Protocol of the Session on June 7, 2000

Die Studie von Herrn Pfeiffer ist zugegebenermaßen nicht unumstritten. Die darin enthaltenen Zahlen werden unter anderem von der Landesregierung bestritten. Wir hätten das Pfeiffer-Gutachten allein nicht zum Anlass für einen Berichtsantrag im SchleswigHolsteinischen Landtag genommen.

(Holger Astrup [SPD]: Da bin ich mir nicht so sicher!)

Jedoch decken sich die Ergebnisse der Pfeifferschen Untersuchung aus dem Frühjahr dieses Jahres, Herr Astrup, mit dem Ergebnis einer davon unabhängig durchgeführten Befragung des Lübecker Schulamtes vom November vergangenen Jahres. Darin wird von einer Absentismusrate an den Lübecker Hauptschulen von 16 % ausgegangen.

(Karl-Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viel?)

- 16 %! - Weiter wird darin ausgeführt, dass die Prozentzahlen je nach Jahrgangsstufe schwanken und in der Klassenstufe 7 den höchsten Anteil von bis zu 20 % erreichen. Ein weiteres Ergebnis der Lübecker Befragung besteht darin, dass Absentismus beziehungsweise unentschuldigtes Fernbleiben vom Unterricht im Wesentlichen ein Problem der Schulart Hauptschule und - wenngleich etwas anders gelagert der Förderschulen ist.

Auch dies deckt sich mit dem Ergebnis der Pfeifferschen Studie sowie mit Rückmeldungen, die wir als CDU-Fraktion von Schulleitern und Lehrerinnen und Lehrern aus den verschiedensten Teilen des Landes erhalten haben. Die alarmierenden Zahlen für die Hauptschulen in den beiden größten Städten Kiel und Lübeck haben wir zum Anlass genommen, einen Berichtsantrag im Schleswig-Holsteinischen Landtag zu stellen, weil wir Hinweise darauf haben, dass bis zu 16 % der Hauptschüler - oder anders ausgedrückt knapp jeder sechste Hauptschüler - mehr oder minder regelmäßig dem Unterricht unentschuldigt fernbleibt, und dies nicht einfach so hinnehmen können.

(Beifall bei der CDU)

Ich begrüße ausdrücklich, dass es heute tatsächlich zu einem gemeinsamen Antrag der Fraktionen gekommen ist, dem - anders als in der Drucksache ausgewiesen auch die Abgeordneten des SSW beitreten wollen. Es wird also ein gemeinsamer Antrag aller im Hause vertretenen Parteien sein. Er besteht darin, dass wir die sechs Punkte des Antrages der Fraktionen von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN übernommen und um zwei Punkte des CDU-Antrages erweitert haben.

Das ist insofern unkompliziert, als die sechs Punkte des Antrages von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eigentlich nur eine Umformulierung unserer Punkte waren. Daher haben wir kein Problem damit, das zu übernehmen.

Ich freue mich umso mehr, dass es zu einem gemeinsamen Antrag gekommen ist, weil es bei den ersten Reaktionen auf unseren Berichtsantrag auch zu Häme gekommen ist, Herr Weber. Umso mehr freue ich mich, dass Sie sich ebenso tatkräftig wie wir für einen gemeinsamen Antrag ausgesprochen haben.

(Beifall bei der CDU)

Wir wollen mit diesem Antrag Ursachen für etwas ermitteln, was offenkundig falsch läuft. Denn eine schulpolitische Variante hat dieses Thema schon. Mit Verlaub, Frau Ministerin, es ist nicht unanständig und es ist auch nicht billig, auf die schulpolitischen Verantwortlichkeiten auch bei einem Thema wie Absentismus hinzuweisen.

(Beifall des Abgeordneten Klaus Schlie [CDU])

Der Pfeiffer-Studie zufolge gibt es ein Nord-SüdGefälle in den Absentismusraten und das muss seine Gründe haben. Eine der Begründungen, wonach dies unter anderem daran liege, dass Hauptschulen in Schleswig-Holstein zum Teil zu „Restschulen“ geworden seien, stammt nicht von mir, sondern von Herrn Pfeiffer.

Deshalb wollen wir unseren Berichtsantrag nicht allein als einen Auftrag zum Sammeln von Daten verstanden wissen, sondern als Auftakt einer schulpolitischen Diskussion aufgrund dieser Daten. Diese Daten zusammenzutragen kann bei einer funktionierenden Schulaufsicht nicht so furchtbar schwierig sein.

(Beifall des Abgeordneten Wolfgang Kubicki [F.D.P.])

Deshalb gehe ich davon aus, dass wir in Kürze Datenmaterial vorliegen haben werden.

Ich bin mir sicher, dass mir im Verlauf der Debatte vorgehalten wird, wir bauschten als Opposition die Zahlen auf und nähmen eine Höhe von Zahlen an, die es gar nicht gebe.

(Wolfgang Kubicki [F.D.P.]: Populismus!)

Sie werden unter anderem darauf verweisen, dass es eine Untersuchung des Kieler Schulamtes gibt, die allerdings, Frau Ministerin, nicht minder umstritten ist. Wenn wir schon eine verwirrende Datenlage haben, dann sollten wir zumindest eine vernünftige Grundlage haben. Deshalb ist es wichtig, die Daten

(Jost de Jager)

für diesen Bericht über einen längeren Zeitraum zu erfassen, nicht nur an einem Stichtag.

(Beifall der Abgeordneten Frauke Tengler [CDU])

Meine Damen und Herren, drei Aspekte werden von Bedeutung sein. Erstens: Eine der Fragen, die uns die Landesregierung beantworten soll, ist die, ob es ein Stadt-Land-Gefälle bei den Absentismusraten an den Schulen gibt. Bislang sind uns Untersuchungen vor allem für die Städte bekannt. Gemeinhin wird in der sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft ein solches Stadt-Land-Gefälle angenommen. Ob dies immer noch zutrifft, wage ich zu bezweifeln.

Zweitens: Wir müssen zwischen gelegentlichen Abwesenheitszeiten und regelmäßigem, dauerhaftem Fehlen unterscheiden. Das Thema sind nicht diejenigen, die ab und zu einmal eine Stunde blau machen, Sorgen müssen uns diejenigen bereiten, die der Schule unter Umständen auf Dauer verloren zu gehen drohen, weil sie ihr über längere Zeit fern bleiben. Hier liegt der Ansatz, über pädagogische und über darüber hinausgehende Maßnahmen nachzudenken.

Damit wären wir, Herr Weber, bei den Ordnungsmaßnahmen. Unser ursprünglicher Berichtsantrag ist Auslöser für eine zum Teil besonders bemerkenswerte Form der political correctness gewesen. All denjenigen, die jetzt schon das Horrorszenario ausrückender Hundertschaften von Polizeibeamten an die Wand malen, um Schulschwänzer einzufangen, halte ich entgegen: Der Innenminister kann sich zurücklehnen, was er offenbar tut, denn er ist gar nicht da. Wir wollen nicht mit dem Innenminister, sondern mit der Bildungsministerin darüber reden.

Es ist ein hoch politisches Thema. Ich möchte darauf verweisen, dass der Ruf nach verschärften Ordnungsmaßnahmen vor allem auch von Schulleitern kommt. Ich weise auf die Berichterstattung der „Kieler Nachrichten“ und anderer Zeitungen hin, in denen sich anlässlich der Veröffentlichung der Studie Schulleute dahin gehend geäußert haben.

Ordnungsmaßnahmen müssen ja nicht erst erfunden werden, die gibt es schon. Es stellt sich allerdings die Frage, inwieweit in Schleswig-Holstein von diesen Möglichkeiten Gebraucht gemacht wird und welche Wirksamkeit diese Maßnahmen haben. Die Antwort darauf findet man nicht in Vorfestlegungen, sondern aufgrund einer ergebnisoffenen Prüfung. Zu klären ist, ob Schulen und Klassenlehrer mit dem Problem nicht allein gelassen werden. Es gibt unseres Wissens keine einheitlichen Reaktionskataloge für anhaltenden Absentismus oder Verhaltensvorschläge der Schulaufsicht. Autonomie ist ja eine gute Sache, schulaufsicht

liche Rückenstärkung oder Hilfestellung allerdings auch.

Drittens gehört dazu anzuerkennen, dass das Eindämmen von unentschuldigtem Fernbleiben von der Schule und Prävention durchaus etwas miteinander zu tun haben. Ich darf in diesem Zusammenhang auf den Kommentar der „Kieler Nachrichten“ vom 12. April dieses Jahres verweisen, in dem darauf hingewiesen wurde, dass Absentismus eines der Frühwarnsysteme für mögliche kriminelle Karrieren sein kann. Es geht darum zu identifizieren, an welchen Punkten Schulsozialarbeit stärker als bisher einsetzen muss.

Wir verstehen unseren Berichtsantrag durchaus als einen Teil unserer Initiative, die Hauptschulen wieder zu stärken. Schulsozialarbeit, Ausweitung von Ganztagsbetreuungsangeboten, die stärkere Zusammenarbeit von Schulen, Schulträgern und Jugendhilfeträgern sind wichtige Punkte. Die Grünen denken zum Teil ja ebenfalls in diese Richtung.

Der Ansatz dieser Arbeit beginnt dort, wo der Verweis auf die Elternhäuser nicht mehr hilft, sondern wo wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Schulen den Erziehungsauftrag ausführen müssen, den die Elternhäuser zum Teil nicht mehr erfüllen können.

Wenn man den Schulen diese Aufgabe zuweist, muss man sie auch dazu in die Lage versetzen. Das trifft insbesondere auf die Hauptschulen zu. Es gilt in diesem Zusammenhang, den Blick dafür zu schärfen, dass irgendjemand im Zusammenspiel von Schule und Jugendhilfe die Initiative in solchen Fällen ergreifen muss, um das zu verhindern, was ein Sozialarbeiter mir gegenüber kürzlich eine „Kettenreaktion der Gleichgültigkeit“ in allen Verantwortungsbereichen genannt hat.

Meine Damen und Herren, ich erwarte von der Landesregierung einen umfassenden Bericht, der nicht allein den Zweck verfolgt, unliebsame Studien zu widerlegen, sondern der eine ehrliche Bestandsaufnahme der Situation in Schleswig-Holstein gibt. Ich freue mich darüber, dass wir in dieser Frage nach anfangs unterschiedlichen Reaktionen insgesamt zu einem Konsens gekommen sind. Ich freue mich auf vernünftige, sachliche Beratungen hier im Hause und später im Ausschuss.

(Beifall bei CDU, F.D.P. und des SSW)

Das Wort für die SPD-Fraktion hat jetzt in seinem ersten Redebeitrag vor dem Plenum Herr Abgeordneter Dr. Henning Höppner.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Begriff „Absentismus“ scheint das Unwort des Jahres 2000 geboren zu sein. Wenn Sie in einem gängigen Lexikon nachschauen, werden Sie dort die Erklärung finden, Absentismus sei die gewohnheitsgemäße Abwesenheit der Großgrundbesitzer von ihren Gütern.

(Heiterkeit bei SPD und SSW)

An anderer Stelle, im Lexikon für Theologie und Kirche, wird erklärt, Absentismus sei die unter Strafe zu stellende Abwesenheit der Kleriker von ihren Kirchendiensten. Eine dritte Quelle besagt, Absentismus sei der dauerhafte Verstoß gegen die Residenzpflicht.

Meine Damen und Herren, Schwänzen ist ein sehr altes Phänomen. Ich denke, das gibt es, seit es Schule gibt. Ich habe einmal in einem Schulprotokoll aus dem Jahr 1865/66 nachgelesen. Es stammt aus einer Gutsschule im Kreis Plön. Dort haben nur drei der 53 Schülerinnen und Schüler die Schule alle 111 möglichen Schultage besucht. Zu den Fehlzeiten der anderen Schülerinnen und Schüler gab es in dem Protokoll folgende Bemerkungen:

„Anna. 22,5 Tage versäumt. Hütet angeblich Gänse.

Elise. Hilft der Herrschaft. Dispens bis Dezember.“

Unter einer Vielzahl von Schülerinnen und Schülern steht: „Fehlte ohne Erlaubnis.“

(Zuruf von der CDU: Wollen Sie das wieder einführen?)

Selbst seit wir die Schulaufsicht eingeführt haben, selbst seit es eine Schulpflicht gibt, begleitet uns dieses Phänomen andauernd, meine Damen und Herren. Die Schulpflicht besteht für Kinder und Jugendliche. Aber die Verantwortung für die Erfüllung des Schulbesuches tragen die Eltern, die Erziehungsberechtigten, solange die Schülerinnen und Schüler nicht volljährig sind.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Sie können das in allen Schulgesetzen, die das Bundesland Schleswig-Holstein seit seiner Gründung verabschiedet hat, nachlesen. Unser Kinder- und Jugendhilferecht beschreibt ausdrücklich, dass die Pflege und die Erziehung der Kinder und Jugendlichen zuvörderst eine Pflicht der Eltern ist. Es gibt, liebe Kolleginnen und Kollegen, folglich keine gesetzliche Verpflichtung etwa der Schulen, der Schulträger oder der Träger der Schülerbeförderung, die Schülerinnen und Schüler einzusammeln und dem Unterricht zuzuführen. Das ist

vielmehr eine Pflicht der Eltern. Ich denke, wir tun alle gut daran, auch weiterhin die Auffassung zu teilen, dass die Verantwortung für den Schulbesuch eine Elternpflicht ist.

(Beifall des Abgeordneten Dr. Ekkehard Klug [F.D.P.])

Anders gesprochen, meine Damen und Herren: Wir werden den Problemen des Schwänzens nicht gerecht, wenn wir dies vorrangig unter kriminologischen oder ordnungsrechtlichen Aspekten betrachten und wenn wir nicht auf die Erziehungsberechtigten eingehen.

(Vizepräsidentin Dr. Gabriele Kötschau übernimmt den Vorsitz)