Protocol of the Session on January 26, 2001

nen maßgeblichen Anteil daran, dass dieses Thema so lange Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg doch noch aufgegriffen wurde. Das war längst überfällig. Der eigentliche Skandal besteht darin, dass sich vorher keiner der berechtigten Forderungen der Betroffenen angenommen hat.

Im Dritten Reich wurden aus den von Deutschland überfallenen und besetzten Ländern sowie aus Konzentrationslagern, Kriegsgefangenenlagern und Haftanstalten schätzungsweise mehr als 10 Millionen Menschen als Arbeitssklaven eingesetzt. Ich benutze das Wort Sklaven bewusst, weil es sich bei dem überwiegenden Teil um Menschen handelte, die gegen ihren Willen zur Arbeit gezwungen wurden. Nicht alle Zwangsarbeiter wurden wie Sklaven behandelt. Wir wissen aber, dass die meisten von ihnen unter schlimmen Bedingungen in Industrieunternehmen, in Städten und Kommunen oder bei Landwirten gearbeitet haben.

Mit dem von der Bundesregierung und der Wirtschaft gegründeten Stiftungsfonds ist es jetzt - über 55 Jahre nach Kriegsende - die allerletzte Möglichkeit, durch die finanzielle Entschädigung dieser Opfer des NSUnrechtregimes jedenfalls ein Minimum an Wiedergutmachung zu erreichen.

In Schleswig-Holstein wurden überproportional viele Zwangsarbeiter beschäftigt. Das hat die Studie des Instituts für Zeit- und Regionalgeschichte eindrucksvoll bestätigt. Das Gutachten wurde vom Land in Auftrag gegeben, vom Land gefördert und in knapp einem halben Jahr fertig gestellt. Es sieht sich selbst als Bestandsaufnahme und macht keinen Hehl daraus, dass es nicht nur „ein Novum in seinem Ergebnis, zugleich aber auch in seinem Zustandekommen“ ist.

Was mich fasziniert und wofür ich den Autoren auch danken möchte, ist die Tatsache, dass es ihnen mit dieser Studie gelungen ist, der Entschädigungsdebatte neue Impulse zu geben. Es ist ihnen gelungen, diese Debatte anhand ihrer Untersuchungen aus dem wissenschaftlichen Raum herauszuholen. Dies geschah zum Beispiel dadurch, dass sie die Ergebnisse ihrer Arbeit in den Zeitungen eines bekannten Zeitungsverlags veröffentlichten.

(Beifall bei SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wissen also nun, dass es in Schleswig-Holstein in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur mindestens 250.000 Fremdarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge gab, die als Zwangsarbeiter bezeichnet werden können. Der größte Teil kam aus der Sowjetunion und aus Polen. Aber auch Menschen aus Dänemark, Frankreich, Belgien und Holland wurden gegen

ihren Willen zur Zwangsarbeit in Schleswig-Holstein gezwungen.

Der Antrag von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN befasst sich mit den Konsequenzen, die aus den Erkenntnissen des IZRG-Gutachtens zu ziehen sind. Mit am wichtigsten ist für uns die Situation des Entschädigungsfonds. Es ist nach wie vor ein Skandal, dass die Wirtschaft ihre Verpflichtung zur Einzahlung in diesen Fonds immer noch nicht erfüllt hat, während gleichzeitig immer mehr der überlebenden Zwangsarbeiter sterben.

(Beifall bei SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ganz aktuell befinden wir uns in der grotesken Situation, dass die Unternehmen erst einbezahlen wollen, wenn eine Rechtsgarantie der amerikanischen Behörden vorliegt, während diese Rechtsgarantie davon abhängt, ob die Einzahlungen endlich eingehen. Auch in Schleswig-Holstein ist die Beteiligung der betroffenen Unternehmen an dem Stiftungsfonds immer noch schleppend.

Dagegen ist es positiv, dass es eine ganze Reihe von Kommunen und Städten gibt, die sich moralisch und praktisch dazu verpflichtet haben, sich an diesem Fonds zu beteiligen. Auch wenn es heute sicherlich schwer ist, in der Landwirtschaft Nachfolgebetriebe zu finden, die Zwangsarbeiter beschäftigt hatten, wäre es wünschenswert, dass sich - über die Beteiligung der landwirtschaftlichen Rentenkassen hinaus - zumindest die landwirtschaftlichen Organisationen symbolisch an dem Stiftungsfonds beteiligen.

Wir begrüßen, dass der Landtag mit diesem Antrag Firmen und landwirtschaftliche Betriebe auffordert, sich dem Stiftungsfonds anzuschließen. Das steht uns gut zu Gesicht. Wie Sie alle wissen, wollte der SSW dies schon vor rund einem halben Jahr herbeiführen.

Der vorliegende Antrag greift einen weiteren wichtigen Punkt auf, nämlich die Quellenlage. Aus Sicht des SSW ist es nicht genug, wenn wir an die Bevölkerung und an die Firmen in Schleswig-Holstein appellieren, Informationen zur Verfügung zu stellen, damit das Wissen über die Geschichte der Zwangsarbeiter vertieft werden kann. Wir meinen, wir sollten uns damit auseinander setzen, ob es nicht möglich ist, dass die schleswig-holsteinische Wirtschaft in eigenständiger Verantwortung mit den Industrie- und Handelskammern und mit öffentlichen Archiven zur Einrichtung eines Wirtschaftsarchivs bewegt werden kann. Wir werden diesen Ansatz zu einem späteren Zeitpunkt in geeigneter Weise wieder aufgreifen.

Insbesondere im Bundesland Nordrhein-Westfalen gibt es solche Wirtschaftsarchive, die auch maßgeblich zur

(Anke Spoorendonk)

Aufarbeitung der Geschichte der Zwangsarbeiter in ihren Einzugsgebieten beigetragen haben. Sowohl von der Wirtschaft und den Kommunen als auch seitens der Archivare gibt es die Forderung nach einem zentralen Wirtschaftsarchiv in Schleswig-Holstein. Die Aufarbeitung der Geschichte der Zwangsarbeiter wäre eine gute Gelegenheit, diesen Schritt zu tun. Zwar gibt es - wie schon gesagt - bereits Firmen - im Gutachten wird von 150 gesprochen -, die eine vorbildliche Aufarbeitung ihrer Zwangsarbeitergeschichte geleistet haben; andere können und müssen aber noch folgen.

Für mich persönlich ist es wichtig, dass sich bei uns im Landesteil Schleswig besonders die FSG mit diesem Kapitel ihrer Geschichte auseinander gesetzt hat. Für viele ehemalige Zwangsarbeiter kommt es fast noch mehr darauf an, dass ihre Geschichte nicht mehr verdrängt und vergessen wird.

(Beifall im ganzen Haus)

Frau Ministerin Erdsiek-Rave hat das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt Begriffe, mit denen ich Schwierigkeiten habe. Zu diesen Begriffen gehören „Entschädigung“ und „Wiedergutmachung“. Man kann die Opfer von Verbrechen eben nicht mit Geld entschädigen. Mit Geld können Verbrechen und Böses nicht zum Guten gewendet werden. Die Verschleppung von Millionen Frauen und Männern, ihre Entrechtung, ihre brutale Vernichtung und die Missachtung ihrer Menschenwürde waren planvoll darauf angelegt, die grenzenlose Ausbeutung dieser Menschen durch Arbeit bis hin zu ihrer in Kauf genommenen Vernichtung zu erreichen. Für alle, die damals ihr Leben verloren haben, kommt jeder Versuch, in Geld auszudrücken, dass Verantwortung übernommen wird, zu spät. Ebenso zu spät kommt dies für diejenigen, die schon tot sind.

Es ist grausam und beschämend, das sagen zu müssen. Wir laden uns damit so etwas wie eine zweite Schuld auf. Umso wichtiger ist es, dass wir den Überlebenden schnell die vereinbarten humanitären Leistungen zukommen lassen.

Das gilt vor allem für die in Osteuropa Lebenden, die seit mehr als 55 Jahren auf eine Geste derjenigen warten, die mittelbar oder unmittelbar vom Leid der Zwangsarbeiter profitiert haben. Bei allen Bemühungen, die von deutscher Seite in den letzten Jahren darauf gerichtet waren, von Worten zu Taten zu kommen, bleiben es sehr bescheidene Beiträge, die die Einzel

nen erhalten werden. Deswegen kommt es auch darauf an, dass man sich in den Städten und Gemeinden an die noch lebenden Menschen erinnert, die damals aus den von uns Deutschen besetzten und mit Krieg überzogenen Ländern zu uns verschleppt wurden.

Ich finde es anrührend zu lesen, auf welche Suche sich Schleswig-Holsteiner in Dörfern und Städten begeben haben, um wieder Verbindung zu den Männern und Frauen zu bekommen, die Jahre ihres Lebens bei uns verbracht haben.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Vermutlich sind das gerade diejenigen, die auch in den Kriegsjahren um einen anständigen Umgang miteinander bemüht waren, die das jetzt tun.

Aber all diese guten Beispiele können natürlich nicht überdecken, dass anderenorts und in großer Mehrzahl - im Gutachten ist das nachzulesen - schwerste Arbeit und Prügel und Essensentzug und Denunziation von Verstößen gegen willkürlich erlassene Regeln das Leben der Verschleppten bestimmt haben. Worunter sie am meisten litten, war die Ungewissheit über ihre Zukunft, ihre Vereinsamung, ihr Heimweh. Da gab es - das ist nur eines der Beispiele, die man nachlesen kann - die drei jungen Polinnen, die bei Nacht und Nebel ihren Arbeitsplatz verlassen haben, um sich zu Fuß von Schleswig-Holstein aus auf den Weg nach Hause zu machen. Über ihr Schicksal und das vieler anderer wissen wir nichts. Wir wissen nicht, ob sie jemals angekommen sind.

Für viele der noch lebenden Opfer ist ein Geldbetrag wichtig. Ich will das überhaupt nicht klein reden. Aber es ist vielleicht nicht das Entscheidende. Die Opfer wollen, dass ihr Leid als Leid anerkannt wird und dass ihre Verschleppung zur Sklavenarbeit in die Kriegsmaschinerie der Nationalsozialisten - wenn auch spät als Verbrechen gebrandmarkt wird. Dort, wo mit Geld noch geholfen werden kann, sind wir in der Pflicht der Staat und die Wirtschaft, die von der Zwangsarbeit profitiert haben.

Ich beteilige mich jetzt nicht daran, einzelne Firmen an den Pranger zu stellen. Aber ich finde, es ist eine Schande, dass die zugesagte Summe nicht aufgebracht wird.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW sowie der Abgeordneten Uwe Eichelberg [CDU], Roswitha Strauß [CDU] und Joachim Behm [F.D.P.])

Das Land hat einen - zugegebenermaßen bescheidenen - Beitrag dadurch geleistet, dass es ein Gutachten in Auftrag gegeben und damit ein Kapitel bearbeitet hat,

(Ministerin Ute Erdsiek-Rave)

das bislang eben unerschlossen war. Es ist auch selbstverständlich, dass wir dem Wunsch der Bundesstiftung nachkommen und bei der Überprüfung der Ansprüche ehemaliger Zwangsarbeiter helfen.

Die Landesregierung hat in der letzten Woche beschlossen, das Landesarchiv in Schleswig damit zu beauftragen, weil es über den größten staatlichen Bestand an Unterlagen zu diesem Thema verfügt. Das Landesarchiv wird dabei nicht nur Auskünfte erteilen, sondern auch koordinierend tätig sein - für Kommunen, Firmen und öffentlich-rechtliche Körperschaften im Land. Wir gehen davon aus, dass allein in Schleswig-Holstein ungefähr 25.000 Anträge bearbeitet werden müssen. 25.000 Anträge, das klingt viel, aber es ist noch nicht einmal ein Zehntel der Opfer, die dort Anträge werden stellen können.

Der Antrag, der uns jetzt vorliegt, hat als Grundlage die Studie, die ich schon genannt habe. Mit dieser Studie wird ein Kapitel aufgeschlagen, das bisher im Dunkeln lag. Ich weiß, dass es nicht das letzte Kapitel aus der Geschichte des Nationalsozialismus ist, das bearbeitet werden muss.

Was gut ist, ist, dass diese Studie schon eine ganze Reihe von Folgewirkungen gehabt hat, weitere Forschungsarbeiten, die dadurch initiiert wurden, und viele Initiativen in den Kommunalparlamenten. Ich nenne beispielsweise den Kreis Schleswig-Flensburg und auch den Kreis Rendsburg-Eckernförde.

Meine Damen und Herren, morgen ist der 27. Januar auch ich will das noch einmal sagen -, der Tag des Gedenkens der Opfer des Nationalsozialismus. Es ist der Tag, an dem die noch im KZ Auschwitz verbliebenen 7.000 kranken und sterbenden Menschen von der Roten Armee befreit wurden. Die anderen Gefangenen dieses Konzentrationslagers - 58.000 an der Zahl waren kurz zuvor auf ihren Todesmarsch geschickt worden, der für einige von ihnen, für die wenigen Überlebenden, in Lübeck und in Ahrensbök endete.

Der Titel des Buches, das ich morgen Abend in der Lübecker Synagoge symbolisch an die Schülerinnen und Schüler in Schleswig-Holstein übergeben werde, gilt auch für dieses Kapitel: „Erzählt es euren Kindern“.

Die Entschließung, über die wir heute abstimmen, ist mehr als die Bekundung eines Willens. Es ist, wie es darin heißt, auch die an die Opfer gerichtete Bitte um Vergebung. Es wäre in der Tat peinlich, wenn das der einzige Beitrag wäre, den wir jeweils zu diesem Thema oder in diese Richtung auch als Landtag geleistet hätten. Aber so ist es nicht.

(Vereinzelter Beifall bei SPD und F.D.P.)

So ist es zum Glück nicht. Ich erinnere mich an viele gute Debatten in diesem Haus, die im Land eine große Wirkung ausgelöst haben.

Man kann an der Wirkung jeder Maßnahme, jedes Buches, jeder Entschließung - gerade, was dieses Thema angeht - seine Zweifel haben. Wir müssen uns, insbesondere bezogen auf junge Menschen, immer wieder Gedanken darüber machen, immer wieder neu Gedanken darüber machen, welche Formen denn angemessen sind, ob es dieselben sind, die wir selbst erlebt haben, oder ob wir nicht neue Formen und neue Wege finden müssen, um nicht auch Abstumpfung zu erreichen.

Dass wir etwas tun, dass wir darin nicht nachlassen, dass wir immer wieder neu beginnen, das sind wir den Opfern schuldig.

(Beifall im ganzen Haus)

Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe damit die Beratung. Ihnen wird soeben die Drucksache 15/651 (neu) - 2. Fassung - verteilt. Es handelt sich hierbei um eine redaktionelle Änderung.

Ich lasse jetzt über den Entschließungsantrag abstimmen. Wer dem zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dies ist einstimmig so angenommen.

Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 23 auf:

Videoüberwachung öffentlicher und privater Stellen in Schleswig-Holstein

Landtagsbeschluss vom 8. Juni 2000 Drucksache 15/154

Bericht der Landesregierung Drucksache 15/598