Protocol of the Session on September 9, 2010

Das Bundesverfassungsgericht artikuliert das als Rechtsanspruch. Jeder Mensch hat einen Anspruch darauf, dass die Lebensverhältnisse so gestaltet werden. Ich nehme Bezug auf die allgemeine Debatte und sage das in Richtung FDP, auch wenn es heute gar nicht thematisiert worden ist. Es definiert das Thema „Lohnabstand“ ganz neu. Früher hat man versucht, den Lohnabstand so herzustellen, dass man gesagt hat, die unteren Einkommensgrenzen müssen einen gewissen Abstand zu dem haben, was als Existenzminimum definiert wird.

Ich finde, dass Menschen, die den ganzen Tag arbeiten gehen, ein berechtigtes Gerechtigkeitsgefühl dafür haben, dass sie mehr als Transferempfänger verdienen. Das Bundesverfassungsgericht sagt ganz klar: Das Existenzminimum muss objektiv festgestellt werden. Dann kann man überlegen, wie groß der Abstand zum Lohn ist.

Für mich ist völlig klar, dass der Handlungsbedarf jetzt in eine vollkommen definierte andere Richtung geht, von der wir im Parlament oft sprechen, nämlich dass diejenigen, die den ganzen Tag arbeiten und nur einen Niedriglohn verdienen, einen Anspruch darauf haben, dass man diese Situation abstellt.

Man kann den Lohnabstand nicht mehr so wie früher definieren, indem man sagt, dann senken wir das Existenzminimum etwas ab, damit zwischen dem niedrigen Lohneinkommen und dem Existenzminimum genug Abstand ist. Das ist nicht mehr möglich. Das sagt das Bundesverfassungsgericht glasklar. Ich erschrecke manchmal darüber, wie das in der öffentlichen Diskussion ignoriert wird.

Der zweite wichtige Punkt für mich ist, dass wir kurz einmal darüber sprechen, um wen es eigentlich geht. Über den sogenannten Hartz-IV-Empfänger wird im Moment in der Öffentlichkeit nur in der Gruppe diskutiert, in der es darum geht, dass die Eltern nicht in der Lage sind, ihre Kinder ordentlich zu erziehen und sie eine Chipkarte brauchen, damit sie den Weg in die Bildungsangebote finden.

Wenn wir über Hartz IV sprechen – die Sozialpolitiker wissen das ganz genau und sagen auch nichts anderes, hier gibt es keinen Dissens –, gibt es erst einmal die riesige Gruppe von Menschen, die zum Beispiel alleinerziehend ist und wenig Geld verdient. 50 Milliarden Euro bezahlt der Bund an Aufstockung. Das heißt, das sind Menschen, die wie jeder andere arbeiten gehen. Sie brauchen aber zusätzlich Hartz-IV-Leistungen, weil sie zu wenig verdienen. Es sind Menschen, die sich auch nach den neuesten Studien explizit intensiv vor allem auch um die Erziehung ihrer Kinder kümmern und ihr letztes Hemd hergeben, dass sie gut unterstützt werden.

Dann gibt es die Gruppe derjenigen, die wir vielleicht als bildungsfern bezeichnen würden. Das sind die Eltern, die vielleicht wirklich nicht in der Lage sind, sich umfassend um ihre Kinder zu kümmern. Ich glaube, hier muss man verstärkt darüber nachdenken, wie man diese Kinder erreicht.

Herr Dr. Schmitz, hier sieht die Landesregierung absolut klar. Wir sagen, dass es dafür nur ein Konzept gibt. Das ist die Infrastruktur.

Ich sage es noch einmal sehr deutlich. Eine Chipkarte, auf der zum Beispiel die Teilnahme am Sport- oder Kulturverein draufsteht, wird nicht dazu führen, dass diese Gruppe, von der wir sprechen, tatsächlich die Kultur in Anspruch nimmt oder in den Sportverein geht.

Für diese Kinder gibt es ausschließlich die Chance, dass man ihnen dort begegnet, wo sie sind. Das ist in der Kindertagesstätte und in der Schule. Deshalb docken wir das Mittagessen an die Schulen und die Kindertagesstätten an. Deshalb docken wir die Lernmittelfreiheit und den Sportverein an die Schulen an, was dann den Kindern, die Spaß am Sport haben, die Möglichkeit gibt, samstags und sonntags in den Sportverein zu gehen. Das ist unser Konzept in allem, was wir sagen.

Deshalb bin ich persönlich absolut skeptisch, was die Chipkarte betrifft. Sie ist für diejenigen bei Hartz IV eine gute Möglichkeit, die gut für ihre Kinder sorgen können. Diesen könnte man theoretisch auch einfach den Regelsatz erhöhen. Damit würden diese nämlich auch den Sportverein bezahlen. Wenn es aber um die Kinder geht, die nicht mit einem Gutschein oder mit einer Bildungskarte umgehen können, müssen wir dafür sorgen, dass

wir unsere Infrastruktur weiter ausbauen, um die Kinder automatisch an dieser Stelle ansprechen zu können.

Im Februar gab es das Urteil. Sehr geehrter Herr Dr. Schmitz, deshalb habe ich vorhin das Wort „ach“ gesagt. Im August, bevor irgendjemand irgendetwas davon wusste, wie die Bundesregierung mit dem Urteil umgeht, hat Frau von der Leyen bundesweit eine große Pressearbeit geleistet und die Chipkarte verkauft. Das ist die Idee von Frau von der Leyen. Ich kann überhaupt nicht begreifen, dass Sie den Kopf schütteln. Wir haben zum ersten Mal über die Presse erfahren, wie sie sich vorstellt, das Urteil umzusetzen.

Es gab danach eine Einladung – das war auch im August – aller Minister und Ministerinnen aus dem Bildungsbereich und dem sozialen Bereich. Wir waren zahlreich vertreten. Frau Ahnen und ich haben daran teilgenommen. Es stimmt nicht, was danach in der Pressekonferenz gesagt worden ist, dass die Idee der Chipkarte auf fruchtbaren Boden gefallen wäre.

Es gab eigentlich in der überwiegenden Mehrheit aller Minister und Ministerinnen, völlig egal, ob A oder B, die Auffassung, dass die Chipkarte vielleicht irgendwann einmal ein Instrument sein könnte, was man einsetzt, sie aber nicht den Kern des Problems erfasst.

Das war die Stimmung in dieser Runde und für mich auch die Erklärung dafür, weshalb wir heute öffentlich von der Chipkarte nur noch insoweit hören, dass vielleicht bei der einen oder anderen Kommune ein Modellprojekt durchgeführt wird. Es gab auch einzelne Kollegen, die gesagt haben, wir machen bei den Modellversuchen gerne mit. Das war aber nicht die Meinung aller Minister und Ministerinnen dort.

Worüber reden wir, wenn wir über die Chipkarte sprechen? In Stuttgart hat die Chipkarte die Funktion einer Familienkarte. Diese gibt es in ganz vielen Städten. Damit kann man in den Zoo gehen, wenn es einen Zoo gibt. Man kann damit ins Museum, in die Stadtbibliothek und was auch immer gehen. Die Chipkarte in Stuttgart hat ein Volumen von ungefähr 80 Euro. Ich habe die Zahl nicht mehr genau im Kopf. Der Bund lässt im Moment nicht durchblicken, um welche Zahlen es geht. Wir haben einmal Zahlen gehört, nämlich um die 60 Euro. Das ist im Moment noch alles offen und unklar.

Was macht man mit dieser Summe? Was macht man mit 60 Euro im Jahr, um Teilhabe für die Kinder sicherzustellen? Ist es nicht besser, über das Jugendamt ein Netzwerk über die Ganztagsangebote zu schaffen, durch das die Kinder automatisch die Möglichkeit haben, an den Angeboten teilzuhaben, als so etwas in die Welt zu setzen? Ich sage das ausdrücklich, weil ich der Auffassung bin, dass die Chipkarte nicht die Lösung des Problems ist.

Es ist egal, ob wir von Nebelschwaden oder sonst irgendetwas sprechen. Es ist irgendwo eine Debatte gewesen, die aus meiner Sicht völlig deplatziert war. Was uns wirklich interessiert, ist, wie es mit den Regelsätzen weitergeht. Das ist der Kern des Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Wir wollen wissen, wie die Zahlen aussehen, wie die Bundesregierung den konkreten Be

darf berechnet und wie der Kinderregelsatz tatsächlich zu berechnen ist.

Wir sind konstruktiv an dieser Geschichte. Wir haben eingebracht, wie wir beispielsweise das Mittagessen in Rheinland-Pfalz regeln. Wir haben einen Härtefonds. Wir wickeln ihn über die Schulen ab. Wir haben Frau von der Leyen gesagt, das wäre doch eine gute Idee. Sie ist verpflichtet, den Kindern, die Hartz IV bekommen, sozusagen die Differenz zu bezahlen, damit sie dort teilhaben können, wo Mittagessen vorgehalten wird. Das finden wir gut. Es ist an die Infrastruktur angedockt, diskriminierungsfrei und wird über die Schule abgewickelt. Das können wir uns sehr gut vorstellen.

Natürlich geht es bei uns auch darum, was unter Sonder- und Mehrbedarf fällt. Ich denke, das ist für alle Sozialpolitiker interessant. Da geht es immer um das große Thema „Lernförderung“ und den eintägigen Schulausflug. Das kann man sich alles im System der Sozialhilfe und des SGB IV vorstellen.

Abschließend noch einmal zu Ihnen, Herr Dr. Schmitz. Ich bin mir ganz sicher, unsere Argumentation ist immer konsistent, da sie eine absolute Überzeugungsangelegenheit innerhalb der SPD ist, weil wir sagen, arme Menschen brauchen ein gewisses Maß an Ausstattung mit Geld, damit sie gut teilhaben können. Darüber hinaus schaffen wir über Infrastruktur die Möglichkeit, dass arme Kinder, aber auch bildungsferne Kinder eine Chance haben, tatsächlich am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.

So hätten wir jetzt gerne, dass es neu geordnet wird, wenn es darum geht, dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen.

Vielen Dank.

(Beifall der SPD)

Ich erteile Frau Abgeordneter Thelen von der CDUFraktion das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Liebe Frau Ministerin Dreyer, ich habe nicht den Eindruck, dass Ihre Position und Ihre Argumentation konsistent sind. Ich mache es an dem Grundsatz fest, den Sie sehr bewusst und zu Recht herausgehoben haben. Das Bundesverfassungsgericht hat sehr deutlich auf den Teilhabeanspruch, abgeleitet aus der Würde des Menschen, hingewiesen und ihn als Anspruch der Betroffenen formuliert.

Es hat niemand behauptet, dass dieses Urteil und diese Aussagen nicht befolgt werden. Wir werden es mit einem Basiswert und individuellen Leistungen obendrauf umsetzen. Diesen Basiswert – da sind wir uns im Prinzip einig – brauchen die Menschen in bar, damit sie damit wirtschaften und ihren Lebensbedarf decken können. Dann geht es um die Frage, wie das bezahlt, beglichen,

geleistet wird, was an zusätzlichem Bedarf bei Kindern vorhanden ist: Bedarf an Nachhilfe, einen Verein besuchen zu können, ein Mittagessen in der Schule zu bekommen. – Da unterscheiden wir uns sehr deutlich. Ich sage, da weichen Sie mit Ihrer Position von dieser grundsätzlichen Menschenwürde ab. Sie sagen nämlich, das Geld bekommt nicht der Einzelne,

(Ministerin Frau Dreyer: Im Gegenteil!)

wir trauen den Einzelnen nicht zu, es ordnungsgemäß auszugeben, wir wollen die Leistung als Staat erbringen, indem wir Ganztagsschule, Ganztagskita, Mittagessen anbieten. So haben Sie es eben dargelegt.

Wenn ich das weiterdenke, könnte man so weit gehen zu sagen, am liebsten würden Sie bestimmte Personengruppen in Wohnheime stecken, dann könnten Sie auch noch kontrollieren, ob sie die Wäsche waschen.

(Widerspruch von der SPD)

Ich will diese Aussage des Bundesverfassungsgerichts ernst nehmen. Ich traue den Menschen schon zu, dass sie entscheiden können, ist mein Kind besser im Musikunterricht aufgehoben,

(Frau Pepper, SPD: Oder bekommt es etwas zu essen!)

ist mein Kind besser im Sportunterricht aufgehoben oder braucht mein Kind Nachhilfe. Das Geld für das Essen bekommt die Familie. Wenn Sie jetzt noch entscheiden wollen, dass Sie das Geld für das Essen in Gutscheinen geben, dann weiß ich, wohin wir in dieser Republik gehen.

(Zuruf der Staatsministerin Frau Dreyer – Zurufe von der SPD)

Unser Ziel ist es, die Rechte der Hartz-IV-Empfänger zu wahren, wie es das Bundesverfassungsgericht sagt. Wir wollen gute, zielgenaue Hilfen über ein gutes Mittel anbieten, das die Chipkarte ist. Sie wird nicht zum 1. Januar 2011 eingeführt, sondern es soll Modelle geben. Sie wird erst im Laufe des Jahres erprobt werden.

(Pörksen, SPD: Fragen Sie einmal in Stuttgart, was das kostet!)

Wahrscheinlich werden Mitte 2011 die ersten Erprobungen laufen. Ich würde mich freuen, wenn wir die Dinge ein bisschen abwarten, die Fakten zur Kenntnis nehmen. Dann, wenn wir die Fakten auf dem Tisch liegen haben, können wir darüber diskutieren, ob es sinnvoll ist oder nicht. Heute arbeiten Sie mit vielen Vermutungen, und das hilft uns in der Sache überhaupt nicht.

Vielen Dank.

(Beifall der CDU und der FDP)

Für die SPD-Fraktion hat Herr Kollege Dröscher das Wort.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin Hedi Thelen, ich schätze Sie aus der sozialpolitischen Diskussion. Aber das, was Sie eben gesagt haben, war schon grenzwertig;

(Vereinzelt Beifall bei der SPD)

denn gute und zielgenaue Hilfen – – –

Ich denke, Frau Ministerin von der Leyen hat gute Nerven. Sie haben sie auch, wenn Sie sagen: „Wir entwickeln gute, zielgenaue Hilfen“. Was bis jetzt herausgekommen ist und bis zum 1. Januar 2011 zumindest in einem Gesetz umgesetzt werden soll, ist eigentlich nur, dass man im Sparpaket der Zielgruppe, die man hat, ungefähr das wegnimmt, was man vorhat, dafür einzusetzen, um diesem Spruch des Bundesverfassungsgerichts nachzukommen.

(Pörksen, SPD: Zielgenau!)

Insofern ist es so, wie Herr Kollege Carsten Pörksen sagt, zielgenau, etwa 480 Millionen Euro.

Was soll damit gemacht werden?