Nach zwei Jahren finden Sie das plötzlich aktuell und meinen, daraus könnte man ein Aufregerthema machen.
Herr Ernst, als Sie begründet haben, warum Sie das alles ganz anders sehen, haben Sie drei Dinge aneinandergehängt, die nur mittelbar damit zusammenhängen. Sie sagen, die Klassengrößen lägen bei 30 Schülerinnen und Schülern. Nein, es sind nicht die Klassengrößen, sondern es ist die Klassenmesszahl, die bei 30 liegt. Die durchschnittlichen Klassengrößen liegen weit darunter. In der Grundschule liegen sie übrigens bei 24 Schülerinnen und Schüler pro Klasse.
Dann sagen Sie, wir wollten in diesem Modellversuch die Noten relativieren. Nein – auch das kann man in der Koalitionsvereinbarung nachlesen –, die Noten sollen durch Lernstandsberichte ergänzt werden. Das ist ebenfalls völlig klar.
Dann behaupten Sie noch, die Stellen, die beim Wegfall des Sitzenbleibens eingespart würden, sollen abgeschafft werden. Nein, das ist nicht so. Wir haben heute Morgen darüber diskutiert, wie die Klemm-Prognose funktioniert und dass wir den größten Teil in unsere Schulen reinvestieren. Alle drei Behauptungen haben also einfach nicht gestimmt.
Lassen Sie mich noch einmal auf das Stichwort „aktuell“ zurückkommen. Ausgangspunkt dieser Debatte ist PISA 2000. Diese Studie ist nicht, wie die Koalitionsvereinbarung, zwei Jahre her, sondern sie liegt gut zehn Jahre zurück. In dieser PISA-Studie, die übrigens parteipolitisch völlig unabhängig ist – ich glaube, die Referenzgröße ist unbestritten –, wird die Klassenwiederholung in ein kritisches Licht gerückt. Warum? –
Studien haben gezeigt, dass Klassenwiederholerinnen und Klassen-wiederholer nicht ohne Weiteres Anschluss finden, eine nicht geringe Zahl von ihnen nach zwei Jahren wieder in einer ähnlich problematischen Situation ist und, wie die PISA-Studie zeigt, die Anzahl der sogenannten verzögerten Schullaufbahnen – das betrifft die Einschulung und die Klassenwiederholung – in Deutschland überproportional hoch ist.
Übrigens lag das schlechte Abschneiden Deutschlands in der damaligen internationalen Pisa-Studie zu einem nicht unerheblichen Teil daran, dass die Schülerinnen und Schüler in Deutschland in ihrer schulischen Laufbahn nicht so weit sind wie in einigen anderen internationalen Vergleichsstaaten.
Deswegen war es über die Parteigrenzen hinweg völlig unumstritten, eine der zentralen Schlussfolgerungen aus der PISA-Studie ist, dass wir dafür sorgen müssen, dass die Schülerinnen und Schüler möglichst rechtzeitig eingeschult werden und die Zahl der Klassenwiederholerinnen und Klassenwiederholer reduziert wird. Da es sehr schwierig ist, Sie davon zu überzeugen, hilft Ihnen vielleicht das: Selbst in Bayern hat man seitdem die Zahl der Klassenwiederholerinnen und Klassenwiederholer um 1 % reduziert. Selbst dort ist man nämlich der Meinung, dass das nach der PISA-Studie eine zentrale Aufgabe ist. Jetzt sagen Sie mir, worüber Sie hier mit uns kritisch diskutieren wollen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es kann nicht strittig sein, dass es das Ziel von Schule ist, dass möglichst alle Schülerinnen und Schüler die Schule planmäßig durchlaufen können. Das kann nicht strittig sein.
Die Politik ist also aufgefordert, gute Rahmenbedingungen zu schaffen, damit wir das auch gewährleisten können: zum Beispiel durch mehr Ganztagsschulen, durch einen Förderschulpool in der Realschule plus und durch die Absenkung der Klassenmesszahl.
Aber – das kommt in dem Modellversuch zum Aus- druck – wir setzen auch auf Professionalität vor Ort. Wenn Sie mit Lehrerinnen und Lehrern über dieses Thema reden, hören Sie eben nicht permanent, dass Ehrenrunden noch niemanden geschadet hätten, sondern da steht das Kind im Mittelpunkt. Da hören Sie auch nichts über eine Abitur-Vollkasko-Mentalität, sondern da steht der einzelne Jugendliche im Vordergrund.
Da hören Sie schon gar nicht „Scheitern tut gut“, wie ich es in einem benachbarten Bundesland lesen durfte. Frau Klöckner, da wird auch nicht über Fußballbundesligatabellen diskutiert, sondern es wird geschaut, wie man Schülerinnen und Schüler so fördert, dass sie ihre Schullaufbahn planmäßig und erfolgreich absolvieren können. Das ist pädagogisches Handeln. So arbeiten unsere Lehrerinnen und Lehrer vor Ort.
Dass sie das nicht ohne Erfolg tun, merkt man auch daran, dass die Zahl der Klassenwiederholerinnen und Klassenwiederholer in den letzten Jahren von 2,7 % auf 1,7 % reduziert wurde – bundesweit übrigens von 3,0 % auf 1,9 %.
So hoffen wir denn alle, dass uns der Modellversuch weitere Hinweise gibt, wie Kinder noch besser gefördert werden können, damit sie ihre Schullaufbahnen planmäßig und erfolgreich absolvieren können. Das ist nun wahrlich kein Grund für Aufgeregtheiten.
Bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich noch Besucher im Landtag begrüßen. Das sind zum einen die Jedermänner. Seien Sie uns herzlich willkommen im Landtag!
Zum anderen begrüße ich Bürgerinnen und Bürger aus Bingen. Seien Sie herzlich willkommen im Landtag!
Für die CDU-Fraktion hat Herr Abgeordneter Ernst das Wort. Sie haben noch 2 Minuten und 45 Sekunden Redezeit.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Frau Ministerin, ich bin froh, dass Sie sich von der in Niedersachsen und auch bundesweit vertretenen Meinung distanziert haben. (Frau Klöckner, CDU: Nein!)
Trotzdem bleibt für uns die Frage: Modellversuch – Was soll das? – Soll das trotzdem der Versuch sein zu testen, wie es ohne Sitzenbleiben geht? – Wenn Sie sich die Forsa-Umfrage der letzten Tage anschauen, stellen Sie fest, dass es ein paar eindeutige Positionen gibt. Ich will nicht die Zahl der CDU-Anhänger nennen, die dafür sind. Aber 85 % der Schüler sagen, es ergebe einen Sinn, sitzenzubleiben. In der SPD sehen das 72 % so, und bei den GRÜNEN sind es immerhin 60 %. Bei RZOnline ist heute ebenfalls eine Zahl genannt worden: 78 %. Das heißt, es gibt eine klare Position.
Ich denke, es ist wichtig, dass wir das hier einmal angesprochen haben. Sie sind nämlich diejenigen, die das hier und heute bekennen müssen. Eines steht fest, meine Damen und Herren: Individuelle Förderung führt man erst dann durch, wenn man den Unterrichtsausfall in den Griff bekommt.
Zusätzlich individuelle Förderung zu gewährleisten, bedeutet aber auch, mehr Lehrer einzustellen. Ich sehe es so, dass Sie deshalb zu diesem Mittel greifen. Das ist aber mit Sicherheit zum Schaden der Schüler.
Deshalb haben wir diese Aktuelle Stunde heute beantragt. Das ist von uns – das muss man in aller Offenheit sagen – sogar schon im Mai 2011 thematisiert worden. Es ist also nicht so, dass uns das gerade eingefallen wäre. Aber angesichts der Tatsache, dass Sie im Moment in der Richtung agieren, müssen wir feststellen, dass das nicht unsere Linie ist und wir sie in der Form auch mit aller Schärfe bekämpfen werden.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Lieber Herr Ernst, als Sie angefangen haben, hatte ich die Hoffnung,
dass Sie aufgrund Ihrer Erfahrungen als Lehrer die individuelle Förderung doch wertschätzen und insbesondere darlegen, was man damit alles machen kann. Aber dann kommen doch wieder die Kampfbegriffe und die Hinweise auf das Sitzenbleiben.
In diesem Hause haben wir eben mit großer Vehemenz für unseren Modellversuch plädiert und erklärt, was ihn eigentlich ausmachen soll. Es geht uns explizit um die individuelle Förderung. Deswegen finde ich den Anfang des Titels Ihrer Aktuellen Stunde, nämlich „Schüler brauchen individuelle Fördermaßnahmen und die Chance zum Anschluss“, okay.
Nur die Konsequenz, die Sie daraus ziehen, ist in unserem Bundesland überhaupt kein Thema. Ich denke, Frau Ministerin Ahnen hat das eben noch einmal sehr deutlich gemacht. Es geht uns tatsächlich darum, moderne Pädagogik weiterzuentwickeln und die individuelle Förderung im Sinne aller Schülerinnen und Schüler, der leistungsstärkeren genauso wie der leistungsschwächeren, in den Vordergrund zu rücken und neue Methoden auszuprobieren.
Wenn aber Frau Dickes die individuelle Förderung immer noch für eine neue Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern hält, dann finde ich das mehr oder weniger verwunderlich.
Frau Dickes, vielleicht sollten Sie noch einmal das Schulgesetz durchlesen. Da werden Sie erstaunt sein, was sich darin alles an Aussagen findet.
Noch eine Hintergrundinformation. Es gibt renommierte Forschungsinstitute. In den skandinavischen Ländern und überall gibt es Untersuchungen, PISA-Sieger wie Kanada usw. Es gibt auch Untersuchungen von der Oxford University oder von der Katholischen Universität Leuven in Belgien, die auch untersucht haben, ob Kinder besser werden, wenn sie einmal eine Runde wiederholt haben. Sie haben festgestellt, dass diejenigen Kinder, die nicht wiederholt haben, im Laufe ihres Schullebens bessere Ergebnisse erzielen als die, die sitzengeblieben sind.
Deshalb muss man vielleicht sagen, wenn sogar eine britische Elite-Uni oder eine Katholische Universität zu dem Schluss kommt, dass das Sitzenbleiben negative Auswirkungen hat, dann sollte man auf diese hoch emotionalisierten Ideologievorwürfe verzichten und stattdessen auf die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler Wert legen.
Es geht nicht um Kuschelpädagogik oder Sozialromantik. Es geht um die individuelle Förderung jeder einzelnen Schülerin und jedes einzelnen Schülers,