuntersuchung, die vom Schulamt Kiel durchgeführt worden ist, bestritten oder für unglaubwürdig gehalten wird, der muss mir das dann einmal erklären. Ich finde auch dieses Misstrauen einer Schulrätin oder einem Schulamt gegenüber nicht angebracht.

(Beifall der Angeordneten Irene Fröhlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Was dabei herausgekommen ist, hat nämlich gezeigt, dass nicht 15 % der Schülerinnen und Schüler am Tag der Untersuchung unentschuldigt fehlten, sondern nur 3 %. In Lübeck sind die Zahlen auch sehr differenziert zu beurteilen. Ich könnte Ihnen das jetzt genau darstellen, werde das aber dann in dem von Ihnen geforderten Bericht tun. Was hier behauptet wurde, wird dadurch also in höchstem Maße relativiert.

Damit will ich das ganze Thema überhaupt nicht bagatellisieren.

(Caroline Schwarz [CDU]: Also stimmt das alles nicht!)

- Wissen Sie, wenn man den populistischen Erfolg, den man damit beabsichtigt hat, erst einmal erzielt hat,

kann man sich ja hinterher wieder auf der sachlichen Ebene bewegen. Das ist auch eine Methode!

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will nicht missverstanden werden. Ich möchte das Problem als solches - das unentschuldigte Fernbleiben vom Unterricht aus den unterschiedlichsten, meist ja sozialen oder individuellen Gründen - hier überhaupt nicht verniedlichen. Das ist eine ganz komplexe Problematik und es ist heute viel Richtiges dazu gesagt worden. Dies aber einseitig der Schule, der Schulpolitik, den Lehrkräften in einer solchen Debatte anzulasten, finde ich unzulässig. Und schon gar nicht eignet sich diese ganze Problematik für einen Generalangriff auf die Hauptschule, meine Damen und Herren.

(Lothar Hay [SPD]: Ja, sehr gut!)

Ich bin Herrn Klug dankbar dafür, dass er das hier so deutlich gesagt hat. Ich finde, wir sollten aufhören, hier die Hauptschulen im Lande so schlecht zu reden, wie Sie es wieder gemacht haben.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wer die Hauptschule so schlecht redet, darf sich nicht wundern, wenn die Schüler irgendwann dort gar nicht mehr hingehen. Wer täglich vor Augen gehalten bekommt, dass sein Schulabschluss in dieser Gesellschaft eigentlich nichts mehr zählt, und wer ständig hört, dass der Besuch der Hauptschule den Weg in eine sehr unsichere Zukunft vorzeichne, und wer eben nicht auf der Sonnenseite der Gesellschaft steht, der muss schon eine gute Portion Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen mitbringen, um sein Leben eigenverantwortlich und selbstbewußt in die Hand zu nehmen. Gerade Hauptschülerinnen und Hauptschüler, aber auch die Schulen und die Lehrer, die dort arbeiten, brauchen Unterstützung, brauchen Ermutigung, brauchen Motivation. Die gibt man ihnen nicht, wenn man ein solches Thema in dieser Weise diskutiert.

(Beifall bei SPD und F.D.P.)

Womit wir Hauptschulen stärken und weiterentwickeln wollen, braucht an dieser Stelle wohl nicht gesagt zu werden. Wir haben das bisher eigentlich immer gemeinschaftlich diskutiert und haben gesagt: Das geht über personelle Verstärkung, über Verbesserung von Schule und Jugendarbeit und deren Zusammenarbeit, über die persönliche Zuwendung von Lehrkräften und auch über eine andere Orientierung des Hauptschulunterrichts mit mehr Praxis, mit mehr Wirtschaftsorientierung. Damit sind wir, was die Stärkung der Hauptschulen angeht, auf einem richti