Protocol of the Session on September 22, 2004

(Ministerin Ute Erdsiek-Rave)

schaft heute zusammenhält, ist die Frage der Gerechtigkeit bei der Verteilung der Lasten und bei der Verteilung von Lebenschancen. Das ist eine entscheidende Frage. Ergebnis und Analyse sind hier klar: Unser System verteilt Lebenschancen ungleich. Natürlich sind nicht alle Kinder gleich begabt. Aber Begabung ist auch nicht verteilt nach sozialen Schichten. Es gibt keine Normalverteilung von Intelligenz in der Bevölkerung, die mit den Einkommensverhältnissen oder den sozialen Hintergründen übereinstimmt. Aber es gibt tief sitzende Mechanismen, es gibt tief sitzende Vorurteile und es gibt sich selbst erfüllende Prophezeiungen. Dem Kind einer allein stehenden Sozialhilfeempfängerin wird von vornherein weniger zugetraut. Es traut sich selbst wenig zu. Es landet in einem Umfeld, das nicht anregt und fördert, und die Erwartung an die Leistungsfähigkeit wird zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

Ich bin überzeugt - das unterscheidet uns vielleicht -: Unserem Gesellschaftssystem wohnt im Prinzip eine radikale Ungerechtigkeit inne, die immer wieder neu von Politik überwunden werden muss. Dieser Anspruch, diese Messlatte gilt auch für das Bildungssystem. Auf diese Herausforderung wollen wir eine Antwort geben, eine langfristige Antwort. Das Bildungssystem muss Leitern bauen und nicht Türen zuschlagen.

(Zuruf von der SPD: Sehr gut!)

Hinter diesem Ziel müssten sich doch eigentlich alle versammeln können. Ich füge hinzu: Die Ideologen und Strukturkonservativen befinden sich auf der Verliererstraße und sind auf Ihrer Seite, Frau Eisenberg, nicht auf unserer. So, wie dies bei Kindergartendiskussionen vor Jahrzehnten war, wie dies bei der Frage der Ganztagsschule noch vor wenigen Jahren war, so wird auch bezüglich der Frage des längeren gemeinsamen Unterrichts irgendwann bei Ihnen ankommen, dass das der richtige Weg ist.

(Zuruf von der CDU: Was für ein Unsinn!)

Institutionelle Erstarrung lähmt gesellschaftliche Entwicklung. Das ist das deutsche Problem, das ist ein Teil der deutschen Krankheit und ist in ganz vielen Lebensbereichen, nicht nur im Bildungsbereich, festzustellen: Erst kommt das System, dann kommt das einzelne Kind. - Dreigliedrig für immer! Kaum entsteht eine neue Debatte, entwickelt sich ein gesellschaftlicher Diskurs, geführt von den Betroffenen, den Beteiligten, geführt mit dem Blick über den nationalen Tellerrand hinaus. Da hört man sie wieder, die schlechten Argumente der 70er-Jahre, die ich eigentlich für überwunden gehalten habe: „Gleichmacherei“, „Einheitsschule“ und wie sie alle lauten. Die

sind mit der Zeit nicht besser geworden, Frau Eisenberg!

Erstaunlich finde ich wirklich, dass es immer noch Diskussionsbeiträge unter der Überschrift „Unser bewährtes dreigliedriges Schulsystem“ gibt. - Nein, ich bin davon überzeugt: Dieses System hat sich nicht bewährt.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Ich bin davon überzeugt: Es muss einen Neuanfang geben. Wir haben eine realistische Vision. Ich trete für dieses Ziel ein und ich garantiere Behutsamkeit, Herr Kubicki, auf diesem Weg.

(Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Kubicki [FDP])

Deutschland ist in mehr als einer Hinsicht eine verspätete Nation, meine Damen und Herren, und es wird Zeit, dass unser Bildungssystem im 21. Jahrhundert ankommt. Das wäre der eigentliche PISATest.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Ich erteile der Frau Abgeordneten Spoorendonk das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon interessant zu hören, wie immer wieder davon gesprochen wird, dass alles im Grunde genommen am besten so bleiben soll, wie es ist, dass vergessen wird, dass wir uns heute mit den Ergebnissen der OECD-Studie und davor mit der PISA-Studie beschäftigen, weil wir eben mit den Schulstrukturen, die wir haben, den Anforderungen unserer Zeit und denen der kommenden Jahre nicht gerecht zu werden imstande sind.

Wir führen keine religiöse Debatte, für uns ist es kein Glaubenskrieg. Wir sagen ganz nüchtern: Wenn es darum geht, mehr Ressourcen in den Bildungsbereich zu bekommen, muss man sich überlegen, wie man dies erreichen kann. Man kann weiterhin einfach nur Geld hineinpumpen oder man kann fragen, ob das eingesetzte Geld effizient genutzt wird. - Das wird es nicht.

(Beifall bei SSW und SPD)

Darum müssen wir umschichten, müssen wir Effizienzsteigerungen erreichen. Das kann uns nur gelin

(Anke Spoorendonk)

gen, indem wir sagen: Nicht alles muss durch fünf oder sieben Schularten durchdekliniert werden. Wir müssen eine Schule haben, dann können wir differenzieren, lieber Kollege Klug, und dann sortieren wir nicht, dann selektieren wir nicht, sondern differenzieren wir den Unterricht. Das ist der richtige Weg. Das haben uns die skandinavischen Länder nun wirklich vorgemacht.

Richtig ist, lieber Kollege Weber, dass auch nördlich der Grenze die ungeteilte Schule nicht einfach so eingeführt wurde. Ich kann Ihnen aufzeigen, wie die einzelnen Schritte vollzogen wurden.

(Lothar Hay [SPD]: Wie viele Jahre hat das denn gedauert, Frau Spoorendonk?)

- Es ist richtig, dass das nicht einfach von heute auf morgen erfolgt ist. Aber, lieber Kollege Hay, man muss den Anfang machen. Das heißt, dass man auf jeden Fall schon einmal die Weichen stellt. Die sechsjährige Grundschule ist eine Weichenstellung, ist ein erster Schritt, ist nicht das Ziel.

Wichtig ist, dass wir bei dem, was wir anpacken, das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Das tun wir nicht, indem wir sagen, wir wollen die Grundschulzeit verlängern. Ich bleibe dabei, dass die Schulen der dänischen Minderheit wirklich ein Beispiel dafür sind, was man mit dem Schulgesetz tun kann, das es schon gibt. Es gibt Spielräume, die wir nutzen sollten. Die Eltern der Kinder in dänischen Schulen haben jetzt in einer Urabstimmung mit großen Mehrheiten beschlossen, diesen Weg weiter zu beschreiten. Wir müssen uns immer noch an das Schulgesetz halten. Darum sagen wir: Das Modell heißt Gesamtschulen, kleine Gesamtschulen mit sehr viel Integration in den Gesamtschulen. Das kann man einführen. In der Elternschaft ist also Bewegung. Das ist doch sehr positiv. Man muss also einen Anfang machen.

Kollege Hentschel hat, glaube ich, in einem Presseinterview gesagt, es sei sehr schwer, das deutsche Schulsystem zu ändern; da gebe es auf KMK-Ebene eine solch feste Meinung, dass man da nicht weiterkommen könne. Da gebe es das Hamburger Abkommen und anderes. Das alles sei ganz schwierig. - Wenn das alles zutrifft, müssen wir doch sagen: Gut, dann müssen wir in Schleswig-Holstein sehen, wie wir in kleinen Schritten weiterkommen. Ein erster Schritt ist der mit den Kindergärten und der Grundschulzeit. Dann können wir auch fördern, können wir auch fordern. Dann zementieren wir keine Strukturen, die veraltet und anachronistisch sind, die sich nicht weiterentwickeln lassen. Daher geht es also darum, jetzt nicht alles auf die ferne Zukunft zu verschieben,

sondern den Einstieg zu machen. Das muss die Richtung sein.

Ich wiederhole: Dies ist keine Glaubensfrage. Wir können hoch- und herunterdeklinieren, was in der Bildungsdiskussion der Bundesrepublik nicht geschehen ist. Natürlich ist es ärgerlich, dass wir in den 70er-Jahren diese Glaubensdiskussion hatten. Heute sind wir weiter, heute gibt es ganz nüchterne Belege dafür, dass die Strukturen unseres Schulwesens ausgereizt sind. Sie müssen geändert werden. Wir müssen einen Neuanfang wagen. Anders klappt es nicht. Anders verpassen wir den Einstieg in die Bildungsgesellschaft und hinken hoffnungslos hinterher.

(Beifall bei SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich erteile dem Herrn Abgeordneten de Jager das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die dritte Runde gibt mir noch einmal Gelegenheit, auf einige Punkte einzugehen, die Frau Erdsiek-Rave beispielsweise eben in dem Rührstück über die Gerechtigkeit und die schöne neue Welt der Einheitsschulen gebracht hat.

Zunächst einmal, meine Damen und Herren, ist es schon etwas kurios, dass die SPD und die Grünen in die Mottenkiste der 70er-Jahre greifen, die Einheitsschule hervorzaubern und uns Ideologie vorwerfen.

(Beifall bei CDU und FDP)

Sie beschreiben hier, was die Einheitsschule alles leisten soll, bleiben aber den Beweis schuldig, dass bei den Problemen, die wir haben, die Einheitsschule tatsächlich zu einer Verbesserung führen wird. Bezüglich dessen, was Sie als Beschreibung der Wirklichkeit gebracht haben

(Karl-Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Merkwürdig, wie Sie argu- mentieren!)

- ich bin viel in Wahlkreisen unterwegs -, nehme ich dort eine andere Problembeschreibung durch die Menschen wahr. Ich bin noch nie auf einer Veranstaltung angesprochen worden, dass jemand gesagt hätte: Schafft doch einmal die Einheitsschule! - Ich erlebe, dass sich die Menschen darüber Sorgen machen, ob ihr Sohn nach der Haupt- oder der Realschule ausbildungsreif ist und einen Ausbildungsplatz bekommt. Ich erlebe, dass sich die Leute Gedanken machen, ob

(Jost de Jager)

das Kind nach Studienabschluss tatsächlich in Lohn und Brot kommt. Ich erlebe, dass die Leute Angst haben, dass ihr Kind in der Grundschule zu wenig Unterricht erhält und hinterher nicht weiterkommt. Das sind die Sorgen, von denen ich höre. Diese Sorgen werden durch Ihre Einheitsschule überhaupt nicht beseitigt. Insofern bauen Sie hier ebenso einen Popanz auf, wenn Sie auch eine Beschreibung der Idylle liefern, die Sie damit schaffen wollen.

Meine Damen und Herren, die entscheidende Botschaft von PISA ist nicht gewesen, das Schulsystem zu ändern. Sie bezog sich auch nicht auf die Klassengrößen, sondern die entscheidende Botschaft von PISA war die Qualität des Unterrichts. Darauf muss man es immer wieder reduzieren.

(Beifall bei CDU und FDP)

Wir müssen an die Bildungspolitik herangehen. Da spielt die Lehrerausbildung, spielen auch viele andere Punkte eine Rolle. Wir müssen in der Bildungspolitik dafür sorgen, dass der Unterricht qualitativ gut ist. Das kann er im jetzigen Schulwesen sein. Wir werden sehr viel Energie darauf verwenden, ein neues Schulwesen zu schaffen, ohne dabei die von Ihnen vorgeschlagene Änderung einzuführen.

(Vereinzelter Beifall bei der CDU)

Ein letztes Wort, weil Sie, Frau Erdsiek-Rave, immer wieder die schöne neue Welt beschreiben. Es ist nicht so. Man soll das auch nicht romantisieren. Frau Spoorendonk sagt, was die kleine Einheitsschule anbelangt, gibt es verschiedene Modelle. Die kleine Einheitsschule gibt es nicht. Die Einheitsschule von der 1. bis zur 10. Klasse unter einem Dach, die Sie wollen, ist eine große Schule. Sie wird nur durch Schulschließungen zustande kommen. Die Einheitsschule von Klasse eins bis zehn unter einem Dach bedeutet,

(Zurufe von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

dass sie nur dort eingeführt werden kann, wo Grundschule, Hauptschule und Realschule an einem Ort vorhanden sind. Dort, wo sie nicht an einem Ort vorhanden sind, müssen denklogisch Schulschließungen und -zusammenlegungen vorgenommen werden.

(Beifall des Abgeordneten Martin Kayenburg [CDU])

Insofern werden wir erleben, dass die Einführung der Einheitsschule in der Fläche einen Bildungsabbau bedeuten wird. Den machen wir nicht mit.

(Beifall bei CDU und FDP)

Meine Damen und Herren, es liegen noch drei Wortmeldungen vor, es gibt aber keine Redezeit mehr. Insofern kann ich das Wort nicht mehr erteilen. Die Regierung hätte noch Redezeit, hat aber keine Redezeit mehr beansprucht. Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.

Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, begrüße ich Gäste. Auf der Tribüne haben Schülerinnen und Schüler der Beruflichen Schule am Ravensberg aus Kiel sowie Mitglieder der Senioren-Union, Ortsverband Husum, Platz genommen. - Herzlich willkommen!

(Beifall)