Protocol of the Session on June 4, 2008

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Aktuelle Stunde hat den Titel „Rheinland-pfälzische Arbeits-, Bildungs- und Sozialpolitik im Lichte der Berichte über Kinderarmut in Deutschland“. Deshalb halte ich es für wichtig, sich einmal das Licht dieser Berichte etwas näher anzusehen.

Es gibt einen UNICEF-Bericht, der im Auftrag der Bundesfamilienministerin von der Leyen in Auftrag gegeben und von der Prognos AG begleitet wurde. Nach diesem Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland, der am

26. Mai vorgelegt wurde, ist mehr als jedes sechste Kind von Armut betroffen. Kinder in Ein-Eltern-Familien, in Familien mit ausländischer Herkunft und ausländischem Hintergrund oder aus Familien mit vielen Kindern sind besonders stark von Armut bedroht.

Die UNICEF-Studie wurde für das Bundesfamilienministerium erstellt. In Prozentzahlen ausgedrückt, sind 17,3 % der Kinder und Jugendlichen einem Armutsrisiko ausgesetzt. Kinder alleinerziehender Eltern sind zu 40 % von Armut betroffen. Das höchste Armutsrisiko liegt bei Kindern und Jugendlichen, wenn beide Eltern von Arbeitslosigkeit betroffen sind und Arbeitslosengeld II bzw. Hartz IV–Leistungen erhalten.

Auch das Bundesarbeitsministerium hat im Mai einen Entwurf vorgelegt. Dieser soll im Juni im Kabinett beschlossen werden. Die Zahlen sind manchmal vergleichbar, weichen aber in Einzelheiten voneinander ab. Nun kann man sich mit den Wissenschaftlern auseinandersetzen, was Armut oder Reichtum ist. Ich will das in diesem differenzierten Maß nicht tun, weil ich denke, dass die Ergebnisse wichtig sind, auf die wir schauen sollten. Allerdings halte ich es auch für wichtig zu schauen, auf welchen Zahlen diese Berichte basieren.

Ich möchte mit Erlaubnis des Präsidenten eine Grafik aus dem Bericht zur Kenntnis geben, den Bundesfamilienministerin von der Leyen in Auftrag gegeben hat und den man sich auf ihrer Homepage ansehen kann. In diesem Bericht wird auf die Ursachen der Armutsentwicklung und die Armutsgefährdungsquote hingewiesen. Man belegt diese Zahlen von 1998 bis zum Ende des Jahres 2006. Die drei Kurven beziehen sich auf die unterschiedlichen Arten, Armut zu definieren. Die einen Wissenschaftler gehen nur von 40 % des mittleren Einkommens aus – das ist die untere Quote –, die anderen von 50 %. Das ist die mittlere Quote, die noch relativ gering ist. Die obere Quote ist die höchste Messbarkeit, bei der man sagt, auch derjenige, der über 60 % des mittleren Einkommens verfügt, hat zumindest ein Armutsrisiko.

Es ist ganz interessant, wenn Sie sich das anschauen. Bis 1998/1999 bleiben die Quoten relativ gleich. Nach 1999 haben wir deutliche Anstiege zu verzeichnen.

Sie erlauben mir, dass ich darauf hinweise, dass die rotgrüne Regierung unter Schröder die Regierung übernahm. Wir haben einen deutlichen Anstieg bis 2005. Nach 2006 geht die Kurve wieder leicht nach unten. Ich denke, es macht sich bemerkbar, dass wir eine bessere Konjunktur hatten und wieder Vertrauen in die Wirtschaft und eine Bundesregierung unter Bundeskanzlerin Merkel zu verspüren war.

(Beifall der CDU)

Wir wollen nichts beschönigen. Auch wenn wir grundsätzlich feststellen können, dass wir ein ausgeprägtes Sozialsystem haben, das dazu beiträgt, dass hier niemand hungern oder unter der Brücke schlafen muss, kann die jetzige Lage keinen Politiker zufriedenstellen. Hauptursachen und Folgen festgestellter Armut und Armutsrisiken sind Arbeitslosigkeit, fehlende Teilhabe und Bildungschancen, schlechtere gesundheitliche Ver

sorgung, Ausgrenzung und fehlende gesellschaftliche Teilhabe, um nur die wichtigsten zu nennen. Sie alle sind in ihren Wirkungen für die Betroffenen schlimm.

Wir wollen deshalb, dass möglichst viele Menschen in unserem Land ohne Arbeitslosengeld II und Sozialgeld leben können. Deshalb hält die CDU an dem Ziel von Vollbeschäftigung fest.

Was die Arbeitsplatzversorgung in Rheinland-Pfalz angeht, hat Rheinland-Pfalz seine Hausaufgaben noch nicht hinreichend gemacht. Sie wissen, was kommt. Es geht nach wie vor um Zahlen von 2006. Bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen pro 1.000 Einwohner liegt Rheinland-Pfalz auf dem zweitletzten Platz der westdeutschen Bundesländer. Bei den aktuellen Zahlen zum Pro-Kopf-Einkommen belegt Rheinland-Pfalz den drittletzten Platz im Vergleich der westlichen Bundesländer. Hier liegen Schleswig-Holstein und Niedersachsen hinter uns. Auch das kleine Saarland kann über bessere Pro-Kopf-Einkommen verfügen.

(Glocke des Präsidenten)

Das Gleiche gilt für das Bruttoinlandsprodukt.

So weit zu diesen Fakten. Alles Weitere später in der zweiten Runde.

Danke schön.

(Beifall der CDU)

Das Wort hat Herr Kollege Schmitz.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! „Rheinland-pfälzische Arbeits-, Bildungs- und Sozialpolitik im Lichte der Berichte über Kinderarmut in Deutschland“ spricht nicht nur für die wohltuende kulturpolitische Wirkung des Kollegen Geis bei der SPD-Fraktion, sondern macht auch mit dem Plural „der Berichte“ deutlich, dass es nicht darum geht, uns auf einen der kontrovers diskutierten Berichte zu beziehen. Damit sind wir schon beim ersten Punkt.

Es gibt eine fast unübersehbare Fülle von Berichten, die das Armutsrisiko insbesondere von Kindern beschreibt, und zwar Berichte neuerdings des Arbeitsministeriums, des Familieministeriums, den Bericht der UNICEF und den Kinderschutzbericht.

Schon die Einstufungspraxis ist ganz unterschiedlich. Für die einen sind Kinder dann arm, wenn unter 60 % des Medians zur Verfügung stehen, nach offizieller Statistik also Armutsrisiko besteht. Für andere sind sie arm, wenn unter 50 % des Medianeinkommens vorhanden ist. Das sind erhebliche Unterschiede, gerade im Bereich unterer Einkommens- und Transfergruppen.

Meine Damen und Herren, das ist deshalb so wichtig, weil ich es zutiefst ablehne, diese Diskussion mit Pathos zu überhöhen, weil es der komplexen Problematik in keiner Weise gerecht wird.

(Beifall der FDP)

Wir müssen wissen, wovon wir sprechen, wenn wir Analysen und staatliche Lösungsvorschläge diskutieren.

Meine Damen und Herren, ich gebe Frau Kollegin Thelen recht, wir müssen auch wissen, dass sich seit 1998 – ich bitte das nicht im Sinne billiger Parteipolemik zu verstehen, natürlich ist die FDP seit 1998 auf Bundesebene nicht mehr dabei; das aber ist nicht der Grund, sondern das hängt im Wesentlichen davon ab, wie sich die Wirtschaft entwickelt hat –, obwohl die Sozialquote mit Haushaltsanteilen von damals 39 % auf 50 % des Bundeshaushalts gestiegen ist, die Kinderarmut in dieser Zeit verdoppelt hat. Das muss uns zu denken geben, gerade wenn wir nicht an statistische Zahlen denken, sondern an die Probleme, die mit Kinderarmut vergesellschaftet sind.

(Beifall der FDP)

Meine Damen und Herren, ich zitiere jetzt aus Wikipedia: „Kinderarmut geht oft mit schlechter Gesundheit und verzögerter emotionaler und kognitiver Entwicklung einher. Kinder, die in Armut aufwachsen, erbringen schlechtere schulische Leistungen als andere Kinder, besuchen in Ländern mit gegliedertem Schulsystem seltener höhere Schulformen, kommen im Erwachsenenalter weniger häufig an Hochschulen, werden häufiger schon im minderjährigen Alter Eltern, rauchen häufiger, benutzen öfter illegale Drogen und sind als Erwachsene häufiger arbeitslos.“

Meine Damen und Herren, da dreht es einem Liberalen nicht nur als Person, sondern in Vertretung unserer Partei, für den im Mittelpunkt seines politischen Weltbildes Chancen-, Bildungs- und Teilhabegerechtigkeit stehen, den Magen um.

(Beifall der FDP)

Es ist aber auch hier wichtig zu verstehen, das kann passieren, das muss nicht passieren. Ob es passiert oder nicht, hängt nicht von 5 Euro mehr oder weniger ab, sondern sehr viel stärker vom Geist, der in den Erziehungsgemeinschaften herrscht, meistens in Familien, aber auch außerhalb.

Meine Damen und Herren, der entscheidende Punkt ist, dass wir uns überlegen, wie wir diese Probleme jenseits staatlicher Transfers lösen können; denn dass staatliche Transfers nicht das Allheilmittel sind, darauf habe ich schon hingewiesen.

Wir müssen dann auf die Gruppen schauen, die den gleichen materiellen Problemen unterworfen sind und bei denen diese Probleme der Kinderarmut in ihren Auswirkungen dennoch nicht bestehen. Die Wissenschaft kennt zwei Phänomene, die es sich lohnt anzuschauen.

Dies sind einmal Kinder aus der Landwirtschaft und dann die berühmten vietnamesischen „Boatpeople“, die irgendwann zu Zehntausenden zu uns gekommen sind. Beide Gruppen gehören unter Anlegen statistischer Maßstäbe nicht zur Hoch-, sondern zur Höchstrisikogruppe. Dennoch hat es in beiden Gruppen diese Auswüchse an Vernachlässigung nicht gegeben, im Gegenteil, aus beiden soziologischen Gruppen entstehen Hochleistungen, Optimismus und Chancendenken, es entsteht kein Risikodenken.

Warum das so ist und wie wir damit umgehen sollten, dazu noch einige Sätze im zweiten Teil.

Danke schön.

(Beifall der FDP)

Das Wort hat Frau Staatsministerin Dreyer.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Herren, meine sehr verehrten Damen! Armut ist ein Teil der sozialen Wirklichkeit in Deutschland. Das hat jede Studie in der letzten Zeit bestätigt, unabhängig davon, auf welche man sich bezieht.

Ich möchte das Thema auch nicht einseitig politisieren, möchte aber trotzdem zu Frau Abgeordneter Thelen noch sagen: Erinnern Sie sich vielleicht noch daran, warum 1998 Herr Kohl, bezogen auf die hohe Arbeitslosigkeit und die sozialen Problematiken und Weiteres, abgewählt worden ist? Dass sich das vielleicht statistisch auswirkt, das kann sein, aber ich glaube nicht, dass dieser Punkt das Thema „Armut“ sinnvoll aufgreift.

Ich glaube, Armut ist ein sehr komplexes Thema, das ist hier entsprechend angesprochen worden. Es gibt viele Ursachen dafür.

Ich habe inzwischen ein leichtes Problem mit den vielen Statistiken. Man hat sich inzwischen darauf geeinigt, 60 % Verfügbarkeit des medianen Unterhalts, so wird heute Armut definiert. Das ist auch in Ordnung; denn wir haben jetzt endlich einmal einen europaweit geltenden Armutsbegriff. Man hat sich auch auf die Basis, die Datengrundlage geeinigt. Auch das ist in Ordnung.

Aber dennoch sage ich auch an dieser Stelle, wenn wir heute beispielsweise über die Erhöhung von Regelsätzen nachdenken – was sehr wichtig ist und im Herbst entschieden wird –, dann wird das an der Armut nichts verändern, sondern der Armutsbegriff wird sich wieder verschieben, sozusagen nach oben.

Das heißt, wir bekommen das Thema „Armut“ allein über statistische Erhebungen überhaupt nicht in den Griff. Deshalb muss man ganz zwingend – was die Landesregierung auch macht – immer auf die Lebenslage insgesamt schauen. Einkommensarmut ist dabei selbstver

ständlich ein wichtiges Indiz. Wenn Familien nicht ausreichend Geld haben, um ihre Kinder entsprechend zu fördern und zu unterstützen, dann haben diese ein ganz großes Problem, sie haben ein Armutsproblem.

Natürlich zeigt sich Armut in vielen anderen Situationen erst dann deutlich, wenn Einkommensarmut mit Ausgrenzung beispielsweise im Bereich der Bildung oder der gesellschaftlichen Teilhabe einhergeht. Von dieser Grundlage geht die Landesregierung in all ihrem Tun schon immer aus.

Eine zweite politische Anmerkung: Es ist schön, dass dieses Thema bundespolitisch inzwischen öffentlich und umfassend diskutiert wird. Es ist wichtig und richtig, weil es dadurch eine Chance gibt, dass sich auf allen Ebenen – Bund, Länder und Kommunen – bundesweit etwas tut. Umso peinlicher und bedauerlicher ist es, was ich seit Herbst 2007 im Bundesrat zusammen mit allen anderen Bundesländern erlebe.

Es besteht eigentlich eine große Einigkeit im Bundesrat, dass unabhängig davon, welches Ergebnis beim Existenzminimumbericht im Herbst herauskommen wird, es Handlungsbedarf gibt, zumindest an dieser Stelle, an der wir sagen, Schulkinder armer Eltern sollen zu Schuljahres- oder Halbjahresbeginn zusätzliche Mittel erhalten, um besondere Lernmittel wie beispielsweise Füller, Griffel oder Zirkel bezahlen zu können. Die Gesetzesinitiative ist im September 2007 von Rheinland-Pfalz gestartet worden.

Es gab dazu auch einen Antrag vonseiten der unionsgeführten Länder. Das möchte ich nicht unter den Tisch fallen lassen. Die SPD-geführten Länder haben sich hinter unserem Antrag versammelt, während die unionsgeführten Länder seit Monaten darüber streiten, was man eigentlich tun will. Der Ministerpräsident des Saarlandes, Peter Müller, hat mit einem eigenen Initiativantrag noch einmal eine schöne Geschichte im „FOCUS“ erhalten.

Ausgegangen ist diese Geschichte vergleichbar mit der Geschichte des Tigers und dem Bettvorleger. Man hat am Ende einen Entschließungsantrag verabschiedet. Für die Kinder in unserem Land hat sich nichts verändert in all diesen Monaten, obwohl wir genau wissen, was wir an dieser Stelle tun sollten.