Protocol of the Session on December 14, 2001

Nationalität, aber insbesondere der nicht deutschen Schüler, beiträgt. Denn der typische schwache Leser ist laut PISA der männliche Jugendliche aus einer Migranten- oder sozial benachteiligten Familie.

Wir haben heute schon gehört, dass die Mädchen beim Leseverständnis wesentlich besser abschneiden als die Jungen. Das heißt, das Ziel, durch die Bildungspolitik, Chancengleichheit und gesellschaftlichen Aufstieg zu ermöglichen, wird hierzulande scheinbar überhaupt nicht erreicht. Das ist angesichts der bildungspolitischen Diskussion der letzten 30 Jahre äußerst ernüchternd.

(Beifall der Abgeordneten Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich möchte diesen letzten Punkt besonders hervorheben, denn es ist ja nicht so, dass wir erst jetzt anfangen, eine bildungspolitische Debatte zu führen. Ich kann mich noch gut an die Diskussionen in den 70erJahren erinnern, wo es um Chancengleichheit ging.

(Beifall beim SSW und der Abgeordneten Lothar Hay [SPD], Jürgen Weber [SPD] und Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN])

Laut Veröffentlichungen sieht die Bildungsministerin die Hauptprobleme im Unterricht selbst. Sie ist der Meinung - wenn ich das richtig verstanden habe -, dass beispielsweise das anwendungsbezogene Wissen und das Verständnis von Texten - insbesondere den schwächeren Schülern - nicht genug vermittelt wird. Sie vertritt dazu die Auffassung, dass wir eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Eltern und Bildungseinrichtungen brauchen und bereits im Kindergarten unsere Kinder besser mit Texten und Büchern vertraut machen sollten. Auch die Ausbildung und Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer muss verbessert werden. Alle angesprochenen Punkte sind richtig und werden auch vom SSW unterstützt. Das heißt, das Umfeld und der Inhalt der Schule müssen verbessert werden - in einer gemeinsamen Anstrengung von Eltern, Lehrkräften und Politikern, die die Rahmenbedingungen setzen müssen.

Darüber hinaus kommen wir nicht darum herum, uns auch mit der Frage der Ressourcen und Strukturen zu befassen. Auch bei den Ressourcen, die die Bundesrepublik pro Schülerin und Schüler einsetzt, liegen wir relativ weit hinten im Feld der Industrienationen. Dass das ein faktisches Problem ist, zeigt sich darin, dass wir in fast allen Bundesländern ein Problem mit der Unterrichtsversorgung haben. Kurz gesagt: Wir müssen mehr Ressourcen für die Bildung freisetzen, wenn wir im internationalen Vergleich in Zukunft mithalten

(Anke Spoorendonk)

wollen und wenn wir etwas für unsere Kinder und Jugendlichen tun wollen.

(Beifall der Abgeordneten Lars Harms [SSW] und Dr. Ekkehard Klug [FDP] - Syl- via Eisenberg [CDU]: Warum habt ihr denn unsere Anträge abgelehnt?)

Dazu sollte es aus Sicht des SSW allen Verantwortlichen zu denken geben, dass in den weitaus meisten Industrieländern, die im Schulleistungstest PISA weit vor der Bundesrepublik liegen, die Schülerinnen und Schüler bis zur 9. Klasse gemeinsam die Schule besuchen.

(Beifall der Abgeordneten Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] - Lars Harms [SSW]: Eben!)

Ein gegliedertes Schulsystem ab der 4. Klasse gibt es nur in der Bundesrepublik, in der Schweiz und in Österreich.

(Lars Harms [SSW]: Das ist mittelalterlich!)

Für uns heißt das, das gegliederte Schulsystem - so wie wir es kennen - hat keine Zukunft.

(Beifall des Abgeordneten Lars Harms [SSW] und bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN)

Es ist nicht nur zu teuer, sondern es verschlechtert auch die Chancengleichheit für die Schülerinnen und Schüler aus sozial schwachen Familien und trägt dazu bei, dass die Bundesrepublik ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit in Gefahr bringt - wenn man unbedingt diesen wirtschaftspolitischen Aspekt mit anführen möchte. Das heißt zwar nicht, dass die ungeteilte Schule immer nur gute Ergebnisse bringt oder ohne Probleme ist. So liegt beispielsweise Dänemark in vielen Bereichen nur im Mittelfeld der PISA-Studie. Aber die ungeteilte Schule kann viel besser zur Integration der Schülerinnen und Schüler beitragen. So ist es beispielsweise bemerkenswert - ich kenne nur die dänischen Zahlen -, dass die dänischen Schülerinnen und Schüler laut einer anderen Studie über einen sehr hohen Grad an sozialer Kompetenz verfügen und sehr gern zur Schule gehen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegt unserer Meinung nach an der ungeteilten Schule.

(Beifall der Abgeordneten Lars Harms [SSW] und Helmut Plüschau [SPD])

Der Kollege Klug sprach vorhin das Problem Bildung insgesamt an. Ich teile seine Auffassung, dass Bildung sehr viel mehr ist als Schule. Das heißt, wenn wir uns mit unserem Bildungssystem auseinander setzen, müssen wir auch weiter denken, wir müssen die Frage mit

einbeziehen, wie wir insgesamt in unserer Gesellschaft mit den Kindern und Jugendlichen umgehen, wie sie von uns akzeptiert werden.

(Beifall beim SSW und vereinzelt bei der SPD sowie des Abgeordneten Dr. Ekkehard Klug [FDP])

Und wir müssen mit einbeziehen, welche Möglichkeiten wir den jungen Leuten bieten, das Lesevergnügen kennen zu lernen. Das Stichwort hierzu ist die Zukunft unserer Bibliotheken und Büchereien. Nördlich der Grenze hat man kürzlich ein neues Bibliotheksgesetz eingeführt, das genau auf diese neuen Herausforderungen eingeht. Ich denke, da kann man den berühmten Blick über den Tellerrand einmal wagen.

(Beifall der Abgeordneten Lars Harms [SSW], Lothar Hay [SPD] und Irene Fröhlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Der SSW mahnt schon seit Jahren in den bildungspolitischen Debatten des Landtages grundlegende Reformen des Schulsystems und auch der Lehrerbildung an. Leider versucht man immer nur, an dem Problem herumzudoktern - das muss ich einmal sagen -, statt endlich das gegliederte Schulsystem aufzubrechen. Wir wollen es gar nicht abschaffen, wir wollen es lediglich aufbrechen. Die Mehrheit im Landtag war liebe Kolleginnen und Kollegen, das haben Sie vielleicht schon vergessen - nicht bereit, kleine Schritte in diese Richtung zu gehen. So wurde zum Beispiel unsere im Frühjahr aufgestellte Forderung nach der Einführung einer sechsjährigen Grundschule auf regionaler Ebene vom Landtag abgelehnt. Es geht aber kein Weg daran vorbei: Wir müssen endlich eine grundlegendere Reform des Schulsystems in Angriff nehmen. Wir wollen keine Grabenkämpfe - das sagte ich anfangs schon -, aber ich wage zu bezweifeln, ob wir uns weiter über inhaltliche Fragen austauschen können, ohne uns auch mit den Strukturen zu beschäftigen. Das wird nicht gehen.

(Beifall bei SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte noch eine Bemerkung zum Kollegen de Jager machen, der in seinem Beitrag von einem Wettbewerb der bildungspolitischen Ideen sprach und sich gleichzeitig gegen ideologische Grabenkrämpfe

(Heiterkeit und Beifall)

- Grabenkrämpfe und Grabenkämpfe - aussprach. Wenn das, was er gesagt hat, nicht von ideologischen

(Anke Spoorendonk)

Ideen und Grabenkämpfen geprägt war, weiß ich nicht, wovon er geredet hat.

(Beifall beim SSW - Klaus Schlie [CDU]: Was war mit dem Beitrag eben, das war doch pure Ideologie!)

- Lieber Kollege Schlie, ich stehe dazu, ich führe aber keine Grabenkämpfe.

(Martin Kayenburg [CDU]: Sie machen Ideologie pur!)

- Das machen Sie auch. Ich möchte zum Schluss noch eine Sache ansprechen.

(Glocke der Präsidentin)

Aber bitte kommen Sie dann zum Schluss, Frau Abgeordnete!

Das werde ich auch tun, Frau Präsidentin.

Wenn man meint, alles bewältigen zu können, indem man den Begriff Leistung neu definiert, indem man fordert, von Anfang an Noten zu geben, und wenn man meint, die Förderung von benachteiligten Kindern im außerschulischen Bereich ansiedeln zu können, ist das wirklich eine Rolle rückwärts.

(Beifall bei SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zu einem Kurzbeitrag nach § 56 Abs. 4 der Geschäftsordnung hat zunächst Herr Abgeordneter Greve das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Vier kurze Gedanken!

Erstens. Das Thema eignet sich nicht zur Polemik zwischen den Parteien. Alle führenden Parteien haben entschieden dazu beigetragen, dass das Ergebnis der PISA-Studie so aussieht, wie es jetzt aussieht.

Zweitens. Jürgen Weber hat Recht, wenn er sagt, dass es keinen Anlass zur Panik gibt. Es ist Anlass zur nüchternen Analyse und nicht zu hektischem oder unsinnigem Handeln, sondern wir müssen einen Weg gehen, der durchdachtes Handeln in dieser Frage möglich macht.

Drittens. Es wird Zeit, dass wir das Thema ernst nehmen. Ich darf daran erinnern, dass wir schon einmal

mit der Herzog-Rede die Chance hatten, das Thema groß aufzugreifen, und dass wir auch mit der GreenCard die Chance hatten, das Thema groß aufzugreifen.

(Holger Astrup [SPD]: Grüne Karte! - Martin Kayenburg [CDU]: Geben Sie Astrup lieber die rote Karte!)

Wenn Sie einmal die Grundlage der Green-Card im Auge haben, sollten wir uns die wirklich wichtige Frage stellen: Wie muss ein Bildungssystem ausschauen, das über fast ein Jahrhundert Menschen in alle Welt gebracht hat, die dort großes geleistet haben? Wir haben Bildung in riesigem Maßstab exportiert. Dass auf einmal ein solches Land in Entwicklungsländern darum bettelt, Computerexperten zu finden, ist doch ein Armutszeugnis für ein Bildungswesen, wie es schlimmer gar nicht sein kann. Das hätte uns doch wachmachen müssen!

(Beifall bei der CDU)

Auch die Grünen hätte es unter einem anderen Aspekt wachmachen müssen. Wenn Sie einmal darüber nachdenken: Wenn wir den Entwicklungsländern auch noch die mühsam herangezogenen jungen Eliten entziehen, haben wir dann morgen nicht nur Hunderttausende, sondern Millionen Armutswanderer?

(Zuruf der Abgeordneten Irene Fröhlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Viertens. Es muss uns zu denken geben, dass die Bildungsergebnisse in früherer Zeit besser waren. Denken Sie einmal an die Jahre 1945 bis 1955: Da haben die Menschen die Bücher aus dem Schutt der Universitäten geklaubt. Aber die Bildungsergebnisse waren zum Teil besser als heute.